Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Preis für Verständigung und Toleranz

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Joachim Gauck bei der Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz 2017

©Pietschmann/Wagenzik (Jüdisches Museum Berlin)

Preisverleihung im Jüdischen Museum mit Peter Schäfer (li.), Direktor der Stiftung Jüdisches Museum, und Christopher M. Clark (re.), Professor für Neuere Europäische Geschichte in Cambridge

Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz

11. November 2017, Berlin

Zu Beginn ein Dank. Dank dem Jüdischen Museum und den "Freunden und Förderern der Stiftung Jüdisches Museum e.V.", dass Sie mir gemeinsam mit Joe Kaeser in diesem Jahr den Preis für Verständigung und Toleranz zugedacht haben.

Ja, ich fühle mich geehrt, in einer Reihe mit so herausragenden Persönlichkeiten wie Michael Blumenthal, Imre Kertész, Fritz Stern oder Berthold Beitz zu stehen.
Das ist schon ein Geschenk, ebenso wie die Tatsache, dass Sie, lieber Professor Christopher Clark, Sir, ein Historiker von Weltrang, so freundliche und ergreifende Worte zur Übergabe dieses Preises gefunden hat.

Lieber Christopher Clark, Sie sind ein echter Kenner unseres Landes. Aber nicht allein das ist mir wichtig, zu würdigen, denn etwas anderes ist mir aufgefallen:

Sie vermögen so über dieses Land zu schreiben und reden, dass es uns hilft, uns immer besser mit ihm anzufreunden. Dafür bin ich Ihnen dafür dankbar, denn das neue, friedliche und demokratische Deutschland, das wir nach dem Krieg haben wachsen sehen, braucht eben auch die emotionale Zuwendung derer, die in ihm leben.

Lieber Herr Professor Schäfer, als Sie mir vor einigen Monaten mitteilten, dass Sie mir den Preis für Verständigung und Toleranz zuerkennen wollen, habe ich mich wirklich sehr gefreut. Einerseits.
Andererseits habe ich mich auch mit einem kleinen Schrecken gefragt: "Bin ich wirklich tolerant genug?"

Meine Damen und Herren, tolerant sein wollen wir ja alle. Aus tiefer Überzeugung, ganz gewiss. Denn wir wissen: Zusammenleben setzt voraus, dass Differenzen ausgehalten und nicht gewaltsam ausgekämpft werden. Eine offene Gesellschaft kann ohne Toleranz nicht existieren. Und je vielfältiger unsere Gesellschaften werden und je enger die Welt zusammenrückt, desto mehr sind gegenseitige Achtung und gegenseitiger Respekt erforderlich. Toleranz ist also unerlässlich.

Doch ich gestehe: Tolerant zu sein, das fällt nicht immer leicht.

Zum Beispiel wenn ich mit Meinungen oder Haltungen konfrontiert werde, denen ich absolut nicht zustimmen kann, dann ist erst einmal in meinem Gefühl doch überhaupt keine Toleranz da - obwohl die Positionen durchaus nicht immer radikal sein müssen.

Oder aber wenn Pressure Groups potentielle Diskriminierungsopfer schützen wollen, indem sie Sprachverbote und rigide Regelungen aussprechen, die sich sogar auf historische Texte beziehen können, auch dann, so gestehe ich, habe ich erhebliche Schwierigkeiten mit der Toleranz – obwohl ich aus voller Überzeugung doch den Schutz von Minderheiten verteidige, wie ihn das Grundgesetz vorsieht.
Viele Menschen hier im Saal sind mir persönlich nicht bekannt. Aber ich liege wahrscheinlich nicht falsch, wenn ich davon ausgehe, dass meine Reaktionen jedenfalls dem einen oder der anderen nicht völlig unbekannt sind.

Dem Anspruch der Toleranz zu genügen, er fällt schwer, zumal in einer Zeit, in der die Verteidiger der Toleranz vor wachsenden Herausforderungen stehen.

Denken Sie an das Erstarken rassistischer, nationalistischer, islamfeindlicher oder antisemitischer Positionen gleichgültig übrigens, ob aus den Milieus einheimischer oder zugewanderter Bevölkerung.
Denken Sie auch an die Zunahme von Straftaten gegenüber homo-, trans- und bisexuellen Menschen.

Denken Sie an die wachsenden politischen Spaltungen, die Verachtung von Dialog und Kompromiss und an den Hass, die Shitstorms und Beleidigungen, die es im digitalen Raum zuhauf gibt.

Die Missachtung der Toleranz, so scheint es, ist bei manchen Zeitgenossen inzwischen sogar Programm.

Es gibt also viel zu tun. Doch in Gesprächen merke ich oft, dass längst nicht alle dasselbe unter Verteidigung der Toleranz verstehen.

Für mich jedenfalls ist Toleranz nicht gleichzusetzen mit schlichtem Gewährenlassen oder schon gar mit purer Gleichgültigkeit.

Toleranz ist auch nicht gleichbedeutend mit Akzeptanz. Es wäre nämlich eine vollständige Überforderung des Menschen, wenn er gutheißen sollte, was ihm intellektuell oder gefühlsmäßig widerstrebt. Oder wenn er als Bereicherung empfinden sollte, was er eigentlich als Belastung oder manchmal gar als Bedrohung sieht.

Toleranz ist für mich gerade dann und solange gefordert, wie es gilt, Distanz und Differenz zu überbrücken.

Sie fordert – ganz einfach und ganz schwer - zu ertragen, was stört, und zu erdulden, was zu dulden schwer fällt. Sagen wir es kurz und knapp: Toleranz ist eine Zumutung.

Und trotzdem bin ich der Meinung, dass sie erst dann enden sollte, wo intolerante Denk- und Verhaltensweisen verfassungsfeindlich sind, oder gar eine ernst zu nehmende Gefahr für die Demokratie bilden. Toleranz gegenüber Intoleranz kann dann nämlich fahrlässig und bisweilen sogar selbstmörderisch sein. Vorher ist sie nur eine schwere, manchmal ungeliebte Last – …. Lebenserschwernis.
Auch als Friedfertige zum Beispiel müssen wir tun, was uns nicht liegt: streiten. In einer anderen Etappe meines Lebens habe ich Stasi-Unterlagenbehörde geleitet. Manchmal wurde mir geraten, ich solle doch ein wenig harmonischer gucken – und Manche haben mir das Neue Testament geschickt. Es war aber eine Zeit, in der das Streiten zur Wahrheit gehörte und unbedingt notwendig war. Manchmal muss der Streit sein, wenn das Ziel eine wirkliche Versöhnung ist – und nicht nur eine Friedhofsruhe.

Und so dürfen wir in unserem demokratischen Alltag ruhig streiten. Etwa darüber, wie weit die Freiheit der Kunst reicht und wie weit die Religionsfreiheit zu respektieren ist.

Als ich vor einigen Jahren gefragt wurde, ob ich bereit wäre, eine Laudatio auf den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard zu halten. Ich habe damals sofort zugesagt, obwohl mir seine Mohammed-Karikaturen ebenso wenig gefielen wie später die Karikaturen in der französischen Zeitschrift Charlie Hebdo.

Aber: Für mich war die Laudatio ein Bekenntnis zur Meinungsfreiheit und zur Freiheit der Kunst, und damit eben zu unserer Verfassung und zur offenen Gesellschaft. Ich wollte zu diesen Grundsätzen ganz bewusst stehen, obwohl mit bewusst war, dass viele Muslime durch diese Karikaturen gekränkt waren.

Wir müssen uns bewusst machen: Kränkungen lassen sich in einer pluralen, offenen Gesellschaft niemals gänzlich vermeiden. Und es wäre fatal, wenn wir es akzeptierten, dass Grundfreiheiten zur Vermeidung von Kränkungen außer Kraft gesetzt würden. Und noch fataler ist, wenn Gekränktheit zur Begründung von Mord und Terror herangezogen wird. Toleranz, ich sagte es bereits: sie ist eine Zumutung. Und zwar für alle Seiten.

Allerdings, meine Damen und Herren, wenn wir ehrlich zueinander sind, stellen wir fest: Wann und wem gegenüber wir Toleranz einfordern oder gewähren, ist häufig subjektiv – politisch, ideologisch, religiös gebunden.

Ein Beispiel. Wir zeichnen "Schulen ohne Rassismus" aus - und das tun wir gerne, weil dort Toleranz für andere Kulturen und Gebräuche gelehrt wird. Aber gleichzeitig müssen wir erleben, dass "Du Jude" ein gängiges Schimpfwort auf manchen Schulhöfen geworden ist und Schüler gemobbt oder bedroht werden, weil sie Juden sind. Langsam ändert sich die Situation zwar. Aber sehr häufig bleibt Intoleranz noch ungeahndet, weil sie von Personengruppen ausgeht, denen wir eigentlich doch als aufgeklärte Demokraten tolerant begegnen wollen.

Ich kann es auch anders formulieren: Aus Angst, als Rassist zu gelten, schreckt so mancher vor Kritik zurück, wenn das intolerante Verhalten von Migranten ausgeht.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

es gibt Menschen, denen Toleranz immer fremd bleibt. Die sich abschotten, sich anderen Meinungen verweigern und aggressiv auf andere reagieren. Das ist traurig, aber es wird so bleiben. Es gibt andererseits auch Menschen, die Toleranz ganz einfach verströmen. Das ist wunderschön, und es wird hoffentlich ebenfalls so bleiben. Diese Menschen sind die Vorbilder, die unsere Seele nähren und uns in unserem Menschsein stärken.

Die allermeisten Menschen aber, zu denen auch ich gehöre, müssen sich eingestehen:

Wir haben Toleranz immer wieder mühsam zu erlernen.

Es hilft nichts, Widersprüche, auch Gegensätze in Feiertagsreden schönzureden. Demokratie ist spannungsgeladen, deswegen brauchen wir Toleranz, um diese Spannungen auf eine friedliche Weise auszubalancieren.

Deshalb - es bleibt wirklich nur eines: Wir müssen die Zumutung annehmen!