Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

volkstrauertag bad Bodendorf

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Joachim Gauck steht am Rednerpult auf der Kriegsgräberstätte Bad Bodendorf

©Schuhmann/Kreisverwaltung Ahrweiler

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält die Gedenkrede am Volkstrauertag auf der Kriegsgräberstätte Bad Bodendorf

Gedenkrede anlässlich des Volkstrauertags in Bad Bodendorf

13. November 2022, Sinzig-Bad Bodendorf

Es gilt das gesprochene Wort.

Am 6. März dieses Jahres schreibt der ukrainische Autor und diesjährige Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Serhij Zhadan folgende Nachricht: „Der Himmel über Charkiw war heute hoch und klar, und die Wolken irgendwie leichtsinnig sommerlich. Die schweren Schneekappen fallen von den Dächern. In der Stadt selbst ist es still, daher sehen sich die Menschen um, wenn Schnee herabrutscht. In der Stadt ist Frühling. Und in der Stadt ist Krieg.“

In Europa ist Krieg.

Mit dieser Erkenntnis sind auch wir wenige Tage vorher, am 24. Februar, mit Schrecken aufgewacht als uns allen klar wurde: Russland greift die gesamte Ukraine an. Der Tag heute, der Volkstrauertag, der seit Jahrzehnten dem Gedenken gewidmet ist, ist in diesem Jahr auch ein Tag der Trauer über das große Leid und das unsinnige Sterben in der Ukraine.

Wir sind heute in ganz besonderer Weise mit den Frauen, Männern und Kindern verbunden, die unter diesem barbarischen Angriff auf ihre Heimat leiden, weil Sie auf der Flucht sind, verschleppt wurden, die sinnlose Zerstörung ihrer Dörfer und Städte erleben müssen, weil sie gefoltert wurden oder mit der Waffe ihre Familie, ihr Land verteidigen.

Wir leben in Zeiten, in denen wieder Krieg ist in Europa, in denen erneut ein menschenverachtendes Regime die Freiheit und den Frieden bedroht. Was wir nun erleben müssen, haben die Meisten von uns im 21. Jahrhundert mitten in Europa für unvorstellbar gehalten. Und niemand weiß, wie weit Putins Ambitionen bei der Wiedererrichtung eines großrussischen Imperiums noch reichen. Niemand kann sagen, dass Übergriffe auf das NATO-Territorium, insbesondere auf die baltischen Staaten - oder etwa weitere Angriffe auf Georgien oder Moldawien - ausgeschlossen sind. Deshalb muss klar sein: Dieser Krieg betrifft auch uns. Er berührt unsere nationalen und europäischen Sicherheitsinteressen. Und Russland macht keinen Hehl daraus, dass es einen Kampf gegen unsere Demokratie, gegen unsere Art zu leben, gegen unsere Freiheit führt.

Sehr geehrte Damen und Herren,
gerade in dieser Zeit, in der wieder Krieg in Europa herrscht, wollen wir an den Preis des Krieges erinnern. Krieg zerstört umfassend. Er zerstört nicht nur die Wege, die Städte, die Häfen. Krieg zerstört den Menschen. Er verwandelt Lebendige in Tote und hinterlässt in unzähligen Überlebenden tote Seelen. Wer Gewalt ausübt oder ihr ausgesetzt ist, wandelt sich in seinem Wesen. Er wird ein Anderer.

Eindringlich hat dies Willy Peter Reese bezeugt, der im Zweiten Weltkrieg mit zwanzig Jahren an die Ostfront kam. "Ich wurde" – schreibt er – "mir selber seltsam fremd". Schonungslos hält er fest, wie er selber hart und bitter wird, wie ihm das Mitgefühl abhanden kommt, wie er Trost im Alkohol sucht. "Wir waren die Sieger, der Krieg entschuldigte den Raub, forderte die Grausamkeit, und der Selbsterhaltungstrieb befragte das Gewissen nicht [...]. Ich verkaufte mein Menschentum und Gott für ein Stück Brot."

Reese fiel im Juni 1944. In seinem erst 2003 veröffentlichten Tagebuch begegnen wir einem Autor, der schwankt zwischen Euphorie und Verzweiflung, zwischen Zynismus und Depression. Und dank der Kraft seines Textes schaudern wir, wenn wir lesen, was andere durchlebten und durchlitten.

Geschichte wiederholt sich nicht. Wohl aber wiederholen sich menschliche Verhaltensweisen – im Guten wie im Bösen. Selbst Nachgeborene sind berührt von den Dokumenten des individuellen Leids, der individuellen Schuld, auch der individuellen Tragik. Im Verhalten von einst erkennen und fühlen sie das Menschenmögliche von heute – gleichgültig, welcher Ethnie, Nation oder Religion sie angehören.

Dies, meine Damen und Herren, war unser aller Hoffnung: dass die Erinnerung an das doch unvorstellbare Leid des Krieges auch den nachfolgenden Generationen als dauerhafte Mahnung gereicht und immer mehr Menschen und Nationen den Ausweg in einem friedlichen Zusammenleben der Völker suchen lässt. So wie es gelang, die europäische Einigung zum großen Friedensprojekt unseres Kontinents zu machen. Und wir hoffen weiter, dass die Würde und Unversehrtheit des Individuums unser Denken und Handeln prägen mögen und nicht der Kult des Terrors, nicht die Ideologie einer unfehlbaren Weltanschauung oder Religion oder einer siegreichen und heldenhaften Nation. Dass Soldatenfriedhöfe, so wie Albert Schweitzer einst sagte, endlich die großen Prediger des Friedens sein mögen.

Dieser Hoffnung wollen wir uns auch heute, wo wir uns auf der Kriegsgräberehrenstätte Bad Bodendorf neben den Gräbern von 1.244 Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft versammelt haben, nicht verschließen. Aber angesichts des Krieges steht nicht die Hoffnung, sondern das Handeln im Vordergrund und damit die Frage, was können wir dazu beitragen, diesen schrecklichen Krieg zu beenden und Russland in seinem imperialen Wahn zu stoppen?

Dieser Frage müssen wir uns gerade im Bewusstsein dessen stellen, was sich in den Jahrzehnten nach dem Krieg als fester Bestandteil unseres nationalen Selbstverständnisses herausgebildet hat: Nie wieder. Nie wieder Krieg.

Was aber bedeutet dieses „Nie wieder“ im Angesicht des Leids, des sinnlosen Sterbens in der Ukraine? Gebietet es eine neutrale, pazifistische Haltung oder rechtfertigen diese menschenverachtenden Mordtaten nicht eine humanitäre Intervention zum Schutz der Menschen in der Ukraine? Wir wissen doch, schuldig kann sich auch der machen, der nicht handelt. Wir wissen aber auch, dass wir in diesem Fall nicht nur vor einem großen moralischen Dilemma stehen, sondern auch vor einem geopolitischem. Russland stellt mit seinem atomaren Waffenarsenal auch eine unmittelbare Bedrohung für uns selbst dar. Und so gibt es nachvollziehbare Gründe dafür, dass wir davor zurückschrecken, selbst aktiv in den Krieg einzugreifen. Die Feststellung, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind und es auch berechtigte Interessen zu wahren gibt, entlässt uns aber weder aus der Verantwortung, noch lässt es das moralische Dilemma kleiner werden. Im Gegenteil: Wir sind aufgefordert, alles bis zur Grenze des uns Möglichen zu unternehmen, um dem mörderischen Treiben Putins ein Ende zu setzen.

Denn schon vom ersten Tag an waren in diesem Konflikt die Rollen sehr klar verteilt zwischen Täter und Opfer. Eine moralische Äquidistanz zu den Konfliktparteien kann und darf es nicht geben. Deshalb wird unser Land der Ukraine beistehen, um zur Abwehr der Aggression Russlands beizutragen - auch mit Waffen. Und viele Menschen in Deutschland bezeugen ihre Solidarität, sie helfen und unterstützen, sie spenden, sie setzen Zeichen, sie fühlen mit und nicht wenige verzweifeln daran, dass es so schwierig ist, sich Putin noch entschiedener und substanzieller entgegenzustellen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns - und damit meine ich den Bürger genauso wie die Politikerin - immer wieder mit den Fragen befassen: Leisten wir den mutigen Ukrainerinnen und Ukrainern genug Beistand? Was können wir noch leisten, um den Überfallenen beizustehen?

Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn wir heute am Volkstrauertag dem Gedenken Raum geben, dann auch, um uns unsere eigene Geschichte und unsere Verantwortung bewusst zu machen – eine Verantwortung für Frieden, Freiheit und Demokratie. Und dieser Verantwortung müssen wir uns immer wieder neu stellen. Es hat eine geraume Zeit gedauert, bis in der Bundesrepublik ein solches Totengedenken möglich wurde.

Es gab ja in Deutschland einst Zeiten, da starben die Soldaten in Kriegen, die Fürsten etwa zur Durchsetzung ihrer Interessen führten. Selten, so Anfang des 19. Jahrhunderts, starben junge Männer in Deutschland auch für die Befreiung ihres Vaterlandes. Dann, im Ersten Weltkrieg, starben Soldaten für den Kaiser – ihr Vaterland wurde regiert von Politikern, für die Krieg ein akzeptables Mittel der Politik war. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Millionen von Toten, auch von Zivilisten, und nach einem Völkermord an den Juden, auch an den Sinti und Roma, war für viele Deutsche ein ehrenvolles öffentliches Gedenken an Menschen, die während des Militärdienstes ihr Leben gelassen hatten, diskreditiert. Vor allzu vielen Kriegerdenkmälern hatte es in der Vergangenheit zu oft ein "Heldengedenken" gegeben, allzu oft hatten dort nicht Trauer und Friedensliebe, sondern Revanchegedanken und Revisionsgelüste die Veranstaltungen geprägt. Bis heute versuchen auch hier in Bad Bodendorf rechte Extremisten das Gedenken an die Verstorbenen der Rheinwiesenlager für ihre eigenen demokratiefeindlichen Zwecke mit geschichtsrevisionistischen Märchen zu instrumentalisieren. Sich dem entschieden und immer wieder neu entgegenzustellen ist mühsam, aber Teil der Verantwortung, die wir für unsere Demokratie haben.

Über 104 Jahre sind seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, 77 Jahre seit Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Was wir uns in den letzten Jahren über Gedenkveranstaltungen und Publikationen ins Gedächtnis gerufen haben, sehen wir nun wieder Tag für Tag in den Nachrichten: die ungeheure Zerstörungskraft industriell geführter Kriege. Mit der Blindheit, mit dem Hass und der Gewalt, die aus nationaler Hybris und ideologischer Verblendung erwachsen. Mit Massenmorden. Mit Tod von Kriegsgefangenen durch unmenschliche Behandlung, Hunger und Seuchen. Mit der massenhaften Vergewaltigung von Frauen. Mit der Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen aus ihrer Heimat und mit dem Versuch neuer Grenzziehungen.

Trotz all der schrecklichen Verbrechen: Das Gedenken an unsere eigene Geschichte gibt aber auch Anlass zu Hoffnung: Wir durften erleben, wie aus der Tragödie des europäischen Kontinents der Einigungswille europäischer Völker hervorgegangen ist. Wie in Abkehr von totalitären Ideologien der Wille zum Aufbau demokratischer Gesellschaften gesiegt hat.

Und wie im Nachkriegsdeutschland zunächst der Westen, dann der Osten die Chance erhielt zu einem Neubeginn in Freiheit und Demokratie.

Sehr geehrte Damen und Herren,
heute denken wir an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker. Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Einsatz ihr Leben verloren. Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und teilen ihren Schmerz.
Und hier und heute trauern wir um die Menschen, die bei der Flutkatastrophe vor über einem Jahr an der Ahr und andernorts ihr Leben verloren haben. Wir denken an deren Angehörige und Familien, wir denken an alle, die über Nacht ihr Hab und Gut verloren haben.
Wir, die wir hier versammelt sind, dürfen neben der Trauer über Krieg und Katastrophen auch Hoffnung schöpfen. Hoffnung darauf, dass mit entschlossenem Handeln und praktizierter Solidarität das Unheil überwunden werden und eine neue Zukunft aufgebaut werden kann. Mit Zuversicht wollen wir daran mitwirken, dass alle Menschen – egal ob hier im Ahrtal oder in der Ukraine – eine Zukunft in Freiheit und Frieden haben.