Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Joachim Gauck steht am Rednerpult und hält die Gedenkrede zum 17. Juni 1953 in Chemnitz

©Stadt Chemnitz / Igor Pastierovic

Bundespräsident a.D. Gauck hält die Gedenkdrede in Chemnitz

Gedenkrede zum 17. Juni 1953 in Chemnitz

17. Juni 2023, Chemnitz

Es gilt das gesprochene Wort.

Ich freue mich heute bei Ihnen in Chemnitz zu sein und danke Ihnen, Herr Oberbürgermeister, für die Einladung. In vielen Städten und Gemeinden im Osten des Landes finden heute oder fanden in den letzten beiden Tagen Veranstaltungen statt, um an den Volksaufstand gegen die SED-Diktatur vor 70 Jahren zu erinnern.Überall in der DDR gingen Menschen auf die Straßen, die den Willen von Unterdrückten offenbarten, die – so eine Losung von damals – freie Menschen sein wollten. Die Erhebung wurde niedergewalzt von Panzern, die der Kreml geschickt hatte, um seine Macht in der ehemaligen DDR zu sichern. Gesichert werden sollte ein Panzer- und Geheimdienstsozialismus, eine Gesellschaft, die gekennzeichnet war durch die anhaltende Ohnmacht der vielen und eine beständige Übermacht der wenigen. Fast ein halbes Jahrhundert lang sollte die sowjetische Gewaltherrschaft in Mittelosteuropa das Demokratieprojekt ersticken.

Meine Damen und Herren,

es ist schon erstaunlich, dass wir für die Ereignisse rund um den 17. Juni 1953 den richtigen Stellenwert in unseren Geschichtsbüchern immer noch suchen,denn bei Licht betrachtet markieren sie doch den ersten großen Aufstand gegen die kommunistische Gewaltherrschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Vor 70 Jahren gingen in an 700 Orten in der damaligen DDR Hunderttausende auf die Straßen, um bessere Lebensbedingungen zu fordern, freie und geheime Wahlen und das Ende des SED-Regimes. „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille“ - war eine der vielen Losungen des Volksaufstands von 1953. Was hier so spöttisch und personenbezogen ausgedrückt wurde, war aber eine überaus ernste politische Willensbekundung.

Wenn wir uns zurückversetzen in die 1950er Jahre, dann sehen wir zwei deutsche Staaten, deren Teilung noch nicht endgültig zementiert ist. Die Mauer wird erst Jahre später gebaut. Der junge SED-Staat unter Walter Ulbricht verfolgt den Aufbau eine Gesellschaft nach stalinistischem Vorbild – ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Die Wirtschaftslage nimmt krisenhafte Züge an, besonders nachdem die SED auf der Zweiten Parteikonferenz 1952 den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus" beschließt und die Kollektivierung der Landwirtschaft beginnt. Die Partei bringt weite Teile der Gesellschaft gegen sich auf, die sich nicht mit Bevormundung, Enteignungen und politischen Inhaftierungen abfinden wollen. Während der Lebensstandard in der Bundesrepublik kontinuierlich ansteigt, stagniert er in der DDR. Die Versorgungslage mit Lebensmitteln wird prekär. Die Militarisierung des Landes und die sowjetischen Reparationsforderungen belasteten die Wirtschaft zusätzlich.

Seit dem Spätherbst 1952 kommt es wiederholt zu Streiks. Ein Massenexodus beginnt. Die Arbeiter und Bauern des Arbeiter- und Bauernstaates verlassen das Land ebenso gen Westen wie Handwerker, Rentner und Angestellte. 1952 sind es 182.000, 1953 schon 331.390 Menschen. Eine Herrschaftskrise der SED zeichnet sich ab.

Ich war damals noch ein Kind, erst dreizehn Jahre alt, als sich im Frühjahr 1953 die Krisenstimmung spürbar verschärft. Aber ich erinnere mich gut an den 5. März, als der sowjetische Diktator Josef Stalin starb und an die Monate danach. Die neue Moskauer Führung hatte die krisenhafte Lage in der DDR genau im Blick und verpflichtete die SED-Führung zu einem „Neuen Kurs“, der die Versorgungskrise durch Zugeständnisse an Handel und Gewerbe sowie die Bauernschaft beenden und eine gewisse Liberalisierung bedeuten sollte. Aber die Beschlüsse waren halbherzig und sie kamen zu spät. In der Bevölkerung deutete man sie als Schwäche der SED. Und die Normerhöhung für Arbeiter um zehn Prozent sollte weiterhin zu Walter Ulbrichts 60. Geburtstag am 30. Juni in Kraft treten – de facto drohte eine Lohnkürzung. Genau diese Entscheidung wurde zur Initialzündung für den Volksaufstand.

Hier in Chemnitz zeigte sich der kriselnde SED-Staat im Frühjahr 1953 noch von seiner pompösen Seite. Am 10. Mai feierte man die durch Ministerpräsident Grotewohl vorgenommene Umbenennung in Karl-Marx-Stadt. Wehende Fahnen und selbstüberzeugte Reden konnten aber nicht den Unmut der Arbeiter und Bauern mit ihrem Arbeiter- und Bauernstaat mindern. Schon wenige Wochen später am 1. Juni legte im Chemnitzer VEB NAGEMA ein Viertel der Belegschaft die Arbeit nieder. Immer mehr Betriebe schlossen sich dem Streik an und stellten stundenweise die Arbeit ein. Und schon bald ging es um viel mehr als Arbeitsnormen und die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Auf dem Postamt 4 hier in Chemnitz fing die Stasi bereits am 15. Juni einen Brief ab,in dem der Schreiber freie Wahlen unter internationaler Kontrolle forderte. Ich zitiere: „Wenn die freien Wahlen zustande kommen, dann haben wir ja die Einheit und den Frieden, und dabei fließt kein Tropfen Blut.“

36 Jahre Diktatur mussten wir noch erdulden, bis sich diese Prophezeiung erfüllte.

Sehr geehrte Damen und Herren,

durch die frühen Streiks und Protestaktionen war die SED-Bezirksleitung hier in Chemnitz wachsam geworden. Erste Verhaftungen fanden schon vor dem 17. Juni statt und am Tag des Volksaufstands blieb es relativ ruhig. Ich selbst verfolgte die Ereignisse am 17. Juni in Mecklenburg am Radio, hörte Westsender, wenn sie nicht gerade gestört waren, und ich war mir sicher: Es wird nicht weitergehen wie bisher. Jetzt beginnt eine neue Zeit! Diese Zuversicht beflügelte damals Millionen.

Zwischen dem Hochgefühl des Protests und tiefem Entsetzen lagen jedoch nur wenige Stunden. Die sowjetische Besatzungsmacht übernahm die Kontrolle bereits am Vormittag durch Panzer und anderes militärisches Gerät an Verkehrsknotenpunkten und in Hauptstraßen Ost-Berlins. Für 13 Uhr wurde die Verhängung des Ausnahmezustandes durch den sowjetischen Militärkommandanten verkündet. Demonstrationen, Versammlungen, Kundgebungen und sonstige Menschenansammlungen wurden verboten. Auch in Rostock konnte ich es auf großen Plakaten lesen: „Befehl Nr. 1“: Die öffentliche Gewalt war auf die sowjetische Besatzungsmacht übergegangen. Acht Jahre nach dem Ende des Krieges rollten nun erneut Panzer durch die Straßen, es wurde auf Menschen geschossen, und es gab schwerwiegende Verletzungen und Todesfälle. In 167 von 217 Landkreisen wurde das Kriegsrecht verhängt. Walter UIbricht, Otto Grotewohl und andere Spitzenfunktionäre der SED begaben sich unter den Schutz der Sowjetischen Kontrollkommission in Karlshorst. Mit Beginn der Ausgangssperre um 21 Uhr war der Aufstand in Berlin niedergeschlagen, aber an anderen Orten begann er erst.

So führte die Verhängung des Ausnahmezustands etwa in den sächsischen Städten Freiberg, Crimmitschau, Tannenberg, Penig und Werdau erst zu Arbeitsniederlegungen. So auch im VEB Wälzlagerwerk Fraureuth, in dem es nach der Verkündigung des Ausnahmezustands durch den Parteisekretär zu heftigen Diskussionen und am Ende zu einer Arbeitsniederlegung der Nacht- und Frühschicht kam. Gemeinsam wollte man die aufgestellten Forderungen zur Normenfrage, zu freien Wahlen und politischen Veränderung der Stadtkommandantur vortragen und ließ sich auch nicht durch die zwischenzeitlich aufgezogenen sowjetischen Soldaten und Volkspolizisten an der Werkstoren aufhalten.

Der 17. Juni war der Höhepunkt des Ausdrucks des Freiheitswillens der DDR-Bevölkerung. Aber in vielen Städten und Dörfern kam es schon in den Tagen und Wochen davor zu Widerstandsaktionen. Und an vielen Orten, wie hier in Sachsen und ganz Mitteldeutschland, dauerte der Massenprotest auch am 18. Juni und sogar noch an den folgenden Tagen an. Mindestens 55 Menschen wurden von den DDR-Sicherheitsorganen oder sowjetischen Soldaten getötet oder von der DDR-Justiz zum Tode verurteilt. Mehr als 15.000 Menschen wurden vom SED-Regime inhaftiert, Tausende Unschuldige von DDR-Gerichten oder sowjetischen Militärtribunalen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Oberbürgermeister Sven Schulze (Bildmitte) und Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch mit einem Zeitzeugen (links) im Kaßberggefängis.

©Stadt Chemnitz / Igor Pastierovic

Bundespräsident a.D. Gauck besichtigt gemeinsam mit Oberbürgermeister Sven Schulze (Bildmitte) den Lern- und Gedenkort Kaßberggefängis

Sehr geehrte Damen und Herren,

allen Opfern der sowjetischen Besatzungsmacht und ihrer SED-Handlanger wollen wir heute gedenken: Ihren Mut und ihren Freiheitswillen werden wir nicht vergessen, sondern zum Ansporn nehmen, die Freiheit und unsere Demokratie mit Leidenschaft zu verteidigen.

Damals in der DDR wollten die Herrschenden den 17. Juni nur zu gerne dem Vergessen preisgeben oder propagandistisch umdeuten. Eine ehrliche Aufarbeitung des Volksaufstands unterblieb, denn die SED-Führung konnte sich nicht eingestehen, dass das Volk den Staatssozialismus ablehnt und sich gegen ihn erhoben hatte. Stattdessen wurde die Legende eines „faschistischen Putschversuchs“ verbreitet. Doch der Aufstand brauchte keine Verschwörer oder konspirative Kräfte aus dem Westen. Er entsprang vielmehr der millionenfach empfundenen Wut über Unrecht und unhaltbare Zustände – Arbeiter im Blaumann folgten ihm genauso wie Studenten, Landwirte und Hausfrauen. Die Belegschaften der großen Werke in Bitterfeld und Halle waren genauso dabei wie die Einwohner von Görlitz, die das Haus der SED-Kreisleitung und zwei Gefängnisse stürmten.

Der 17. Juni war nicht weniger als ein Volksaufstand für Freiheit, Demokratie und Recht.

Hätte die sowjetischen Armee in der DDR bereits am 17. Juni 1953 auf bewaffnete Gewalt gegen das Volk verzichtet, so wäre die Diktatur der SED damals sehr schnell zusammengebrochen.

Und wäre es nur nach den Menschen gegangen, hätten wir schon 1954 die deutsche Wiedervereinigung gesehen. Das sich erhebende Volk sorgte bei der SED-Diktatur für ein Trauma, das bis zur Friedlichen Revolution von 1989 anhielt: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“, fragte Erich Mielke auf einer Stasi-Dienstbesprechung am 31. August 1989 in Ost-Berlin. Nach den Niederlagen des Aufstands in Ungarn 1956, der Arbeiterunruhen in Polen 1956, dem Bau der Berliner Mauer, der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, dem Kriegsrecht in Polen und der Repression der Solidarność-Bewegung 1980 hatte sich speziell in der DDR eine Stillhaltementalität in der Bevölkerung etabliert.

Der Heldenmut der Aufständischen war weitgehend vergessen und durch die erwähnte Kette von Niederlagen galt den meisten Widerstand als zwecklos. Das änderte sich erst 1989, als sich die Menschen endlich Freiheit und Selbstbestimmung zurückeroberten – in Ostdeutschland, in Mittelosteuropa und im Baltikum. Die Macht des Kreml hatte sich zum Glück als endlich erwiesen. Und so können wir den 17. Juni 1953 mit Abstand auch als Start eines Entwicklungsprozesses der mitteleuropäischen Völker hin zu Freiheit, Demokratie und Recht interpretieren und mit einer Mischung aus Verwunderung und Stolz daran erinnern, dass Deutsche am Beginn dieser Entwicklung standen.

Meine Damen und Herren,

erlauben Sie mir an diesem Tag des Gedenkens diesen kleinen Exkurs zur Rolle der Sowjetunion in der jüngeren Geschichte unseres Landes. Wir wollen nicht vergessen, dass die Sowjetunion großen Anteil an der Befreiung Deutschlands vom Hitler-Regime hatte und dass es ohne Gorbatschows Zustimmung 1989/90 keine deutsche Wiedervereinigung gegeben hätte. Wir sind Gorbatschow und der Sowjetunion dafür dankbar, dass sie mit dem Abzug ihrer Truppen Ostdeutschland wieder zu einem Teil eines Deutschlands in Freiheit und Einheit werden ließen. Zudem haben Deutsche mit den Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg eine tiefe Schuld auf sich geladen, aus der eine besondere Verantwortung für ein friedliches Miteinander in Europa erwächst.

Allerdings dürfen Dankbarkeit und Schuldgefühle nicht dazu führen, die Augen vor der dunklen Seite der Realität zu verschließen. Zu dieser Realität gehört, dass die Sowjetunion, nachdem sie Mitteleuropa und den Osten Deutschlands von der Wehrmacht befreit hatte, ihrerseits zur Unterdrückung dieser Länder überging – so auch am 17. Juni 1953. Deswegen trifft die Kennzeichnung „Befreiung“ zwar auf Westdeutschland zu, das nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich ein Leben in Freiheit aufbauen könnte. Doch in Ostdeutschland erwies sich der „Befreier“ als der neue verbrecherische Diktator. Während die westlichen Verbündeten aus der Anti-Hitler-Koalition das deutsche Demokratieprojekt förderten, erschuf Stalin mit seinem Panzer- und Geheimdienstsozialismus eine neue Diktatur.

Zeugnis dieser dunklen Geschichte ist das Kaßberggefängnis, nur wenige Meter von diesem Ort hier entfernt, das sowohl zur Zeit des Nationalsozialismus als auch während der DDR-Diktatur ein Ort der Unterdrückung, der Verfolgung und der Einschüchterung aus ideologischen, rassistischen und antisemitischen Gründen war. Sie selbst haben diesen Ort als „Tor zur Hölle“ beschrieben, der sich ab 1963 für die zehntausenden politischen Häftlinge der DDR zum „Tor zur Freiheit“ wandelte, die von der Bundesrepublik freigekauft und von hier in den Westen abgeschoben wurden.

Inzwischen zeigt sich Russland als ein Erbe der Sowjetdiktatur, als eine revisionistische, auf Expansion ausgerichtete Macht. Putin weiter mildernde Umstände zuzubilligen und ihm einen Dank für die großmütige Reaktion eines Gorbatschow zukommen zu lassen, hieße, den Aggressor für die Verdienste seines friedfertigen Vorgängers zu beschenken. Unsere heutige Veranstaltung erinnert uns an die Arroganz und Aggressivität einer Diktatur von einst – aber wir vergessen darüber nicht, dass wir Zeugen gegenwärtiger Arroganz und Brutalität sind, mit denen ein neuer Moskauer Imperialismus Menschen um Recht und Freiheit bringen will!

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn ich mir heute eines wünschen darf, dann dass Gedenkveranstaltungen wie diese nicht als Pflicht, sondern als Impuls zum Lernen über die Vergangenheit und als Orientierung in der Gegenwart verstanden werden. Auch wenn der Volksaufstand 1953 brutal niedergeschlagen wurde, so macht er doch die Hoffnung, dass man mit Entschlossenheit die Gesellschaft verändern kann, ebenso deutlich wie die Sehnsucht nach Freiheit, die Menschen auf der ganzen Welt über Grenzen hinweg verbindet. Wir wollen deshalb, wenn wir heute den 70. Jahrestag begehen, auch den 17. Juni als Symbol der Freiheitstradition aus der „Erinnerungsreserve“ herausholen. Bis 1990 war der 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“ ein Staatsfeiertag in Erinnerung an die mutigen Menschen, die sich gegen Staat und SED gestellt hatten. Für die Politik, aber auch für die Zivilgesellschaft insgesamt, wäre es ein ebenso wichtiges wie überfälliges Zeichen, diesem Tag und den Menschen, die es wagten für die Freiheit auf die Straße zu gehen und zu kämpfen, mehr Aufmerksamkeit zu widmen und ihn fester im kollektiven Gedächtnis zu verankern.

Es gilt, auch heute überall auf der Welt denen beizustehen, die sich, – obwohl diskriminiert und ausgegrenzt – mutig für Freiheit, Demokratie und Recht einsetzen. Mögen diese Verteidiger von Freiheits- und Menschenrechten auch zeitweilig unterliegen – so wie wir einst –, so sind wir ihnen, mit denen wir unsere Werte teilen, Beistand schuldig. Wir wollen ihnen eine Stimme geben, wenn sie am Reden gehindert werden, und wir wollen ihnen Gehör verschaffen, wenn sie Öffentlichkeit suchen – ob in Russland, in Belarus oder im Iran. Aus unserer Erinnerung erwächst also auch eine Verpflichtung für heute. Und wir sagen es ganz einfach: Aus unserer Erinnerung an einst erwächst Solidarität jetzt!