Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Gedenktag Betroffene terroristische Gewalt

Menü Suche

©Henning Schacht / Bundesregierung

Rede beim Gedenktag der Bundesregierung für die Opfer terroristischer Gewalt

11. März 2023, Berlin

Änderungen vorbehalten.

Es gilt das gesprochene Wort.

Wenn wir einen Gedenktag wie diesen begehen, fordern wir uns selbst auf, das Alltagsgetriebe hinter uns zu lassen, uns ein Innehalten zuzumuten und wahrzunehmen, was wir oft allzu schnell wieder vergessen oder verdrängen. Wir stellen uns an die Seite derer, die ihre Liebsten, die Verwandte, Freunde, Gefährten verloren haben.

Entsetzen, Trauer, Verzweiflung und auch Wut empfinden wir, wenn wir uns heute erneut vor Augen führen, welches Leid terroristische Gewalt im In- und Ausland angerichtet hat. Etwa am Abend des 19. Februar 2020, als der Terror nach Hanau kam. Vili-Viorel Păun wurde Zeuge der ersten Schüsse eines rechtsextremen Terroristen. Und er fasste einen Entschluss: Er wollte dem sinnlosen  Töten ein Ende setzen und versuchte, den Täter mit seinem Auto zu blockieren. Als dies nicht gelang, verfolgte er den Täter und wählte dabei vergeblich den Notruf. Auf dem Parkplatz vor der Arena-Bar wurde er erschossen. Vili-Viorel Păun wurde 22 Jahre alt. Die, die ihn kannten, allen voran seine Familie und seine Freunde, schätzten ihn für seine Hilfsbereitschaft, seinen Fleiß und seine Verantwortungsbereitschaft. Und wir alle können ihn schätzen für seinen Mut, seine Zivilcourage und seinen Willen zu verteidigen, was ihm am Herzen lag.

Es ist eine Geschichte von so vielen, die ich nun erzählen müsste, um dem Leid gerecht zu werden, das Terroristen an so vielen Orten in Europa in den letzten Jahrzehnten angerichtet haben. Es ist dabei nicht wichtig, wie lange  das Schreckensereignis zurück liegt. Die Trauer, das Entsetzen und die Verzweiflung, die wir empfinden, die uns mitfühlen lassen, an dem, was Sie als Betroffene haben erfahren müssen, nehmen nicht ab. Wir trauern um die Verstorbenen. Wir lassen diejenigen nicht allein, die selbst an Seele oder Körper verletzt wurden oder den Verlust eines Angehörigen oder einer Freundin zu beklagen haben. Dies ist ein Versprechen, dass Ihnen der Staat gegeben hat und mit diesem Gedenktag bekräftigt. Dafür bin ich der Bundesregierung dankbar.

Terroristische Anschläge zielen und treffen mitten hinein in unseren Alltag. Sie erschüttern uns, weil von einem Moment auf den anderen nichts mehr so ist wie zuvor. Er trifft unschuldige, ahnungslose Frauen und Männer, jung und alt. Er trifft Mitmenschen auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkaufen oder einem geselligen Abend im Freundeskreis. Er schlägt in der Großstadt genauso zu wie in der Kleinstadt oder auf dem Land. Willkür und Brutalität sind wohl kalkuliert, von den Tätern, die andere Menschen töten, um eine ganze Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzten. Deshalb wissen wir – und wir erinnern heute daran – terroristische Anschläge gelten uns allen – völlig unabhängig davon, ob der Täter aus rechten, linken oder religiösen Motiven handelt. Es sind immer Angriffe auf unsere ganze Gesellschaft und auf die Art, wie wir zusammen leben wollen: In Freiheit und in einer friedlichen, solidarischen Demokratie.

Terroristische Anschläge lassen uns erschüttern, aber sie bestärken unsere Überzeugungen. Wir stehen auf festem Grund und wir stehen zusammen, in Deutschland, in Europa und überall dort, wo Menschen in Freiheit leben und leben wollen. Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen. Und unser Zusammenhalt wird nicht schwächer, er wird stärker, wenn wir angegriffen werden.

Und so stellen sich neben die Trauer, das Entsetzen und die Verzweiflung über die terroristischen Anschläge auch der Wille und die Entschlossenheit, dass zu verteidigen, was wir schätzen, wie wir leben. Wir wählen den Mut und nicht die Angst – so wie Vili-Viorel Păun den Mut und nicht die Angst gewählt hat.

Unsere Demokratie soll liberal und wehrhaft sein. Wehrhaft gegenüber dem fanatischen Terror aus dem Inneren und wehrhaft gegenüber allen Bedrohungen von Außen. Dazu gehört erstens ein Staat, der die sowohl die Freiheit als auch das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger in der offenen Gesellschaft so gut wie möglich zu schützen vermag. Wir wissen, dass beides in seiner Absolutheit nicht möglich ist und nicht selten sogar einer komplizierten Abwägung bedarf. Denn auch in demokratischen Staaten gibt es immer wieder Situationen, in denen die Sicherheit einer Gesellschaft so bedroht ist, dass ein Eingreifen des Staates erforderlich ist. Dann kann es legitim sein, die Freiheitsrechte eines Individuums partiell einzuschränken, um etwa sein mit diesem Recht konkurrierendes Grundrecht „auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ zu schützen. Umgekehrt gilt aber auch, dass eine unverhältnismäßige Einschränkung der Freiheitsrechte zugunsten einer stärkeren Sicherheit dem Wesen unserer liberalen Demokratie widersprechen würde. Daher gilt es immer wieder neu auszutarieren und wo nötig dort nachzujustieren, wo das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit aus dem Gleichgewicht geraten ist. Und ja, es wurden in der Vergangenheit teils folgenschwere Fehler sowohl in der Verhütung als auch in der Verfolgung terroristischer Anschläge gemacht. Fatale Fehler, aus denen gelernt wurde und weiter gelernt wird. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass sich der Rechtsstaat als handlungsfähig erweisen wird gegenüber allen, die unsere liberale  Demokratie mit Gewalt bedrohen. Mit einer konsequenten Justiz und handlungsfähigen Strafverfolgungsbehörden.

Eine liberale und wehrhafte Demokratie ist zweitens auf eine Gesellschaft angewiesen, die widerstandsfähig ist, gegenüber denen, die Hass säen und das zersetzende Gift von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder Antisemitismus verbreiten. Wer sich an Debatten nur beteiligt, um andere herabzuwürdigen, zu diffamieren oder auszugrenzen, dem muss unmissverständlich widersprochen werden und der muss, wenn nötig, selbst aus der Debatte ausgeschlossen werden. Der Schutz der digitalen und analogen Debattenräume ist eine Herausforderung, der wir nur gemeinsam und in Wahrnehmung unserer individuellen Verantwortung als mündiger Teil dieser Gesellschaft gewachsen sind. Es sind nicht nur der Staat oder etwa die Betreiber digitaler Plattformen, die beitragen können zum Erhalt der liberalen und demokratischen Grundverfasstheit unserer Gesellschaft, die wir uns in den langen Jahren angeeignet haben. Dazu gehören auch gesellschaftliche Toleranz, Respekt, die Fähigkeit zum Kompromiss und die Achtung der Rechte von Minderheiten.

 

©Henning Schacht / Bundesregierung

Als liberale und wehrhafte Demokratie sind wir auf eine solidarische, eine integrierende Gesellschaft angewiesen, zu der wesensmäßig auch der Pluralismus gehört. Unsere moderne westliche Gesellschaft ist selbstverständlich heterogen, nicht homogen. In ihr existieren verschiedene, teilweise miteinander konkurrierende Gruppen, angefangen von Gewerkschaften, Vereinen und Parteien bis zu Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen, sowie ethnischen, sexuellen, religiösen Interessengruppen. Zum Pluralismus gehört auch der kontrovers geführte Diskurs und natürlich der gelegentliche Streit zwischen den Verschiedenen. Es steht heute außer Frage: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Und natürlich gehören wir alle gemeinsam, und ganz unabhängig davon, welcher ethnischen oder kulturellen Gruppe wir uns zurechnen, mit an den Tisch, wenn es darum geht, über unsere Zukunft zu entscheiden und darüber mitzubestimmen, wie unser Land aussehen soll. Ich bin jedoch davon überzeugt: Neben allen Unterschieden brauchen wir für die Gestaltung der Demokratie in diesen Zeiten noch mehr das Gemeinsame, das Verbindende: Die Verbindung von Partikularinteressen  und Gemeinschaft und einen allgemein akzeptierten Wertekodex, der in politischen Kontroversen als Richtschnur gilt. Nur so kann in der pluralisierten Welt von heute der Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt bleiben. Nur so kann das entstehen, was ich die Einheit in Vielfalt nenne.

Diese Einheit in Vielfalt wollen wir in einer liberalen und wehrhaften Demokratie leben mit einem Staat, der seine Bürgerinnen und Bürgern den bestmöglichen Schutz gewährt und in einer Gesellschaft, die alle integriert, die sich zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und der sich derer erwehrt, die sich mit Hass und Gewalt gegen unsere Werte, gegen unsere Art zu Leben wenden.

Dieser Tag, diese Zusammenkunft heute, schafft einen gemeinsamen Raum, sie gibt uns Zeit für das gemeinsame Gedenken an die Verstorbenen und die von Terror Betroffenen in unserer Mitte, für Trauer, auch für Verzweiflung und Unverständnis angesichts der schrecklichen menschlichen Verluste und Traumata, der unumkehrbaren Einschnitte in unseren Alltag, der Verletzungen an Leib und Seele. Dieser Tag, diese gemeinsame Gedenkstunde gibt uns in ihrer Ambivalenz jedoch auch Zuversicht. Sie spendet uns Trost mit der einfachen Botschaft: Du bist nicht allein. Ihr seid nicht allein. Wir sind nicht allein.

Und gemeinsam können wir die Botschaft aussenden: Weder Hass noch Angst werden unser Verhalten prägen, sondern der Mut und die Gewissheit, dass wir es sind, die darüber entscheiden, wie dieses Land, wie wir in Europa zusammen leben wollen und wie wir gemeinsam Frieden, Freiheit und Sicherheit verteidigen.