Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Mendelssohn-Lektionen

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Ansprache zur Eröffnung der Mendelssohn-Lektionen in Berlin

©Mendelssohn-Gesellschaft / Manfred Claudi

Ansprache zur Eröffnung der "Mendelssohn-Lektionen" in der Mendelssohn-Remise

Eröffnung der "Mendelssohn-Lektionen"

06. September 2018, Berlin

"Mendelssohn-Lektionen", so heißt diese Vortragsreihe und es ist mir eine Freude, sie zu eröffnen. Haben Sie, liebe Mendelssohn-Gesellschaft, Dank für diese schöne Einladung!

Moses Mendelssohn wurde in der Literatur bezeichnet als der "lebende[n] Beweis für eine der Hauptbestrebungen der Aufklärung: Was er war, war er kraft eigenen Denkens geworden...". Und so erinnern wir heute hier in der ehemaligen Kassenhalle der Mendelssohn-Bank an Moses Mendelssohn und seine Familie, die über viele Generationen beigetragen hat zur Entwicklung unserer aufgeklärten Gesellschaft.

Ich möchte Ihnen, die Sie mit familiären oder wissenschaftlichem Bezug eng mit dem Namen Mendelssohn verbunden sind, nun keine umfassende Abhandlung über Mendelssohn zumuten – Sie dürften sein Werk und seine Biografie besser kennen als ich. Sondern ich möchte versuchen, Mendelssohns Haltung, seinem Denken zu begegnen und es anzuschauen in einer Frage, die uns heute bewegt – nämlich, wie wir in unserer aufgeklärten Gesellschaft miteinander leben und debattieren und auch wie wir miteinander streiten und welche Rolle Toleranz dabei spielt.

Mendelssohn hat über Fragen von Verschiedenheit und Toleranz immer wieder nachgedacht, nachdenken müssen, denn als Jude war er durchgängig mit seiner Andersheit und mit fehlender Gleichberechtigung konfrontiert. Hätte er nicht Unterricht in der Talmudschule des Oberrabbiner Fränkel erhalten, hätte er Berlin gar nicht betreten dürfen – sogenannte Betteljuden kamen nicht in die Stadt. Hätte er keine Anstellung als Hauslehrer bei einem Seidenfabrikanten gefunden, hätte er die Stadt nach dem Studium wieder verlassen müssen. Auch Friedrich II., der aufgeklärte Monarch, hatte die diskriminierenden Bestimmungen für Juden in den 30 Jahren Regentschaft nicht abgeschafft. Erst mit 34 Jahren erhielt Mendelssohn einen Schutzbrief, der ihn vor willkürlicher Ausweisung bewahrte.

Für Mendelssohn kam es allerdings nicht in Frage, sich den Weg in die ehrwürdige Berliner Gesellschaft und Wissenschaft durch Konversion zum Christentum zu bahnen. Er war in einem jüdischen Elternhaus aufgewachsen, mit Jiddisch als Muttersprache und Hebräisch und Aramäisch als Sprachen der Religion, er war in Jüdischer Religion und Geschichte ausgebildet worden und er schätzte sein Judentum, das er kritisch im Geiste der Aufklärung zu interpretieren gedachte. Gleichzeitig eroberte sich Mendelssohn mit Deutsch, Latein, Französisch und Englisch den Zugang zur europäischen Kultur und erwarb sich große Anerkennung in den philosophischen Disputen jener Zeit. Dennoch: Als die Berliner Akademie ihn zu ihrem ordentlichen Mitglied vorschlug, verweigerte Friedrich II. die Ernennung.

Auch in einem Preußen, dessen Herrscher erklärt hatte, jeder könne nach seiner Façon selig werden, sehen wir noch keine Toleranz, die uns befriedigen kann. In der bloßen "Duldung" der Juden zu Mendelssohns Zeit zeigt sich vielmehr, dass damit Unterordnung und die Erwartung von Gehorsam und Unauffälligkeit verbunden waren und sie immer nur unter Vorbehalt und oft erpresserisch vom Obrigkeitsstaat gewährt wurde. Auch Mendelssohn lebte unter diesem ständigen Vorbehalt und war in seiner Debattenführung mitunter zurückhaltend, weil er sich zu Vorsicht gemahnt sah durch die "verächtliche Meinung, die man von einem Juden hat".

Mendelssohn wollte nicht demütigende Duldung, sondern Emanzipation. Er wollte keine herablassende Gnade, sondern rechtliche und soziale Gleichberechtigung. Denn es war schon damals mit Händen zu greifen: Solange Glaubens- und Meinungsfreiheit nicht rechtlich abgesichert sind, solange Toleranz nur ethisches Postulat, aber kein Gesetz ist, solange sie nicht Eingang in Verfassungen und internationale Verträge gefunden hat, kann sie in der Hand von autoritären Herrschern immer teilweise, vorbehaltlich, auch willkürlich gewährt werden – und damit demütigend und diskriminierend für denjenigen, der auf sie hofft und der von ihr ausgeschlossen ist.

Juden hatten immer wieder mit solcher Art von brüchiger Toleranz zu kämpfen, die auch schnell in Intoleranz und sogar Gewalt umschlagen kann. Drastisch wird sie im biblischen Buch Esther beschrieben. Häufig waren es geistliche Führer, die mit Verachtung auf das Volk schauten, das Gott angeblich als Strafe für ihren Verrat gegenüber Jesus über die ganze Welt verstreut hatte. Oder die Juden vor die Alternative stellten: Konversion zum Christentum oder Exil, sie später aber vor die Tribunale der Inquisitionsgerichte zerrten, weil sie hinter der Fassade des christlichen Glaubens an ihrer eigenen Religion festhielten. Ausgrenzung erfolgte aber auch etwa durch das städtische Bürgertum, das bestrebt war, Juden, die man als Konkurrenten fürchtete, aus den Städten fernzuhalten oder sie aus den Städten auszuweisen. Auf solche und ähnliche Weise blieben Juden Gleichberechtigung und wirkliche Toleranz über Jahrhunderte verwehrt, ein trauriges, beschämendes Kapitel unserer europäischen und deutschen Geschichte, das lange vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus geschrieben wurde.

Der historischen Gerechtigkeit halber muss allerdings noch hinzugefügt werden, dass obrigkeitsstaatliche Toleranz in anderen Konstellationen manchmal durchaus Verbesserungen für die Tolerierten brachte, zum Beispiel in den konfessionellen Konflikten im Zuge der Reformation. Ich denke hier natürlich in erster Linie an den Augsburger Religionsfrieden von 1555. Der Kaiser musste den Anhängern der lutherischen Reichsstände Zugeständnisse machen, weil er nicht mehr imstande war, die konfessionelle Einheit des Reiches zu wahren. Allerdings wurde Religion weiter obrigkeitsstaatlich durchgesetzt, nun allerdings auf Ebene der Landesfürsten. Cuius regio, eius religio – wer das Land regierte, sollte den Glauben bestimmen. Individuelle Religionsfreiheit war also (noch) nicht möglich, aber immerhin konnte, wer nicht konvertieren und den Glauben des Landesherrn annehmen wollte, in ein Land seines Glaubens auswandern.

So hatte die machtpolitische Patt-Situation zwischen Kaiser, lutherischen und katholischen Landesherren erstmals zu einer Koexistenz zwischen Katholiken und Protestanten geführt. Im Heiligen Römischen Reich existierten politisch anerkannt zwei konfessionelle Lager. Die Pluralisierung hatte Einzug gehalten und mit ihr zwangsläufig die – wenn auch labile – Toleranz.

In Moses Mendelssohn finden wir einen bekennenden Verfechter von Pluralität und Toleranz, politisch und philosophisch. Das spiegelte sich beispielsweise in einem Briefauszug von Mendelssohn vom 5. September 1777, einer Antwort an Carl Theodor von Dalberg, zu diesem Zeitpunkt kurfürstlicher Statthalter und katholischer Prälat in Erfurt, der es noch weit bringen sollte: er wird der letzte Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sein, Erzbischof von Regensburg, Fürstprimas des Rheinbundes und Großherzog von Frankfurt. Er hatte Mendelssohn gegenüber argumentiert: In der Natur ziele alles auf Aufhebung der Unterschiede, weshalb die Welt nicht durch Verknüpfung des Mannigfaltigen, sondern durch die Entsorgung der Verschiedenheiten ad consensum zu bringen sei.

Für Mendelssohn war Konsensus illusorisch und Aufhebung der Vielfalt eher bedrückend:

"Ich halte dafür, Einheit sei von Einerleiheit wohl zu unterscheiden. Diese hebt den Unterschied des Mannigfaltigen auf, jene bringt es in Verbindung. Das Einerlei steht dem Mannigfaltigen entgegen; die Einheit aber ist desto größer, je mehr Mannigfaltiges und je inniger es verknüpft wird. Wenn diese Verknüpfung des Mannigfaltigen harmonisch geschieht, so geht die Einheit in Vollkommenheit über, mit welcher sich das Einerlei gar nicht verträgt. In der vollkommensten Einheit ist eine unendliche Mannigfaltigkeit auf das wesentlich unzertrennlichste höchst übereinstimmend verknüpft, und also der höchste Grad der Vollkommenheit."

Auf wunderbare Weise finde ich hier ausgedrückt, dass Ganzheit, Einheit – nennen Sie es, wie Sie wollen –, umso tiefer, umso vielschichtiger, umso reicher ist, wenn Mannigfaltiges, Verschiedenes, Heterogenes in harmonische Beziehung zueinander getreten ist. Dies geschieht in der Regel auf dem Weg des Kompromisses. Ein guter Kompromiss bewahrt Unterschiede, ohne dass diese zu Streit und Trennung führen. Unterschiede völlig zu nivellieren hingegen ist das Gegenteil dessen, was Mendelssohn mit Pluralität und Toleranz verfocht.

Eine Bekehrung der Juden etwa zum Christentum zu verlangen oder gar eine Einheitsreligion zu erdenken, die alle Konflikte vermeidet, das war für Mendelssohn undenkbar: "Glaubensvereinigung ist nicht Toleranz, ist der wahren Duldung entgegen."

Mir fällt dabei der Moses Mendelssohn ein, wie ihn sein Freund Gotthold Ephraim Lessing sah. Weise und souverän, geleitet vom Verstand und geführt von der Toleranz. Wie Nathan der Weise, der seinen eigenen Glauben über alles schätzt, aber – wie die Ringparabel zeigt und Lessing es wünscht – auch Christen und Muslime zu respektieren bereit und fähig ist. Nathan will – wie Mendelssohn – die Besonderheit seines eigenen Glaubens nicht missen, aber er findet im moralisch guten Tun eine gemeinsame Ebene mit den Anhängern anderer Religionen. Nathan denkt – offensichtlich wie Mendelssohn, dem Lessing hier ein Denkmal setzt: Mögen Juden, Muslime oder Christen auch an einen jeweils anderen Gott glauben, so sind sie als Menschen doch durch die gleichen Gefühle und Bedürfnisse miteinander verbunden. Es ist zweitrangig, an welchen Gott der Mensch glaubt, wenn ihn dieser Gott denn zu guten Taten bewegt. Mendelssohns Eintreten für unbedingte Pluralität: So stellen wir uns ihn vor.

Das ist gerade bei ihm keine Toleranz des Laissez faire, keine Gleichgültigkeit, erst recht kein reines Erdulden der anderen Meinung. Seine eigene, die jüdische Religion bildet den festen Boden seiner Überzeugungen, auch die Überzeugung von der Überlegenheit seines Glaubens gegenüber anderen Religionen. Er streitet dafür, schreibt dafür, redet darüber. Toleranz schließt bei ihm ein, in Wettstreit zu treten, auch welche Religion die vernünftigere ist.

Moses Mendelssohn hat natürlich keine Patentrezepte für uns, er hat in einer fernen Zeit mit steifen Zöpfen und Feudalismus gelebt. Und trotzdem erlebe ich ihn als Verbündeten, wenn er dafür plädiert, Unterschiede offen anzusprechen und Streit offen auszutragen. Einem Oberrabbiner, der sich als Zensor aufführte und einem Freund von Mendelssohn eine Drucklegung verbieten wollte, hat er beispielsweise entgegenhalten, "daß in Deutschland Preßfreiheit allgemein gesichert und gesetzlich sei; man könne dagegen schreiben und drucken: aber nichts verfügen, wodurch jemand gehindert wird, seine Meinung zu sagen." (17.4.1782 an David Friedländer) Offenbar nimmt Mendelssohn, weil er die preußische Meinungsfreiheit lobt, sogar Krach mit der Jüdischen Gemeinde in Kauf. Er kann schätzen, wenn der Gegenspieler die Rechte und die Spielregeln einhält.

Diese Haltung, finde ich, dürfen wir ruhig übernehmen auch für heutige Debatten darüber, wie wir Toleranz miteinander gestalten wollen – als Debattenteilnehmer, die für ihre Position im Wettstreit mit anderen zu streiten bereit sind, dabei aber Regeln einhalten, die zu einem echten Austausch führen.

Wir wissen, dass die Welt seit Mendelssohns Zeiten noch wesentlich pluralistischer geworden ist. Wir wissen auch, dass, je pluralistischer eine Gesellschaft ist, umso mehr Toleranz erfordert ist. Und es dürfte kaum jemanden geben, der die Notwendigkeit von Toleranz gerade heute bestreitet. Ohne Toleranz gibt es keinen sozialen Frieden, kein Auskommen der Verschiedenen, keine Möglichkeit für Kompromisse. Wie also kann die schützenswerte Mannigfaltigkeit, von der Mendelssohn spricht, heute gestaltet werden, ohne dass wir riskieren, in lauter fragmentierten Parallelgesellschaften zu landen? Wie kann sie aussehen, ohne dass – umgekehrt – die unterschiedlichen Sichtweisen nur verbittert und unversöhnlich aufeinander prallen oder gar gewaltsam ausgetragen werden? Was bedeutet Toleranz heute?

In den letzten Wochen und Monaten, und gerade noch einmal durch die Ereignisse in Chemnitz, sind wir in einem stärkeren Maß um sie besorgt, als in den Zeiten zuvor. Viele sehen etwa in den traditionellen Parteien, die alle gesellschaftlichen Milieus widerspiegelten, nicht mehr die Vertreter ihrer Positionen. Bewegungen mit mehr oder weniger starkem populistischem Zungenschlag gewinnen an Popularität. Dies ist eine Entwicklung, die in zahlreichen anderen Ländern früher eingetreten ist als bei uns. Wir erinnern uns beispielsweise an die Wahlen in den USA oder in Frankreich. In Schweden sind die Rechtspopulisten schon seit 2010 im Reichstag, nun könnten sie bei den Wahlen in drei Tagen sogar stärkste Partei werden.

Wir spüren, dass auch bei uns eine Spaltung in der Gesellschaft existiert, die nur zu einem Teil durch die traditionellen politischen Lager definiert wird. Wir erleben die rasante Verrohung des Umgangstons, der Umgangsformen, der politischen Reflexe und der Manipulationsmöglichkeiten öffentlicher und halböffentlicher Kommunikation. Es bilden sich Lager und Echoräume, in denen nur noch Gleichgesinnte miteinander kommunizieren. Unlängst warnte ein Sozialpsychologe, der über Vorurteile und politische Psychologie forscht: "Viele wollen andere Meinungen nicht mehr hören, sondern lehnen sie von vornherein ab. Das ist besorgniserregend. Denn so können gesellschaftliche Aufgaben und Probleme nicht gelöst werden."

Es bilden sich konfrontative Haltungen, die zum Teil gewaltsam auf die Straße getragen werden. Die Grundregeln von Gespräch und Debatte werden nicht mehr beachtet, Tabus bewusst gebrochen, an die Stelle von Argumenten treten Ressentiment und Wut, ja Hass und pure Aggressivität. Derartige Entäußerungen sind eigentlich Gewalttaten ohne Waffen, mit ihnen will man das Gegenüber nicht überzeugen sondern erniedrigen, einschüchtern, schlagen, mundtot machen. Diese Haltung will Sieg und Meinungsherrschaft, ohne überzeugen zu wollen. Sie beugt sich nicht mühsam errungener tradierter Zivilität, nicht der Vernunft, verweigert partiell sogar dem Recht den Respekt und überschreitet die Grenze zur Straftat. Sie genießt es geradezu, eine lang eingeübte und in einer Gesellschaft erforderliche Affektkontrolle zu negieren und Wütende in kaum kontrollierte Wut zu treiben. In eine Gruppe derartig berauschter Menschen mit Verständnis, Nachdenklichkeit und Vernunft einzudringen, ist kaum möglich. Dann gilt es, die Allgemeinheit zu schützen und den Regelverletzern schlicht mit den Mitteln staatlicher Gewalt zu begegnen. Für engagierte Demokraten bleibt als einzige Möglichkeit die strikte Abgrenzung.

Wir müssen uns jedoch ebenso die Frage gefallen lassen, ob in unserer Gesellschaft bisher tatsächlich ausreichend das Gespräch gesucht wurde. Selbst bei solchen, die nicht argumentieren, sondern ihren Hass auf die Straße tragen, kann es Erfolg haben, auf einzelne Individuen zuzugehen. Es ist doch bei Einzelnen möglich, sie später, wenn der Rausch kollektiver Enthemmung verflogen ist, in anderen Situationen zurückzuholen in den Bereich von Dialog, Debatte und sinnvollem Streit.

Haben wir außerdem ausreichend berücksichtigt, dass sich den Wutgetriebenen auch Menschen anschließen, die zwar wütend, aber doch nicht restlich verbittert und nicht restlich ressentimentgetrieben sind? Menschen, die nicht "das System" abschaffen wollen, sondern eigentlich nur deshalb zu den Wutgetriebenen gehen, weil sie Aufmerksamkeit für Probleme einfordern, die zu lange zu gering geschätzt wurden?

Um diese enttäuschten und zum Teil auch wütenden Menschen zu erreichen, brauchen die Verteidiger der Demokratie Wissen, Geduld und Überzeugungskraft. Tatsächlich aber sind

die Demokraten – sind wir – unseren Kritikern oft nicht mit Argumenten begegnet, vielmehr haben wir sie häufig als reaktionär oder demokratiefeindlich oder als nicht ernst zu nehmen abgetan oder gar in die Rolle von Menschen geschoben, die moralisch defizitär sind.

So müssen wir auch unsere Fähigkeit zu Selbstkritik und Respekt vor Andersdenkenden unter Beweis stellen. Ein rechthaberischer und von so manchen als selbstgerecht empfundener Diskurs wird niemanden überzeugen, seine Haltung zu überdenken. Dabei kann es die Akzeptanz für unsere Demokratie nur erhöhen, wenn Politiker, wenn Journalisten, wenn Meinungsmacher und Gestalter einräumen, dass sie einzelne Politikziele verfehlt, Schwerpunkte falsch gesetzt oder Entscheidungen versäumt haben.

Meine Toleranz sieht manchmal durchaus aus wie ein handfester Streit. Meine Toleranz besteht darin, dass ich zunächst vermuten muss, dass mein Gegenüber von seinen Argumenten in derselben Weise überzeugt ist, wie ich es von meinen bin. Meine Toleranz erwächst auch daraus, dass ich mich selber als irrtumsfähig erlebt habe und somit immerhin die Möglichkeit besteht, nicht ich, sondern der andere könnte im Recht sein. Also werde ich zuhören, argumentieren und – wenn nötig – auch streiten. Toleranz verpflichtet mich nicht, unwidersprochen zu dulden, was ich als Argument nicht teilen kann. Meine Toleranz zwingt mich weder zu Unentschiedenheit noch sollte sie mich dazu verführen, jemanden aus Höflichkeit oder aus Arroganz oder taktischem Kalkül rechts oder links liegen zu lassen. Toleranz sollte mich vielmehr verpflichten, dem anderen den Debattenraum und die Chancen einzuräumen, die mir selber auch zustehen. Das ist oftmals alles andere als einfach. Es ist oft sogar schwer – aber ebenso oft ist es nötig.

Der Lernprozess steht vielen von uns noch bevor. Überlassen wir Themen nicht den Extremisten. Grenzen wir Menschen nicht vorschnell aus. Wehren wir Meinungen nicht reflexhaft ab, die außerhalb des Spektrums liegen, die von meinungsstarken Milieus als moralisch gut und zulässig erklärt werden. Ich verweise nur auf ein Beispiel aus jüngster Zeit: Als eine große Wochenzeitung ein Pro und Contra über die private Seenotrettung von Flüchtlingen abdruckte, wurde die Journalistin, die den Rettern eine Mitverantwortung am Geschäft der Schlepper zusprach, mit unflätigen Beschimpfungen überzogen. Diese Autorin hatte sorgfältig recherchiert, selbst zwei Wochen auf einem privaten Rettungsschiff verbracht – und war schließlich zu anderen Schlussfolgerungen gelangt als ein Teil der liberalen Leserschaft. Das Ergebnis war ein moralischer Entrüstungssturm. Wie erklärt sich so ein Gegenwind? Kann es sein, dass sich hinter der Aggression ihr gegenüber, dass sich hinter der Unfähigkeit zur Toleranz für eine andere, durchaus demokratische Position nicht zuletzt die Furcht verbirgt, der eigene Standpunkt sei in Gefahr?

Statt den Debattenraum einzugrenzen, lassen Sie uns die Fähigkeit der Menschen stärken, sich in einer pluralen Gesellschaft zu bewegen und in Dialog und auch Streit mit anderen Positionen zu treten – durchaus auch "robust", wie es der englische Historiker Timothy Garton Ash empfohlen hat. Wir, die aufgeklärte Mitte, dürfen unseren Argumenten doch mindestens so sehr trauen, dass wir Nachfragen oder andere Meinungen nicht reflexhaft für illegitim erklären müssten.

Allerdings gibt es auch für die Toleranten ein Ende der Toleranz. Mit Intoleranz sollen und müssen wir jenen begegnen, die den freien Raum zerstören wollen, der jedem Individuum seine Chancen zur Meinungsbildung und zur Realisierung seines Lebensstils einräumt. Mit Intoleranz sollen und müssen wir all jenen begegnen, die an die Stelle des friedlichen Nebeneinanders die Destruktion und den Hass setzen – gleichgültig, welcher extremistischen politischen oder religiösen Färbung sie sich dazu bedienen.

Machen wir uns noch einmal bewusst: Unsere Demokratie ist ein großes Zelt. Darin sind verschiedene Meinungen nicht nur geduldet, sondern sogar erwünscht, damit die Verschiedenen sich in diesem Zelt auch beheimatet fühlen. Gotthold Ephraim Lessing, der Freund von Moses Mendelssohn, hat schon in seiner Ringparabel den Weg gewiesen, wie Zusammenleben dann gelingen kann: mit Toleranz als Respekt vor der freien inneren Entscheidung des Anderen. Weil dem Anderen die gleiche Würde eignet wie mir selbst, wird Toleranz für mich als einen moralisch handelnden Menschen quasi zu einem Gebot. Das galt damals, und es gilt auch heute.