
©Staatskanzlei und Ministerium für Kultur/Peter Gercke
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält im Kloster Magdeburg für den verstorbenen ehemaligen Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, eine Rede
Gedenken an Ministerpräsident a.D. Wolfgang Böhmer
23. September 2025, Magdeburg
Es gilt das gesprochene Wort.
Wir sind heute hier zusammengekommen, um eines Mannes zu gedenken, der unserem Land – seinem Land Sachsen-Anhalt und dem vereinten Deutschland – in herausragender Weise gedient hat.
Mit Wolfgang Böhmer verlieren wir eine leise Autorität von großer Verlässlichkeit: einen Protestantensohn mit der inneren Ruhe eines erfahrenen Arztes; einen Landesvater, der viele Brücken baute – zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Aufbruch, zwischen Verwaltungstüchtigkeit und politischer Empathie. Er tat, was getan werden musste – ohne Getöse, mit Augenmaß und einem langen Atem. In Räumen wie diesen, die von Maß und Erinnerung erzählen, spürt man, was sein Stil bedeutete: Ordnung vor Pathos, Dienst vor Selbstdarstellung.
Wer dem Lebensweg dieses 1936 in Dürrhennersdorf geborenen Bauernsohns folgte, erkannte schnell: Hier sprach und handelte einer, der sich früh an Verantwortung gewöhnte. Bevor die Politik ihn rief, war er Arzt – Gynäkologe, zunächst in Görlitz, danach Chefarzt in Wittenberg – und begleitete Tausende Geburten. Das entbehrungsreiche Nachkriegsdeutschland formte die Haltung, mit der er später regierte: nüchtern, sparsam mit großen Worten, großzügig im Pflichtbewusstsein.
Er war einer jener unkonventionellen Politiker, die die Friedliche Revolution hervorbrachte: Bis 1990 aus Überzeugung parteilos, im evangelischen Paul-Gerhardt-Stift fest verankert, hielt er Politik zunächst für etwas, das man am Rand erledigt. Freunde aus dem kirchlichen Milieu – darunter Reiner Haseloff – baten ihn 1990, zu kandidieren. Er sagte zu, gewann mit 54 Jahren ein Mandat – und kommentierte es später mit trockenem Witz: Man habe seine „Dummheit“ ausgenutzt; er habe nicht gewusst, was Abgeordnetensein bedeute. Das war die Lakonie eines Bürgers, den das Gemeinwesen rief – und der sich rufen ließ.
Schon 1991 wurde er Finanzminister, zwei Jahre später Arbeits- und Sozialminister, dann folgten Jahre in der Opposition – eine Geduldsprobe, die seinen ruhigen Kurs schärfte. Als Wittenberger Chefarzt war er vielen buchstäblich von der ersten Minute an verbunden. Das berühmte Wahlplakat von 2002 – der Professor im Kittel, über der Wiege, daneben: „Wir werden das Kind schon schaukeln“ – das war eine Auskunft über den Charakter von Wolfgang Böhmer. Manche spotteten, auch in der eigenen Partei – die Bürgerinnen und Bürger verstanden es als Zusage: Dieser Mann übernimmt Verantwortung. Die CDU wurde stärkste Kraft und der Landtag wählte Wolfgang Böhmer zum Ministerpräsidenten.
In dieser verantwortungsvollen Rolle blieb er Arzt im besten Sinne: erst schauen, dann handeln. Er hat es selbst so formuliert: „Erst kommt die Diagnose, dann die Therapie.“ Die Diagnose damals: ein Land mit roter Laterne, mit hoher Arbeitslosigkeit, Firmenpleiten, Abwanderung. Die Therapie: Konsolidierung der Finanzen, Förderung von Ansiedlungen, straffere Verwaltung, verlässliche Prozesse. Die neun Jahre unter Ministerpräsident Böhmer gaben Sachsen-Anhalt Stabilität und Wachstum. Nicht ohne Zuneigung nannten Freunde ihn den „Oberlausitzer Granitschädel“: verlässlich, beständig, schwer aus dem Tritt zu bringen – eine Tugend, die auch in stürmischen Zeiten Handlungsfähigkeit ermöglicht.
Zu seiner Handschrift gehörte auch, dass er den Bürgerinnen und Bürgern nicht das Leichte versprach, sondern Klartext zumutete. So war es in der Haushaltspolitik, als die Regierung (ab 2008/09) auf Konsolidierung setzte – ohne die soziale Balance aus dem Blick zu verlieren. Und so war es in jener Landes-Imagekampagne, die bundesweit Gesprächsstoff lieferte: „Wir stehen früher auf“ – eine ironieanfällige Formel, gewiss, aber im Kern der Versuch, einem Land Selbstachtung zuzusprechen. Dabei hielt er die Bürger nicht für Kinder, sondern für mündige Erwachsene. Darum durfte man von ihm auch Sätze hören, die nicht auf Applaus zielten – und gerade deshalb Vertrauen stifteten.
Auch föderale Verantwortung war Teil seines Selbstverständnisses. Als Präsident des Bundesrates (2002/03) trug er ostdeutsche Erfahrungen in die Mitte der Republik; 2010 half er, als Gastgeber der Ministerpräsidentenkonferenz, den Weg für den späteren Rundfunkbeitrag zu bereiten – eine der Mühen des Föderalismus, in denen man Konsens nicht verkündet, sondern erarbeitet.
Auch Irrtümer gehörten zu diesem Weg. 2008 verletzte eine pauschale Deutung von Kindstötungen in Ostdeutschland viele – und Wolfgang Böhmer hat sich im Landtag dafür entschuldigt. Dass er öffentlich um Verzeihung bat, gehört zur ganzen Wahrheit über diesen Mann: Er konnte den Fehler benennen – und blieb derselbe, der Verantwortung nicht scheute.
Wenn ich heute auf unsere gemeinsame ostdeutsche Prägung schaue, dann sehe ich bei Wolfgang Böhmer eine stille Verwandtschaft: die evangelische Schule der Gewissensbildung, die Nähe zu Diakonie und Gemeinde, der Respekt vor Menschen, die täglich ihren Dienst tun. Es ist kein Zufall, dass sein politischer Stil an ärztliches Handeln erinnerte – an das Erarbeiten der Diagnose, an den Start der Therapie, an das Bewusstsein, dass es um Menschen geht und nicht um Schlagzeilen. So führten ihn Ruhm und Rang nie aus der Mitte dessen, wofür er stand: Bewahren, Heilen und so dem Gemeinwesen dienen.
Unsere Wege kreuzten sich in der Werkstatt der Aufarbeitung. Ich durfte nach 1990 den Zugang zu den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes organisieren; später stand Wolfgang Böhmer der vom Bundestag eingesetzten Expertenkommission zur Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde vor. Sein Gremium empfahl – mit klarem Blick für Opferrechte und demokratische Erinnerung –, die Stasi-Unterlagen zwar in das Bundesarchiv zu integrieren, aber weiterhin den offenen Zugang für die Betroffenen zu sichern. Es ist ein stilles, aber großes Verdienst, dass er diese sensible Neuordnung mit Umsicht begleitet hat.
Viele Menschen haben ihn als „Landesvater“ bezeichnet, sie meinten damit die Verbindung aus nüchterner Fürsorge und Zuversicht, die dem Land in schwierigen Jahren gut tat. Sie haben ihm gerade deshalb vertraut – über Parteigrenzen hinweg. Er nahm kein Blatt vor den Mund, widersprach auch den eigenen Leuten und war bereit zu lernen – selbst von politischen Gegnern, wenn ihn dort etwas überzeugte. Diese Mischung aus Haltung und Lernbereitschaft machte ihn verlässlich. Dass er 2011 frühzeitig den Verzicht auf eine erneute Kandidatur ankündigte und geordnet an Reiner Haseloff übergab, passte zu ihm: Kontinuität vor Eitelkeit.
Und ich erinnere an seinen trockenen Humor. Auf die Frage, was auf seinem Grabstein stehen möge, antwortete er – ganz Böhmer –: „Er hat sich Mühe gegeben.“ Man kann darüber lächeln; man kann darin aber auch die Demut hören, mit der einer auf sein Leben schaut. Mühe geben – das ist in einer Demokratie keine Kleinigkeit. Es ist das tägliche Handwerk der Freiheit. In seinen späten Jahren zog er sich zurück; seine Erkrankung machte ihn stiller.
Wer Wolfgang Böhmers Stil versteht, erkennt darin die Antithese zum Populismus. Er suchte keine Sündenböcke, sondern pragmatische Lösungen; er versprach nicht das Bequeme, sondern erklärte das Notwendige. Böhmer wusste: Freiheit ist eine Zumutung – sie verlangt Selbstverantwortung, Wahrheitstreue und Respekt vor Institutionen und Minderheiten. Darum widersprechen wir überall dort, wo Menschen gegeneinander aufgebracht, die Geschichte relativiert, das Parlament verächtlich gemacht oder die Sprache vergiftet wird. Nicht Angst und Wut sollen uns leiten, sondern Maß, Anstand und die Bereitschaft, sich der Wirklichkeit zu stellen. Wenn wir Wolfgang Böhmer danken, dann auch so: indem wir der Versuchung des Lauten widerstehen, die Mühen des Rechtsstaats annehmen und den Streit in Freiheit zivil führen – fest in der Sache, fair im Ton.
Mit dieser Gedenkveranstaltung verabschieden wir uns von einem Knorrigen und Zugewandten, von einem Eigenwilligen ohne Selbstgerechtigkeit, von einem Protestanten der Tat. Wir danken Wolfgang Böhmer für die Ordnung, die er schuf; für die Klarheit, die er einforderte; für die Brücken, die er baute. Wir danken ihm als Arzt, der Menschen in die Welt begleitete; als Politiker, der einem Land Selbstachtung zurückgab; als Bürger, der der Freiheit diente.
Und uns bleibe – in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus – das Bewusstsein, dass Freiheit nicht einfach da ist, sondern bewahrt, gestaltet und verteidigt werden muß – von uns allen! Wolfgang Böhmer hat seinen Teil getan, in Verantwortung vor Gott und den Menschen, denen er diente
Dankbar und ermutigt nehmen wir Abschied von einem gesegneten Menschen.