Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Gedenkfeier Werner Schulz

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck - ARCHIVBILD

©Agentur Hübner

Traueransprache zu Ehren von Werner Schulz

09. Dezember 2022

Änderungen vorbehalten.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Heute vor einem Monat wurde Werner Schulz plötzlich aus dem Leben gerissen. Ausgerechnet am 9. November endete sein Leben, das er für Demokratie und Freiheit gelebt hatte. Wir alle wissen es, viele haben es schon ausgesprochen: der 9. November hat viel mit seinem Leben, seinen Werten und seinen politischen Kämpfen zu tun.

Als ich von der Todesnachricht erfuhr, war ich zunächst fassungslos und bestürzt und es stelle sich eine Traurigkeit ein, darüber, dass eine Stimme verstummt ist, die in diesen gegenwärtig so schwierigen Zeiten fehlt. Erst im Juni sind wir uns begegnet, als ihm der Deutsche Nationalpreis für seinen jahrzehntelangen Einsatz für Demokratie und für die Opposition in Russland verliehen wurde. Und ich hoffte, ihm noch viele Male zu begegnen, diesem mutigen, herzlichen und aufrichtigen Menschen, mit seinem bestechend analytischen Verstand. Ein Mensch der Geradlinigkeit, und einer jener Menschen, der sich durch Mut auszeichnete. Ohne das Vorbild der ermächtigten Einzelnen hätte es die ermächtigten Vielen nicht gegeben, deren Kraft dann die Mauern zum Einsturz bringen. Deshalb dürfen wir zu recht sagen: Seinem mutigen Handeln verdanken wir den Fall der Mauer.

Wenn wir uns heute also an Werner Schulz erinnern und ihn ehren, sollten wir daher über Mut sprechen. Gerade in Zeiten, da auf der politischen Handlungsebene ebenso wie im allgemeinen Leben Mut ein oft entbehrtes Gut ist, soll diese Werner Schulz prägende Haltung im Mittelpunkt stehen. Manchmal erscheint es, als sei es einem Menschen von der Natur mitgegeben, ob er furchtlos ist oder furchtloser als andere, ob er mehr wagt, auch wenn ihm Nachteile dadurch entstehen können. Wenn ich aber das Leben anschaue, das Werner Schulz geprägt hat, sehe ich etwas schwer Errungenes. Auch etwas Besonderes, nicht Übliches, etwas das in jenen wächst, die gegen den Strom geschwommen sind.

Wie aber entsteht dieses „Gegen den Strom“? In seinem Fall nicht ohne die Schmerzen der frühen Jahre, zu wissen: „Ich lebe in einem Land ohne Freiheit.“ Seit er elf Jahre alt ist, ist das Land durch den Bau der Mauer zudem ein Areal der Unfreiheit, der Unentrinnbarkeit. Dadurch wird das, was in Diktaturen ohnehin Verhaltensnorm ist – die Anpassung – noch einmal verschärft. So entsteht ein Angst-Anpassungssyndrom, das sich stützt auf eine systembedingte Ratio. Jeder kann erkennen, was die Herrschenden der Bevölkerung vermitteln: Sei der Unsere und für dich ist gesorgt. Zwar können die Einzelnen noch entscheiden, wie weit sie sich anpassen. Aber generell existiert eine ganz eigene Normalität, die Kultur einer Mindestloyalität. Jugendliches Aufbegehren, Eigenständigkeit des Individuums, künstlerische Freiheit, Meinungsfreiheit – all das gilt in einer solchen Kultur als nicht „normal“.

Werner Schulz erlebte das alles und muss früh die Grenzen seines Widerspruchs austesten. Wir aus dem Osten wissen es alle: Manchmal ging es mit List, manchmal mit Opportunismus, manchmal allerdings nur mit Grundsatzentscheidungen. "Entweder", sagte er einmal, "man spürt den Schmerz im Rückgrat und will ihn nie wieder spüren. Oder man verdrängt ihn und lebt von nun an in dauerhaftem Opportunismus."

Es war das, was Vaclav Havel ähnlich für sich reklamierte, nämlich den Vorsatz, „in der Wahrheit zu leben“. Für Werner Schulz begann im Studium der Weg in die Opposition. Karriere und Aufstieg waren ihm weniger wichtig als Selbstachtung und Freiheitsliebe. Dies führte ihn dann in die Sphäre der Widerständigen, die zum größten Teil in kirchlichen Gruppen organisiert waren. Als „Basislager der Friedlichen Revolution“ beschreibt Werner Schulz rückblickend die Rolle der evangelischen Kirche. Im Pankower Friedenskreis traf er auf Menschen, die nicht einfach ohnmächtig dahinlebten, sondern Alternativen zur Unterwerfung entwickelten. Im Jahr 1989 sehen wir Werner Schulz politisch aktiv im öffentlichen Protest gegen die gefälschten Kommunalwahlen und als Gründungsmitglied des Neuen Forum. Und als aus dem ersten Aufstehen im Herbst 1989 eine friedliche Revolution geworden war, saß er als Vertreter des Neuen Forum am zentralen Runden Tisch in Berlin. 1990 nach den ersten freien Wahlen in der DDR, ist Werner Schulz Mitglied der Fraktion Bündnis90/Grüne. Dort lernte ich ihn kennen. Er gehörte zu denen, die sich mit Klarsicht und Mut einerseits gegen die Nostalgiker im postkommunistischen Milieu und andererseits gegen unrealistische politische Träumer wendeten. Sein Selbstbewusstsein wie seine revolutionären Erfahrungen halfen ihm auch nach der  Wiedervereinigung im Deutschen Bundestag, dem Typus des „Besserwessi“, den es durchaus auch in höheren Politikersphären gab, zu widerstehen. Es ist die Zeit, in der er als scharfzüngiger Redner bekannt und bei einigen auch gefürchtet ist. Seine Meinungsstärke und sein Temperament, manchmal vielleicht sogar sein Übermut, hinderten ihn allerdings nie an der Sacharbeit. Früh hatte er gelernt, dass Niederlagen und Kränkungen (ich denke hier an sein vergebliches Eintreten für den Einigungsprozess 1990 nach Art. 146 GG) verarbeitet werden müssen. So lernt er mit Anderen oder anders als andere Frustrationen positiv zu beantworten und Kompromisse, wo sie verantwortbar erscheinen, zu akzeptieren.

In der DDR erlebte er, was es bedeutete, mutig zu agieren und was Konsequenzen von Mut sein konnten. In der Rede- und Meinungsfreiheit, die jetzt herrschte und die er miterstritt, brauchte er, wie er selbst sagte, diesen Mut nicht mehr. Jetzt hieß es im Kampf um Werte und Einfluss den inneren Kompass zu behalten. Unbedingt gewürdigt werden muss in diesem Zusammenhang seine politische Leidenschaft. Wir erkennen sie besonders dann, wenn er Gefahren für Freiheit und Demokratie benennt, wie eben 2005 in der Vertrauensfrage. Er sieht ja die Freiheit nicht nur von außen bedroht, sondern weiß, es gibt Gefahren für die Freiheit aus der Freiheit heraus. Da schont er weder politische Wettbewerber noch Parteifreunde noch Koalitionäre. Schulz war einfach zu „gerade“, zu gewissenhaft. Menschen wie Werner Schulz mochten solche Entscheidungen nicht, die bei den Wählern den Eindruck erwecken können, die Politik spiele mit gezinkten Karten. Da hatte einer früh gelernt, dass es lebbar und auch wahrhaftiger ist, eigenen Werten zu folgen, anstatt eigenes Reden und Tun den Karrierewünschen oder taktischen Spielen unterzuordnen.

Seine Position im Europaparlament führt mich zu dem Thema, das in diesen Zeiten beständig im Gespräch ist: Russland unter Putin. Es lohnt sich, den Blick, die Perspektive wahrzunehmen, mit der Werner Schulz auf Putin und das System Putin seit je schaut. In einer Mischung aus Realitätssinn, Erfahrung und Analysefähigkeit vermochte er Putin und sein System früh als autokratisches, rechtsfernes, aggressives Konstrukt zu beschreiben. Seit Putins Amtsantritt hat Werner Schulz vor dessen Skrupellosigkeit und Nationalismus, vor dessen Großmachtambitionen und Manipulationen gegenüber dem Westen gewarnt.

Wer Kommunismus gelebt und studiert hat, dem fällt es meist leichter, das Fortwirken des sowjetkommunistischen Erbes unter der neuen neoimperialistischen Firmierung zu erkennen. Wir sehen es in der Haltung von Polen, Tschechen oder in den baltischen Staaten. Sie kennen von innen heraus diese leninistische Absolutsetzung der einmal errungenen Macht, die Verachtung der Herrschaft des Rechts, die Nichtgewährung von Bürger- und Menschenrechten, das Auslöschen der Meinungsfreiheit, die Gleichschaltung der Medien, die Verfolgung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und zudem das Wirken geheimdienstlicher Angstapparate – ein wahrlich schreckliches Ensemble von Werkzeugen zur Aufrechterhaltung von Ohnmacht der Vielen und der Übermacht der Wenigen. All das, was wir in den letzten Jahren in Russland beobachten konnten.

Und nach außen das Festhalten an imperialen Ambitionen, verschleiert unter der Ideologie einer russischen Mission, das Festhalten an Gebietsansprüchen auf alte russische Groß- und Kolonialreiche, ehemalige Sowjetrepubliken und abhängige Vasallenstaaten. Aktuell am gewalttätigsten kommt dieser imperiale Anspruch in der Invasion in die Ukraine zum Ausdruck, im Versuch zur Inkorporation eines Territoriums und einer Tradition, um einen eigenständigen ukrainischen Staat und eine eigene ukrainische Identität auszulöschen.

All das sah Werner Schulz ganz klar und in jeder Lebenssituation. Das unterschied ihn von maßgeblichen politischen Akteuren, deren Russland- und Putinbild von Wunschdenken geprägt war.

Wenn wir heute Werner Schulz gedenken, dann ehren wir neben seinem Mut auch sein analytisches Vermögen. Seine Positionen im deutsch-russischen Verhältnis zeigen es besonders deutlich. Er erkannte sehr früh, was sich jetzt – immer noch langsam, immer noch zögerlich - in der Bevölkerung als Erkenntnis durchsetzt: Wir dürfen früher, entschiedener und aktiver verteidigen, was unsere Freiheit, unsere Demokratie ausmacht.

So blicken wir mit Dankbarkeit  auf das Leben von Werner Schulz: Auf seine Entschlossenheit, seine Klarheit, seinen Mut. Und, wenn wir an Werner Schulz denken, sehen wir etwas, das für unsere eigene Persönlichkeitsentwicklung von großer Bedeutung ist: Sind wir mutig, ermächtigen wir uns zum Handeln, dann können wir uns mögen, auch achten. Unser Selbst gewinnt Form und Format, und im selben Moment verlieren unsere so menschlichen Ängste an Bedeutung. Und hinzu kommt die Wahrnehmung: Wer sich seiner selbst sicher ist, dem fällt der Mut leichter.

Voller Dankbarkeit schauen wir das Leben unseres Freundes an – es ist gekennzeichnet von der Würde und Schönheit einer Bürgerexistenz, auch von dem Glück, dass jene erfahren, die Freiheit als Verantwortung leben.

Manchmal – so hat es Werner Schulz selbst einmal gesagt – wirke er wie ein „Überzeugungstäter“. Aber dieser „Täter“ mochte die Menschen, er verteidigte ihre Freiheit und ihre Selbstverwirklichung. Und er liebte und suchte die Wahrheit und fürchtete die Debatte um die Wahrheiten nicht. Er redete daher offen, oft kämpferisch, wo andere schwiegen, beschönigten, relativierten, vielleicht sogar gelogen haben. Sein Leben lehrte ihn, dass unsere Ängste nicht das letzte Wort haben dürfen, wenn wir tun, was wir tun müssen. Und bis zu allerletzt redete er – spitz oder geduldig – weiter mit uns, gerade in Zeiten wie diesen, in denen so viel unsicher geworden ist und in denen neue Orientierungen erworben werden mussten und müssen. Dieser Anreger, Mitbürger und Freund hat nun uns, den Lebenden, seine Anliegen hinterlassen. Viele von uns, auch ich, werden das als Auftrag verstehen, werden ernstnehmen, was er ernstgenommen hat, Wahrhaftigkeit auch auf der Ebene des Politischen anstreben und unverdrossen daran glauben und daran mitwirken, dass unsere Demokratie am Werden bleibt.