Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Ehrendoktorwuerde Kiel

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede in der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel an lässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät

©Sascha Klahn-Uni Kiel

Rede im Audimax der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Verleihung der Ehrendoktorwürde der Christian-Albrechts-Universität

29. Oktober 2018, Kiel

Ich beginne mit einem Dank an Sie, Herr Universitätspräsident, an den Herrn Ministerpräsidenten und an den Herrn Landesbischof. Sie haben allesamt freundliche und ungewöhnliche Worte gefunden, um mich zu würdigen. Und Sie haben eben gespürt, dass das nicht nur meinen Kopf, sondern auch mein Herz erreicht hat. Und das wird mich auf der Heimfahrt noch intensiver bewegen als jetzt. Auch Ihnen, lieber Herr Professor Müller, herzlichen Dank für Ihre Worte der Würdigung zur Begründung der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Ich habe schon an anderer Stelle bekannt, dass ich mein Theologiestudium in Rostock 1958 auch in dem Wunsch begann, Freiraum zu nutzen, sich einer Wahrheit anzuvertrauen, die von niemandem befohlen worden war.

Diese Motivation hätte ich, wenn ich an einem anderen Teil der Ostsee, etwa hier in Kiel, hätte leben und studieren können, nicht in derselben Weise gebraucht. Vielleicht hätte ich andere Gründe gehabt, dieses Studium aufzunehmen und ganz sicher wäre es ein anderes Studium gewesen, weil ich mich nicht nach Rüstzeug hätte sehnen müssen gegen eine repressive Staatsmacht und gegen ein allgemeines Klima von Anpassung und Gehorsam. Dass in den Kirchen der DDR ein Raum für die wirkmächtigsten Formen von Opposition entstand, und dass 1989 die wichtigsten Impulse für die friedliche Revolution aus den Kirchen kamen, dies hat auch mit den Biografien vieler Ostdeutscher zu tun, die in den Jahrzehnten zuvor diesen Weg zur Theologie gefunden hatten, der eben auch den Widerspruch zur herrschenden Ordnung suchte.

Den Ehrendoktor einer Theologischen Fakultät zu erhalten, das war in meinem Studium nicht gerade vorgezeichnet. Umso mehr freue ich mich darüber, dass Sie mir diese Ehrung zuteilwerden lassen und vor allem darüber, dass die Entwicklung unseres Landes eine solche Konstellation überhaupt ermöglicht. Die Fakultät nimmt in Ihrer Begründung Bezug auf meine "Beschäftigung mit der Freiheit als Grundbestand unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung". Nun wurde mir als Bundespräsident zwischenzeitlich vorgehalten, "Freiheit" sei ja mein Dauerthema. Einmal abgesehen davon, dass dies für die Zeit meiner Präsidentschaft nicht zutraf, habe ich diese Kritik gut ausgehalten und gedacht:

Ich werde die Deutschen solange an den Wert von Freiheit erinnern, wie ich das Gefühl habe, dass Heinrich Heines Beobachtung stimmt. Nämlich die, dass der Franzose die Freiheit liebt wie seine Geliebte, für die er tausenderlei Torheiten begeht, der Brite wie seine erwählte Ehefrau und sich für sie schlägt auf Leben und Tod – und dass der Deutsche die Freiheit liebt wie seine alte Großmutter.

Ich hätte aber auch sagen können: Ich werde die Deutschen an Freiheit erinnern, so lange sie ein gewisses anderes Gefühl so innig lieben. Es ist ein Gefühl, das uns in den Nächten begegnet und unsere Gesellschaft bisweilen sogar des Tags dominiert. Es ist ein Gefühl, dass das Gegenteil ist von Freiheit: Es ist: Angst. Ich möchte mit Ihnen also heute über Angst nachdenken.

Mir steht natürlich vor Augen, dass Angst eine Grundkonstante menschlicher Existenz ist, die dem Menschen innewohnt als "Urelement menschlichen Seins, des Ausdrucks seiner Endlichkeit, seiner Bedrohtheit, seiner Verfallenheit an den Tod" (Paul Tillich). Deshalb setzt es mich einem gewissen Risiko aus, dieses ja immens theologische Thema vor den Mitgliedern einer theologischen Fakultät zu debattieren. Da Sie die heutige Auszeichnung aber auch mit meiner Beschäftigung mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen begründet haben, bitte ich um Nachsicht, wenn ich mich dem Thema Angst, dem aus meiner Sicht auch eine starke politische Dimension zukommt, vor allem aus dieser gesellschaftspolitischen Perspektive nähere.

Zunächst, was meine ich mit dem Begriff Angst? Kierkegaard trennt Furcht, die sich auf etwas Bestimmtes beziehe, und Angst, die "Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit" sei, "die ängstigende Möglichkeit zu können". Die Unterscheidung von Furcht und Angst, die sich in der Literatur vielfach durchgesetzt hat, bedeutet nicht, dass aus schwindeliger Angst vor den Möglichkeiten nie konkrete Furcht erwachsen kann.

Im Gegenteil, von den Psychologen lernen wir, dass eine generalisierte Angst oftmals konkrete Furchtthemen hervorbringt. Das sind Furchtthemen, die in der Regel sogar echte Kerne haben, Gründe also, sich vernünftigerweise zu sorgen. Aber weil wir die abstrakten, großen, auch übergroßen Ängste unseres Daseins nicht aushalten, suchen wir Felder, auf denen wir ihnen ausweichen, sie konkretisieren können – in der Form von Furcht. Der Übergang zwischen beidem ist fließend und dem Einzelnen in der Regel verborgen.

Mir leuchtet die Unterscheidung von Angst, die das menschliche Leben schon angesichts der unausweichlichen Endlichkeit des Lebens vielfach begleitet, von gegenständlicher, konkretisierter Furcht durchaus ein. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch und auch in den politischen Debatten haben sich allerdings beide Begriffe vermischt. Deshalb zeigt sich die Angst, von der ich heute sprechen will, durchaus auch in Ausprägungen, die in der akademischen Betrachtung seit Kierkegaard und Heidegger wohl eher als Furcht definiert würde.

Für Kierkegaard ist "die Angst der Schwindel der Freiheit". Was mag dieser "Schwindel der Freiheit" sein, in dem uns Menschen die Angst begegnet? Schwindelgefühle überkommen uns doch, wenn wir in Abgründe schauen. Müsste man von Freiheit nicht als schönem Ausblick sprechen?

Ein junger Wissenschaftler, der kürzlich eine „Soziologie der Angst“ vorgelegt hat, fasst den angstvollen Schwindel, den Freiheit in uns auslöst, so zusammen: "Das Gewahrwerden der Freiheit löst Angst ... nicht auf, sondern verweist ...auf ein endloses Spektrum von Möglichkeiten des Handelns. Diese erkannte Freiheit bringt nun auch deutlicher die Möglichkeit mit sich, richtig oder auch falsch, bzw. sündhaft handeln zu können. (….) Der Einzelne kann und muss sich stets fragen, ob Entscheidungen richtig waren, sind oder sein werden. (….) Die erkannte Freiheit als Gewahrwerden von Möglichkeiten bringt insofern ein fundamentales Kontingenzerlebnis mit sich, das sich in Angst ausdrückt."

Wenn der Mensch die Freiheit schaut und der Möglichkeiten gewahr wird, die sie ihm bringt, dann also, so hören wir, begegnet ihm die Angst. Stellen wir uns dies vor… Steht uns da nicht ein Paradox vor Augen? Würden wir nicht denken, der Mensch habe Angst in Unfreiheit?

Wenn er Repression ausgesetzt ist? Wenn er mit Willkür rechnen muss?

Wenn er folgen muss, auch gegen seinen Willen, statt seine Schritte selber zu wählen? Wird der Mensch nicht erleichtert aufatmen, wenn ihm die Freiheit begegnet?

Das ist ganz gewiss so. Und ebenso sicher ist es, dass es manifeste Sehnsucht nach Freiheit gibt, die die Unterdrückten aller Zeiten und aller Zonen kennen.

Ich weiß, wovon ich rede. Aber so paradox es klingt: Angst existiert auch in Freiheit. Unsere Psyche entdeckt in der Freiheit Unheimliches, Überforderndes, Verlassenheit, sicher auch und in all dem Abgetrenntheit von Gott. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass gerade in der politischen Moderne, gerade also, wenn nach unzähligen Generationen Freiheit eine ganz konkrete Lebensmöglichkeit geworden ist, dass gerade in dieser Phase Freiheit den Neu-Befreiten wie eine Zumutung erscheint.

Aus psychologischer Sicht hat Erich Fromm darüber gesprochen als Furcht vor der Freiheit und Flucht aus der Freiheit.

Fromm war in die Vereinigten Staaten immigriert und hat dort nach dem Krieg das Buch: "Escape from Freedom", die deutsche Ausgabe heißt "Furcht vor der Freiheit" geschrieben. Erich Fromm schaut die Genesis-Geschichte, die Sündenfall-Geschichte an, um zu erläutern, was es mit der Furcht und mit der Angst auf sich hat. Schauen wir uns die Geschichte mit dem Apfel mal genauer an. Da sind zwei Menschen in einer wunderbaren Eingebundenheit. Sie müssen sich um nichts sorgen, alles funktioniert, in einer prästabilisierten Ordnung, die für jede und jeden ihren Platz hat. Und dann ist da plötzlich die wilde und verwegene Idee, dass man nicht jedem Oktroyer folgen müsse, einen eigenen Willen habe. Und dann ist da diese Frucht, die zu ernten ist und die wird gepflückt und genommen. Und jetzt würde der Psychologe sagen: "Die Geburt der individuellen Freiheit!" Nun sagt Erich Fromm ganz nüchtern: "Und nun schauen wir mal den nächsten Tag an." Und was sehen wir da? Zwei Menschen außer sich vor Angst und Sorge: Wie sehe ich aus? Wovon soll ich leben? Wer gibt mir Zukunft? Wer garantiert mir Sicherheit und Überleben? In ihnen verbindet sich diese machtvolle Angst vor dem, was morgen sein wird, mit einer ewigen Sehnsucht nach Rückkehr in eine Geborgenheit, die wir uns gar nicht mehr vorstellen können. Aber niemals würden Menschen diese Geborgenheit wieder erlangen können, denn sie sind zu sich gekommen, zu ihrer Freiheit. Und in dieser Freiheit müssen sie nun bestehen.

In Freiheit bekommen wir es mit der Angst zu tun, nicht weil wir nichts tun können, sondern weil wir so vieles tun könnten, weil wir so viele Möglichkeiten haben, eben auch das Richtige oder das Falsche zu tun, vor allem aber, weil wir selber in Verantwortung stehen für uns und alles, was in unserer Macht steht. Hier, so scheint es mir, begegnen wir den Wurzeln der wirklichen Angst in unserer Gesellschaft. Die Vielzahl unserer Möglichkeiten ist eben nicht nur die Vielzahl einer schönen Auswahl.

Freiheit erschließt auch eine Zukunft, die, weil sie nicht von übermächtigen guten Eltern, einem starken Fürsten oder einem übermächtigen guten Diktator gestaltet wird, Verunsicherndes, Befremdliches, sogar Bedrohliches enthält. Offenkundig empfanden und empfinden viele von denen, die sich nach Freiheit gesehnt haben, nicht Glück und Ermächtigung, sondern ein Gefühl von Überforderung. Und zwangsläufig entstehen dann Fluchtimpulse – übrigens nicht nur bei Einzelnen sondern auch bei Gruppen.

Das gilt besonders in Zeiten des Übergangs, des Umbruchs. Denken wir an das Ende des Mittelalters, die Kopernikanische Wende, die dem Menschen das Gefühl von Überschaubarkeit und Geborgenheit nahm.

Auch andere Fortschrittswellen, etwa der Beginn des Maschinenzeitalters oder die Elektrisierung brachten Ängste hervor, Ängste vor Verlust, Überforderung, aber auch vor Ungewissheit. Das gilt insbesondere heute, da das Industriezeitalter abgelöst wird durch das Informationszeitalter, mit weltweiter Vernetzung und künstlicher Intelligenz, und mit unabsehbaren Folgen.

Was wird aus dem Menschen, seinem Selbstverständnis und seiner Rolle in der Welt?

Wird er die Kontrolle über die Roboter behalten oder werden die Roboter die Kontrolle über ihn übernehmen? Wird der Klimawandel die Erderwärmung so vorantreiben, dass, wie der Astrophysikers Stephen Hawking mutmaßte, menschliches Leben auf der Erde irgendwann gänzlich unmöglich werden könnte?

Wir stehen – so urteilte auch der kürzlich verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman – "vor Herausforderungen, die in der Geschichte ohne Beispiel sind".

Wem würde da nicht schwindelig werden, wer könnte der Angst vor der permanenten und riskanten Möglichkeit widerstehen, die, so der Soziologe Max Dehne, ein Leiden ist "an der Unbestimmtheit unklarer, unverständlicher oder unvorhersehbarer Situationen. Beispiele hierfür stellen normativ undefinierte oder unüberschaubar komplexe Situationen, widersprüchliche Deutungen und Einstellungen sowie gleichwertige, einander ausschließende Entscheidungs- und Handlungsoptionen dar."

Ja, Menschen entwickeln Angst, weil sie den Verlust des Alten und Vertrauten fürchten, die Erosion sozialer Strukturen, die Einbuße an Sicherheit, die Verunsicherung von Identität oder auch des tradierten Glaubens. Die Grenze des für die meisten Menschen Zumutbaren dürfte dabei jeweils dann überschritten sein, wenn die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen an seinem Selbstbild und seinem Selbstbewusstsein rütteln, letztlich an seiner Identität. Unsicherheit mag für die Einen zwar einen Entwicklungssprung auslösen, weil sie sich herausgefordert sehen, also positiv denken und aktiv gestalten können und wollen. Aber als Gesellschaft müssen wir auch erkennen: "der Innovationsdruck in Kombination mit Enttraditionalisierung ist für immer mehr Menschen unerträglich. (….) Risikokompetenz und Sicherheitsbedürfnis sind asymmetrisch verteilt." So der Mentalitätsforscher Hartmut Böhne.

Mit anderen Worten: Die einen sind Nutznießer einer Entwicklung, die sie beherrschen lernen und die ihnen neue Möglichkeiten verspricht. Den anderen aber drohen Abstieg und Überforderung, sie werden die Verlierer sein. Einige von ihnen – wir erleben es gerade – folgen dann politischen Verführern, die ihre Ängste und Unsicherheitsgefühle in Wut und Hass verwandeln und die Gesellschaft zu spalten versuchen.

Deutsche, so sagt ein Klischee und so habe ich es eingangs auch angedeutet, verstehen von einer sprichwörtlich gewordenen "german Angst" besonders viel. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn hat in diesem Monat sogar eine Ausstellung eröffnet: "Angst. Eine deutsche Gefühlslage?". Fachleute haben jüngst allerdings eher in Zweifel gezogen, dass die Deutschen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern besonders angstanfällig seien. Selbst beim Thema Migration wurde den Deutschen im September eine größere Gelassenheit bescheinigt, als es manche Debatten vermuten lassen.

In der Tat haben sich Angstwellen in freien Gesellschaften auf unterschiedliche Weise gezeigt. Während Deutsche sich lange zufriedengaben mit starken Ängsten etwa vor Schweinegrippe, Kernenergie oder der Schulmedizin, setzten sich in anderen Ländern wahre Spezialisten der Angst mit ihren Angeboten viel eher als hierzulande in den Köpfen und den Parlamenten fest. Die skandinavischen Demokratien, Italien, Österreich oder Frankreich hatten früher mit einem angstgesteuertem Populismus zu tun als wir. In Ost- und Mitteleuropa und jüngst in den Vereinigten Staaten sehen wir besondere Erfolge von Angstpropheten.

Ihr Rezept, ja leider ihr Erfolgsrezept, ist überall gleich, auch wenn es manche Variation kennt: Sie nutzen und schüren Angst und reüssieren dann mit dem leeren wie wirkmächtigen Versprechen, beängstigende Komplexität zu reduzieren, einfache Lösungen herbeizuführen und einen Zustand wiederherzustellen, in dem früher eben alles besser war. Solche Angststrategien verführen uns zu einer Bequemlichkeit, die uns die Problematik des realen Lebens nicht erlaubt. Die Angststrategen bieten uns Befreiung vom ständigen Druck nach Wandel, von der ständigen Notwendigkeit, uns auseinanderzusetzen mit komplexen, eben beängstigenden Fragen.

Sie suggerieren, es gebe eine Rückkehr zu einem ursprünglichen Zustand, etwa zu einer überschaubaren, homogenen Nation und zu weniger komplizierten Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens.

Sie versprechen Schluss zu machen einerseits mit schwer durchschaubarem Streit und andererseits mit dem lästigen Suchen nach Kompromissen und unbefriedigenden Zwischenlösungen.

Sie versprechen einleuchtende, einfache Antworten, schnelle Entscheidungen, klare Hierarchien und weniger Verunsicherung. Und indem sie behaupten, "das Volk" zu repräsentieren, locken sie Menschen in eine imaginäre Form des Zusammengehörens, letztlich in eine "Gefolgschaft".

Kurzfristig dürften all diese Angebote manchmal sogar zu Erfolgen führen, lassen sie sich doch oft schneller umsetzen als Lösungen, die in einem unter Umständen mühseligen demokratischen Prozess ausgehandelt sein wollen. Mittel- und langfristig hingegen fehlt einer derartigen Politik der Innovationsgeist, den es gerade in einer sich vernetzenden und sich weiter rasant entwickelnden Welt braucht. Außerdem hat es für Menschen einen hohen Preis, dieser Retro-Politik zu folgen: der Preis ist nicht weniger als die Unterwerfung unter die Herrschaft der Angst.

"Freie Menschen sollen keine Angst haben." ruft uns der Soziologe Heinz Bude zu, "….weil das ihre Selbstbestimmung kosten kann. Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche." Ich möchte dieses Zitat ergänzen mit einer Erinnerung aus meinem eigenen politischen Leben. Als sich im Herbst 1989 die Menschen massenhaft versammelten, um gegen das SED-Regime zu protestieren, waren tatsächlich riesige Angstschwellen zu überwinden.

Bei uns in Rostock hatte es schon Großveranstaltungen in Kirchen gegeben, aber den Schritt auf die Straße fanden die meisten noch zu gefährlich – bis heute habe ich Gesichter und Worte des Bedenkens vor Augen, wenn ich mich erinnere. Doch an einem dieser Gottesdienste habe ich gewagt, mich gegen den internalisierten Unterdrücker in uns zu wenden und in die Stille gesagt: "Wir sagen unserer Angst ‚Auf Wiedersehen!’". Ein deutliches Stöhnen ging damals durch die übervolle Kirche – und dann ein befreiendes Beifallklatschen. Und siehe, es ging. Befreiung kündigte sich an. Wir waren auf dem Weg, uns unsere Handlungsfreiheit zurückzuerobern.

Angst, so ist uns bewusst geworden, ist ein Faktor des Politischen – wer sie für seine Zwecke schüren will, hat das längst gemerkt. Aber auch wer nicht mit Angst Politik machen will, muss zur Kenntnis nehmen und einkalkulieren, welche Bedeutung Ängste im Politischen haben. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich von politisch handelnden Menschen erwarte, gegen Angst anzuarbeiten – eben damit Menschen nicht das ihnen Mögliche verpassen. Aber wie tun wir das, wie befähigen wir dazu, der politisch wirksamen Angst Lebewohl zu sagen?

Wir müssen die Methode genau wählen. Ich verstehe es sehr gut, wenn Menschen, die Angstprofiteure ablehnen, mit Furor auf deren Methoden reagieren. Und es stimmt ja: Ist Angst nicht ein wirklich widerwärtiges Mittel der Politik? Ich fürchte nur, mit Furor werden wir ihnen ihr Geschäft nicht verderben können. Vielmehr lohnt es, unsere Gesellschaft auch unter dem Aspekt aktueller Ängste anzuschauen.

Es ist nicht nur eine Aufgabe der Soziologen, Psychologen oder der Theologen. Auch nicht nur der Politiker. Es ist eine Aufgabe für das gesamte öffentliche Gespräch. Wie stelle ich mir die Bearbeitung der Angst im öffentlichen Gespräch vor? Wie in der Psychologie werden wir die Angst zunächst anschauen müssen. Zu sagen, dass sie unnötig sei oder übertrieben, ist keine Lösung.

Wir müssen wahrnehmen, wenn die Angst im Raum ist, auch im öffentlichen Raum. Und das ist sie heute in beängstigender Weise. Es gelingt ihr, sich gut zu tarnen, sich Stellvertreter-Themen zu suchen, die der Psychologe Verschiebung nennt, wie uns etwa Fritz Riemann in seinem Klassiker „Grundformen der Angst“ erläutert: "Wir haben nämlich die Neigung, nicht verarbeitete, nicht gemeisterte Ängste an harmlosere Ersatzobjekte zu heften, die leichter vermeidbar sind, als die eigentlichen Angstauslöser, vor denen wir nicht ausweichen können." Wenn in einer Region etwa, in der es kaum Ausländer gibt, die Furcht vor Ausländern am größten ist, hat sich die allgemeine, schwindelerregende Angst vor Überforderung und Komplexität der Welt hier wirkmächtig verschoben.

Das kann genauso gelten für die Angst vor angeblichen Chlorhühnchen, die der Freihandel uns bringt oder vor Impfrisiken, die von Pharmalobby und Politik heimtückisch verschwiegen werden.

Dies kann gelten für Angst vor angeblich krebsbringenden Überlandleitungen, vor scheinbar explodierender Alltagskriminalität oder jüngst auftretend und besonders urängstlich-archaisch, vor dem Einfall des Wolfes in Wohnsiedlungen. Ich stehe hier allerdings nicht um zu sagen, dass all die umlaufenden Ängste unbegründet sind. Wir stehen ja tatsächlich vor großen Herausforderungen, etwa bei Migration oder in der digitalen Revolution.

Genau das aber ist das Teuflische an der großen Angst, dass sie sich oft in Ängsten kleinerer Art verbirgt, also einen schwer widerlegbaren Anteil hat. Um das zu durchbrechen, gilt es, die konkrete Furcht ohne Herablassung anzuschauen, sie in Kontakt zu bringen mit der Wirklichkeit und dabei zu versuchen, der wirklichen Angst jenseits der Verschiebung auf die Schliche zu kommen und die Angst hinter der Angst von ihrer vordergründigen Fassade zu unterscheiden. Vieles lässt sich tatsächlich ins rechte Maß rücken. Ja, Digitalisierung und Big Data werden viele Bereiche des Lebens umkrempeln und wir wissen noch nicht, wann und wie.

Aber ist das Auftragsbuch Deines Betriebes für dieses Jahr wirklich leer?

Gibt es Anzeichen dafür, dass Dir persönlich durch die Digitalisierung die Arbeit ausgeht?

Oder: Glaubst Du wirklich, dass der Freihandel mit Kanada Deine Arbeitsbedingungen verschlechtert?

Und welche Einschränkungen in Deinem Lebensstandard sind wirklich verursacht durch die so niedrigen Zinserträge, die alle beklagen?

In anderen Bereichen sind konkrete kleinere Ängste schon schwieriger von den großen Ängsten zu trennen. In einem Land, das anders als in früheren Zeiten von Einwanderung geprägt wird, und das in den letzten Jahren eine sehr große Zahl an Asylbewerbern aufgenommen hat, ist es nur verständlich, wenn Menschen fragen: Kann ein Zusammenleben von Menschen gelingen, die sich in Grundfragen von unterschiedlichen Werten leiten lassen?

Welche Gewohnheiten bringen die Zugewanderten mit?

Engen sie mit ihren Ansichten meinen Raum ein, etwa als Frau oder als Atheist? Konkurrieren sie mit mir um Wohnraum oder um Arbeit?

Wie verändern sich die Schulklassen und was heißt das für mein Kind?

Die Antwort muss meines Erachtens auf doppelte Weise erfolgen. Einerseits sind wir alle, besonders aber die Politiker aufgefordert, tatsächlich nach ganz konkreten Lösungen zu suchen und sie schnell und entschieden umzusetzen:

Wir brauchen mehr Wohnraum, damit Einheimische und Flüchtlinge nicht als Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt auftreten.

Wir brauchen mehr Lehrkräfte, mehr Sozialarbeiter und mehr interkulturelle Kompetenzen, damit die veränderte Zusammensetzung der Klassen nicht zu einem generellen Leistungsabfall führt.

Wir brauchen einen schärferen Blick auf islamistische Kreise, damit sich das Sicherheitsrisiko nicht erhöht.

Als Hilfe für einen vernunftgeleiteten Diskurs über dieses heikle Themenspektrum können wir mehr als bisher wissenschaftliche Arbeiten heranziehen, die die Probleme und Lasten von Zuwanderung nicht ausklammern, sondern exakt darstellen, gleichzeitig aber über Erfahrungen gelingender Integration berichten. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Arbeiten der Professoren Paul Scheffer, Paul Collier und Ruud Koopmans. Deren ehrliche Bestandsaufnahme kann uns befreien von einer vorschnellen moralischen Verwerfung von Ängsten, wie sie von Teilen der Gesellschaft vorgenommen werden. Nicht jede Sorge, nicht jede Frage danach, ob der Islam eine Bedrohung für unser Land ist oder wie viel Zuwanderung eine Gesellschaft innerhalb einer umrissenen Zeit überhaupt mental, politisch, sozial und wirtschaftlich verkraften kann, entspringt einem Ressentiment.

Es hat nicht geholfen, meine Damen und Herren, dass man zeitweilig ein Problemfeld ideologisch einseitig verengt hat. Wenn ich zum Thema Integration in toto erkläre "Zuwanderung ist Bereicherung", dann muss ich mich nicht wundern, dass von Teilen der Gesellschaft gefragt wird: "Aha? Immer?". Deshalb ist es nützlich, dass wir Befürworter einer offenen Gesellschaft mit offenen Grenzen- auf der Basis einer soliden Faktenanalyse -, in eine lösungsorientierte Debatte eintreten mit jenen, die in strikter Abschottung ein Gebot der Stunde sehen.

Allein eine seriöse Debatte kann für ein öffentliches Gespräch sorgen, das nicht dominiert ist von Ressentiment, Angstwellen oder umgekehrt von beschönigenden Darlegungen.

Unsere Nation – und nicht nur unsere – braucht doch eine Verständigung über Grundsätzliches: Wie können wir wir selbst bleiben und trotzdem den Veränderungen in der Welt Rechnung tragen?

Darauf gilt es Antworten zu finden, Antworten, die Pauschalisierungen vermeiden und generelle Feindbilder auflösen, ohne die Wirklichkeit zu beschönigen. Antworten, die dem Ressentiment entgegenwirken, mit dem Populisten Stimmung machen. Und wir werden nicht umhin können, den Menschen eine Wahrheit zuzumuten, die viele wahrscheinlich am meisten ängstigt: Der Wandel, und sogar der schnelle Wandel dürfte das beständigste Moment der Zukunft sein.

Die Politik kann den Einzelnen nicht von Angst befreien, jedenfalls nicht ihre Tiefendimension, die selbst der aufrichtigste politische Prozess nicht auflösen kann. Wenn der politische Prozess aber aufrichtig und nachvollziehbar ist, kann er den Menschen begleiten bei, wie Kierkegaard sagt, dem Abenteuer, sich zu "ängstigen nach Gebühr". Das kann nichts anderes heißen, als seinen Ängsten weder ungebührlich, d.h. angemessen aus dem Weg zu gehen, noch ungebührlich in der Angst zu versinken.

Uns stehen Kräfte zur Verfügung, die uns helfen können, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, sie immer wieder neu zu besiegen. Tillich spricht vom "Mut zum Sein", der der Angst ins Gesicht sieht, und sie als Eigenschaft menschlicher Begrenztheit und zugleich menschlicher Würde auf sich nimmt und trägt. Wenn wir im Politischen Ängsten einerseits und Angstprofiteuren andererseits begegnen, werden wir ebenfalls Mut brauchen. Statt den Menschen, der die Moderne als diffuse Quelle von Angst und Bedrohung erlebt, immer weiter in die Angst zu treiben, geht es vielmehr darum, ihn zu ermächtigen, sein Leben selbstbestimmt zu führen, auch in der Bewertung von und der Auseinandersetzung mit Risiken.

Man könnte auch sagen, wir sollten uns und andere ermächtigen, sich dem Unangenehmen zu stellen, die Wirklichkeit nicht zu verleugnen und das Mögliche nicht zu verpassen, oder: dazu, wieder Akteur des eigenen Lebens zu sein, und nicht nur ein Getriebener unübersehbarer Entwicklungen. Dazu sollten wir das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit ernstnehmen, ebenso wie den Wunsch nach Eingebundensein und Beheimatung. Zugleich sollten wir ihre Risikokompetenz stärken, etwa in den Debatten von Migration, Globalisierung oder Digitalisierung. Diese Themen dürfen die Gesellschaft nicht neu aufspalten in wenige herausragende Gewinner und breite Gruppen, die verlieren oder dies jedenfalls fürchten. Gezielt sollten wir versuchen, Sprachlosigkeit und wachsende Distanz zwischen unterschiedlichen Milieus zu durchbrechen, etwa zwischen Stadt und Land.

Sorgen wir für mehr Räume des Miteinanders – etwa der Generationen. Beginnen wir die Suche nach Orientierung und Beheimatung in der sich wandelnden Welt: Ermutigen wir dazu, etwa im Ehrenamt und anderen Formen des bürgerschaftlichem Engagements Formen der Bezogenheit zu leben gerade in unübersichtlichen Zeiten. Mühen wir uns in allem um mehr gegenseitige Verlässlichkeit. Das können Quellen des Muts sein, für uns und andere. Wir können die Angst anschauen und uns Resilienz erarbeiten, statt den Profis und Profiteuren der Angst zu folgen. Wir sind Menschen und wir haben Angst, aber die Angst muss uns nicht haben.

Wenn der, den sie heute mit einer Ehrenpromotion bedenken, von Freiheit spricht, denkt er auch im Politischen nicht an eine Freiheit von Angst. Er meint die Fähigkeit, auch dann, wenn wir vom Schwindel der Freiheit, von Angst begleitet sind, Angst und Furcht schöpferisch in Mut und Verantwortung zu verwandeln.