Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Verleihung des Leopold-Lucas-Preises

Menü Suche
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Dankesrede an der Eberhard Karls Universität Tübingen

©Universität Tübingen-Metz

Dankesrede an der Eberhard Karls Universität Tübingen

Verleihung des Leopold Lucas-Preises

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Wenn ich heute den Leopold Lucas-Preis in Empfang nehme, ist das Anlass für einen Dank aus doppeltem Grund. Es freut und bewegt mich, dass mir die Evangelisch - Theologische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen diesen Preis zuerkannt hat – in einer Reihe mit so großen Denkern und Politikern wie Karl Popper, Karl Rahner, Paul Ricoeur, Michael Walzer, dem Dalai Lama oder Richard von Weizsäcker, die diesen Preis vor mir erhielten. Es freut und bewegt mich aber umso mehr, weil ich auch an den Mann denken muss, der diesen Preis gestiftet hat.

Franz D. Lucas, geboren 1921 im schlesischen Glogau, als Jude 1938 geflohen vor den Nationalsozialisten, gestorben 1998 in London, dieser Franz D. Lucas hat die Größe besessen, im Lande derer, die für die Entwurzelung und Vernichtung seiner Familie verantwortlich waren, ein Zeichen ganz eigener Art zu setzen. Er hat einen Preis zum Andenken an seinen Vater gestiftet – an den Rabbiner Leopold Lucas, der 40 Jahre lang die traditionsreiche jüdische Gemeinde in Glogau leitete und 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt umkam.

Wir können es so sagen: Geboren wurde der Preis aus Generosität, wohl auch aus der tiefen Einsicht, dass die Erinnerung an das Böse, an millionenfaches Unrecht und millionenfachen Mord nicht in Hass, Rache und endgültige Abkehr vom "Land der Väter" münden muss. So gilt mein tiefer Dank der Weisheit eines Menschen, der hätte hassen können und stattdessen heilen wollte. Und dessen Werk sein Sohn Dr. Frank Lucas bis heute fortsetzt.

Geheimnisvoll, in wie vielen Herzen der Vertriebenen und Verfolgten, die überlebt haben, sich Versöhnungsbereitschaft ausgebreitet hat. Aber erschreckend, wie trotz der Lehren, die die Menschheit aus schuldbeladener und grausamer Vergangenheit hätte ziehen können, Menschen auch in unserer Zeit wieder verletzt, beschimpft, ausgegrenzt oder gar vernichtet werden. Und so gestatte ich mir heute, mich einem Phänomen zu widmen, das die Stigmatisierung, die Bekämpfung oder gar das Auslöschen des Anderen seit Alters her begleitet hat: dem Phänomen der Kränkung.

Meine Überlegungen können nur eine Annäherung an dieses äußerst komplexe Thema sein. Dennoch möchte ich sie mit Ihnen teilen, weil mir Kränkungen gerade heute von außerordentlicher Bedeutung erscheinen – nicht nur, wie seit eh und je, im Privaten, sondern auch in Gesellschaft und Politik.

"Es fällt schwer, heute nicht beleidigt zu sein", hieß es unlängst in einer großen deutschen Wochenzeitung. Ich zitiere: "Ein Sturm der Kränkungsgefühle tobt durch die Welt. Überall lauert ein tatsächlicher oder nur ein eingebildeter Affront." Beispiele finden sich zuhauf. Muslime fühlen sich von der westlichen Welt gedemütigt; Griechen, Polen und andere Europäer von Deutschen gegängelt; ehemalige Kolonialstaaten von den einstigen Herren im Stich gelassen; Ostdeutsche gegenüber Westdeutschen benachteiligt; weiße Amerikaner von Minderheiten oder Eliten im eigenen Land unter Druck gesetzt; Männer von emanzipierten Frauen entwertet, usw. usw. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Nicht nur, dass Politik und Gesellschaft in der globalisierten Welt vor zunehmend komplexen Sachthemen stehen. Sie kommen auch immer weniger umhin, einen Umstand zu berücksichtigen, der ausschließlich subjektiver Natur ist. Der sich mit keinem Maß objektivieren lässt, aber eine immense Kraft entfalten kann, die eine manchmal geradezu bestürzende Dynamik entwickelt.

Kränkungen sind aus der Menschheitsgeschichte nicht wegzudenken. "Wer lebt, der nicht gekränkt ist oder kränkt?" hat William Shakespeare eher rhetorisch gefragt. In der Tat: Wer lebt, der nicht schon unzählige Male beleidigt oder attackiert worden wäre – oder es sich zumindest einbildete? Wer lebt, der nicht seinerseits unzählige Male andere beleidigt oder gar attackiert hätte – und sei es auch nur in Gedanken? Kränkungen gehören offenkundig unabdingbar und von Anfang an zum Menschsein.

Sie hier, meine Damen und Herren von der Theologischen Fakultät, denken natürlich, wie ich selber auch, sofort an die Geschichte von Kain und Abel. Diese verstörende Erzählung begegnet uns schon im 4. Kapitel der Genesis. Der Herr – so heißt es in der Sprache Luthers– "sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr, und seine Gebärde verstellte sich. .... Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot". Eben noch, am Anfang der Bibel, der dramatische Beginn mit der Erschaffung der Welt aus dem Nichts, eben noch Adam und Eva im Paradies – und gleich danach: Kain und Abel, Mord und Blut, "das zum Himmel schreit". Kain wurde ein Vertriebener, Kain und nach ihm die Menschheit sollten eine immerwährende Existenz "jenseits von Eden" führen.

Kain fühlt sich gedemütigt. Warum hat Gott seinen Bruder bevorzugt? Warum hat Gott Abel mehr geliebt als ihn? Unfähig, diese Ungleichbehandlung innerlich auszuhalten, findet sich Kain seinem Grimm und seiner Wut ausgeliefert. Grimm und Wut füllen auch das Herz von Michael Kohlhaas, als der Staat ihm, dem einfachen Pferdehändler, den Schutz des Gesetzes versagt, dem klassenmäßig privilegierten Junker hingegen ermöglicht, sich seiner gerechten Strafe zu entziehen. Kaum jemand hat das so unerbittlich in Szene gesetzt wie Heinrich von Kleist: Kränkung ist hier Verletzung des Gerechtigkeitssinns.

Aber: Kränkung hat viele Gesichter. Im Kern jedoch ging und geht es immer um dasselbe: Darum, dass sich Menschen in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Selbstwert angegriffen fühlen. Dass sie sich beschämt und verletzt finden, bloßgestellt, zu wenig anerkannt, zu wenig wertgeschätzt, zu wenig berücksichtigt, zu wenig geliebt.

Kränkung ist daher immer auch Verunsicherung des Selbstwertes. Der Stich, die Enttäuschung, wenn jemand bei der Beförderung übergangen wird. Die Wut, wenn jemand ertragen muss, dass Zeitungen Mohammed-Karikaturen drucken, obwohl sie sein religiöses Gefühl verletzen. Die maßlose Rachsucht, wenn einem narzisstischen Charakter wie dem nordkoreanischen Diktator die Ehrerbietung verweigert wird. Wegen "Untreue und Respektlosigkeit" ließ Kim Jong-un seinen Verteidigungsminister vor Hunderten von Regierungsvertretern hinrichten. Kränkung – sagt der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller, sei maßgebender Mechanismus für Brutalität. Alle Täter, Terroristen ebenso wie Amokläufer, so heißt es bei ihm, "waren in irgendeiner Weise gekränkt und haben sich an der heilen Welt gerächt, die ihr Elend nicht erkannt hat."

Kränkung entsteht immer an einer verletzbaren Stelle. Sie offenbart einen Mangel. Ein Minderwertigkeitsgefühl. Eine Beschämung, die nicht überwunden ist. Eine Niederlage, die nicht vergessen ist. Manchmal ruhen diese Verletzungen in Menschen, aber auch in Volksseelen wie vernarbte Wunden – scheinbar abgeheilt, befriedet, gesundet. Und brechen dann doch wieder auf, unter Umständen noch nach Jahrzehnten oder sogar nach Jahrhunderten. Das kann Kränkungen etwas Unergründliches, Unberechenbares, nahezu Mythisches verleihen.

Tatsächlich flüchten sich Völker manchmal in die Ersatzwelt von Mythen, in Phantasie-Schutzräume gegenüber einer Realität, die ihnen unerträglich scheint. So wie die Serben, die sich in der Rolle der ewig Leidtragenden sahen, nachdem sie 1389 den Osmanen auf dem Amselfeld unterlagen. Eine stolze, christliche Nation, die sich im Kampf gegen die Muslime geopfert hatte – glorifiziert wie in diesem Lied:

Trinkt, Serben, von Gottes Ruhm

Und erfüllt das christliche Gesetz

Und selbst wenn wir unser Königreich verloren haben

So wollen wir doch unsere Seelen nicht verlieren.

Noch nach 600 Jahren konnte der serbische Präsident Slobodan Milosevic die Niederlage wachrufen, um beim Zerfall Jugoslawiens das Recht der Serben auf Dominanz und Rache zu propagieren.

Ja, Kränkung hat viele Gesichter. Aber viele Gesichter hat auch der Umgang mit Kränkung. Kränkungen können Menschen in Trauer und Depression stoßen, sie können aber bei anderen kreative Energie freisetzen und den Willen zu einer positiven Antwort auf eine negative Beeinträchtigung. Denken wir nur an Künstler, die zunächst auf Ablehnung des Publikums stießen, sich dadurch aber umso mehr beflügelt sahen, ihren eigenen Stil, ihre besondere Prägung zu entwickeln. Kränkungen können aus Menschen entschiedene Kämpfer gegen Unrecht und Diskriminierung machen, wie sie andererseits aber auch ganze Völker zu Rachefeldzügen aufbrechen lassen.

Nicht nur die Kränkung gehört also zur DNA der Menschheit. Auch der Umgang mit ihr gehört offensichtlich dazu. Revanche, Rache, Revision sind die Themen großer Werke der Literatur, angefangen von Homers "Ilias", über das Nibelungenlied bis zu William Shakespeares "Hamlet" – um nur einige zu nennen. Und ein Blick in Gegenwart und jüngere Vergangenheit lehrt uns, dass die destruktive Kraft von Kränkungen gerade in Zusammenhang mit Niederlagen weiter zu fürchten ist.

Die allermeisten Deutschen hielten die Friedensregelung von Versailles am Ende des Ersten Weltkriegs für einen "Schandvertrag": Das Land büßte ein Siebtel seines Gebietes und seine Kolonien ein und hatte hohe Reparationen zu zahlen. Außerdem wurde ihm die "Alleinschuld" am Krieg zugesprochen. Zwar gingen die Meinungen darüber auseinander, wie der Frieden durch das sogenannte "Diktat von Versailles" zu revidieren sei. Aber – so urteilt der Historiker Heinrich August Winkler - "dass (er) revidiert werden musste, darüber bestand in Deutschland Konsens seit dem Tag, an dem der Vertrag unterzeichnet wurde." Der Fortgang der Geschichte ist bekannt.

Und blicken wir in eine andere Richtung: Es war zwar keine militärische Niederlage, die Russland beziehungsweise die Sowjetunion am Ende des 20. Jahrhunderts von einer Groß- zu einer Regionalmacht, wie es manche ausdrückten, schrumpfen ließ. Aber vielleicht war die Niederlage aus eigenem Versagen für das Selbstbewusstsein noch kränkender als eine militärische Niederlage. Für Putin jedenfalls bedeutet das Ende des Sowjetreiches erklärtermaßen die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts: Das Vaterland im Zuge einer faktischen Dekolonisation geschrumpft; Russen, die als Diaspora in abgefallenen Republiken Schmähungen und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Dazu der Absturz aus der Reihe der führenden Weltmächte und die Bedrohung durch den demokratischen Virus, der sich in Nachbarländern wie der Ukraine ausbreitet.

Was Putin die Unterstützung der übergroßen Mehrheit der Russen eintrug, dürfte nicht allein der Gleichklang der Kränkungsgefühle gewesen sein. Viel mehr noch seine Fähigkeit, tatsächliche oder gefühlte Demütigungen offensiv in einen Kampf für alte imperiale Größe zu verwandeln. Mit Putin kehrten auf eine hochproblematische Weise Selbstbewusstsein und Stolz zurück: Die Überzeugung, dass Russland wieder den Status einer Supermacht erringen könnte. Die Erfahrung, dass territoriale Revisionen und alt-neue Größe möglich scheinen und Russland wieder respektiert, ja wieder gefürchtet wird.

Ähnliches erleben wir augenblicklich in der Türkei. Auch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan setzt darauf, geschrumpftes Selbstbewusstsein nach dem Untergang des Osmanischen Reiches mit Phantasien von einer neo-osmanischen Zukunft zu kompensieren. Mit Verbalattacken gegen den angeblich "verrotteten europäischen Kontinent" denunziert er die westlich- demokratisch-säkulare Gesellschaft. Mit Verweis auf gigantische Großbauprojekte und den – wenn auch ins Stocken geratenen – wirtschaftlichen Aufstieg des Landes preist er die Effizienz eines autokratischen Gesellschaftsmodells mit islamischen Ordnungstraditionen.

Das macht ihn für viele Türken so attraktiv - nicht nur in der Türkei, sondern auch bei uns. Wenn sich ein Teil der Deutschtürken der Türkei zuwendet, dürfte dies nicht nur die Folge von tatsächlicher oder imaginierter Diskriminierung in Deutschland sein. Wesentlicher noch scheint mir, dass ihnen die Identifizierung mit dem "großen Führer" einen immensen Bedeutungszuwachs verschafft. Das Gefühl mangelnder Anerkennung, das ihren Alltag hier prägen mag, wandelt sich dann in ein Gefühl der Stärke, ja der Überlegenheit, das sie gegenüber Anderen erhöht.

Zumindest zeitweilig – das zeigen Russland und die Türkei – kann der Schmerz von Kränkung überlagert werden durch die Identifizierung mit einem Ideal. Mittel- und langfristig vermögen Allmachtsphantasien die darunterliegenden Widersprüche einer Gesellschaft allerdings nicht zu überdecken – trotz Repressionen gehen Menschen in Russland schon wieder auf die Straße. Und in der Türkei, wo es eine etablierte Protestkultur gibt, werden Menschen weiter auf der Straße bleiben. Es gehört keine große Phantasie dazu vorherzusagen, dass beide Länder ohne einen selbstkritischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit und Gegenwart nicht zur Ruhe kommen werden. Zukunft entsteht aus einem derartigen Umgang mit Kränkungen nicht.

Aber auch wenn es eher die Ausnahme denn die Regel zu sein scheint: Kränkungen und Niederlagen bieten auch die Chance des Lernens – für Einzelne wie fürs Kollektiv. Es brauchte bei uns aber wohl die große Erschütterung über Unrecht, Gewalt und Mord unter nationalsozialistischer Diktatur, damit die Deutschen die Spirale der Vergeltung unterbrachen. Obwohl das Land nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal einen großen Anteil an Territorium eingebüßt und ein Fünftel der Bevölkerung die Heimat verloren hatte, fand sich keine relevante Partei, die nach dem Zweiten Weltkrieg Rache anstrebte. Aus Angst vor revanchistischen Tendenzen wurden landsmannschaftliche Zusammenschlüsse von Flüchtlingen und Vertriebenen zwar zunächst von den Alliierten untersagt. Doch die befürchtete massenhafte Radikalisierung blieb aus.

Mochte der Verlust von Heimat, Eigentum und angestammten Traditionen auch schmerzhaft sein, so wurde er doch erträglich, als Wut, Groll, Aggressivität durch Erinnern und Trauern ersetzt wurden. In dem Verzicht auf eine gewaltsame Revision der Geschichte sehe ich eine große zivilisatorische Leistung der deutschen Nachkriegsgesellschaft und fühle mich bestätigt in der Annahme: Kränkung kann bearbeitet, kann eingehegt werden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

früher galt es als Schwäche, Verletzungen und Kränkungen zu zeigen. Heute werden Kränkungen teilweise geradezu hervorgehoben, um sie – und ich zitiere noch einmal den Psychiater und Psychotherapeuten Reinhard Haller – als "Waffe für Anerkennung" einzusetzen. Der bosnische Schriftsteller Miljenko Jergović hat es nach den Balkankriegen einmal bitter so formuliert: "Es gibt keinen größeren kollektiven Genuss für eine Volksgruppe, denn als Opfer zu leben. Alle Probleme sind gelöst, denn du ... kannst jederzeit und überall um wirtschaftlichen und moralischen Kredit bitten."

Wir stehen vor einem durchaus ambivalenten Prozess: Einerseits hat der gesellschaftliche Fortschritt mit seinen Bemühungen zur Anti-Diskriminierung zahlreiche Früchte getragen. Es ist ein Gerechtigkeitsgewinn für die gesamte Gesellschaft, wenn Minderheiten gleiche Rechte haben und Teilhabe erlangen können. Wir sind sensibler geworden für Vieles, was Einzelne oder Gruppen benachteiligt oder was sie zu Abgehängten werden lässt. Beispielsweise dürfte Fragen der Geschlechtergerechtigkeit noch nie so viel Aufmerksamkeit geschenkt worden sein wie heute, und noch nie dürften Verfolgte und ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten so viel Anerkennung und Empathie erfahren haben. Denken wir etwa auch an die spontane und allgemeine Willkommenskultur im Deutschland der Jahre 2015/2016.

Gleichzeitig aber ist eine problematische Spirale in Gang gesetzt worden. Denn die Anerkennung, die der einen Gruppe zuteilwird, verstärkt unweigerlich die Bemühungen anderer Gruppen, für sich eine vergleichbare Anerkennung zu sichern. Die Folgen sind ein Wettlauf um Aufmerksamkeit, um Mittelzuweisungen, gegebenenfalls auch um Wiedergutmachung, kurz: eine Konkurrenz unter den Gekränkten.

Zudem sind die Debatten um Minderheiten zeitweilig so dominant im öffentlichen Diskurs geworden, dass sich Mehrheiten ihrerseits übergangen fühlten oder sogar angegriffen sahen. Weil sie sich beispielsweise im US-amerikanischen Wahlkampf bei der demokratischen Präsidentschaftskandidatin nicht aufgehoben fühlten, wählten zwei Drittel der weißen Wähler ohne Hochschulabschluss und 80 Prozent der Evangelikalen Donald Trump.

Von diesen und ähnlichen Gruppen wurde der gesellschaftliche Fortschritt als Kränkung empfunden, der ihnen von einem dem Zeitgeist verpflichteten Establishment auferlegt worden sei. Sie suchten und fanden eine Möglichkeit, sich zu rächen. Dieses Ereignis der jüngsten Wahl in der führenden Nation der Welt und einer der gereiftesten Demokratien hat mich mehr als alles andere bewogen, mich dem Thema Kränkung zuzuwenden.

Deutschland ist nicht Amerika, aber eine wichtige Erkenntnis nach der Entwicklung jenseits des Atlantiks sollten auch wir berücksichtigen. Unsere Gesellschaft ist vielfältiger geworden, und sie wird noch vielfältiger werden. Vielfalt bringt Neues, Belebendes, Erweiterndes. Doch über dieser Vielfalt darf das Einigende und das Miteinander einer Gesellschaft nicht in Vergessenheit geraten. Der amerikanische Geisteswissenschaftler Mark Lilla hat die Politik daher an eine demokratische Grundregel erinnert: "Nationale Politik" – so schrieb er – "dreht sich in gesunden Zeiten nicht um ‚Differenz’, sondern um Gemeinsamkeiten": Sie dreht sich um Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen Grundlagen und Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen Ziele. Um das, was den Interessen der Mehrheit entspricht oder nahe kommt und von der Minderheit akzeptiert werden kann und akzeptiert werden sollte. Gerät dies aus dem Blick, gewinnen Populisten nahezu automatisch Zulauf.

Ich kann mir keine Gesellschaft vorstellen, die imstande wäre, jede Art von Unterschied auszugleichen. Und ich möchte mir keine Gesellschaft vorstellen, die in radikaler Sensibilität bestrebt ist, jede Art von Kränkung von vornherein zu vermeiden und eine generelle Kränkungsverschonung durchzusetzen. Und schließlich schon das Benennen von Differenz zu sanktionieren beginnt.

Ich fürchte, eine derartige Gesellschaft wäre nicht nur nicht vollkommen, sondern eine Erziehungsdiktatur. Verletzende psychische Reaktionsmuster, wie sie die Menschheit seit Kain und Abel begleiten, können zwar eingehegt, aber niemals gänzlich wegtrainiert werden. Wir schaffen sie nicht aus der Welt, wenn wir sie aus der Diskussion ausklammern. Wir schaffen nur Menschen, die Selbstzensur üben, weil sie Angst haben müssen, dem verordneten Leitdiskurs nicht gerecht zu werden.

Außerdem frage ich mich: Warum soll es sinnvoll sein, Menschen ausgerechnet in einer Zeit, in der Verrohungen, Beleidigungen und Beschimpfungen zunehmen, so übersensibel zu sozialisieren, dass ihre Frustrationsschwelle ständig sinkt? Etwa wenn sie wie in US-Universitäten durch sogenannte "Trigger- Warnungen" Texten von vornherein aus dem Weg gehen können, in denen beispielsweise von brutaler Gewalt und Rassismus die Rede ist.

Ganz abgesehen davon, dass ein großer Teil der Weltliteratur auf dem Index landen würde, zielen derartige Anstrengungen meines Erachtens in die falsche Richtung. Statt Menschen in einer Komfortzone möglichst vor Kränkungen zu bewahren, sollten umgekehrt ihre Abwehrkräfte und ihr Selbstbewusstsein gestärkt werden, damit sie sich den Kränkungen gewachsen sehen. Damit sie so souverän reagieren wie einst der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin. "I‘m not a nigger", sagte er einst in einem Interview. "I’m a man. If you think, I am a nigger, that means, you need it. And you have to find out, why.“

Baldwin will sich nicht als Gekränkter definieren. Denn der, der sich viktimisieren lässt, macht sich übermäßig abhängig von der Anerkennung seiner Umgebung. Ja, die Gesellschaft soll Diskriminierten Hilfe zukommen lassen, soll ihnen Anerkennung zollen und Ungleichheit abbauen. Aber für mich ist und bleibt die Stärkung des Selbstbewusstseins die beste Methode, damit das, was Menschen kränkt und beleidigt, möglichst wenig Macht über sie gewinnt. Damit sie eine stabile Identität gewinnen und ihre Würde und ihre Gestaltungsmöglichkeiten verteidigen.

Wir wissen nicht, ob der Rabbiner Leopold Lucas in Glogau Schriften des Psychoanalytikers Sigmund Freud aus Wien gelesen hat. Aber das, was Lucas den Juden als Antwort auf die verstärkten antisemitischen Strömungen am Ende des 19. Jahrhunderts empfahl, hätte Sigmund Freud die Stärkung des Ich genannt. In der "Zeit der Bedrängnis" gründete Leopold Lucas die "Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums". Keineswegs nur gedacht für Forschungen in der Studierstube, sondern orientiert an den praktisch-politischen Erfordernissen: Um die Selbstachtung und das Selbstbewusstsein von Juden und übrigens allen Glaubenden zu fördern, um ihnen Schutz vor Anfeindungen zu bieten und um Argumente gegen antisemitische Parolen zu liefern.

Für mich ist seine Reaktion beispielgebend. Das, was eine Gesellschaft in ihrem Innern stark macht, ist die Stärke ihrer Mitglieder. Ist ihr Selbstvertrauen. Ist ihr Zutrauen zu sich selbst, dazu, in einer sich ständig verändernden Welt bestehen zu können. Es ist auch eine daraus erwachsende emotionale und intellektuelle Sicherheit im Umgang mit der Welt. Wer es vermag, erst einmal einen Schritt zurückzutreten und das, was ihn erniedrigt, verletzt, gekränkt hat, quasi von außen und kühl zu analysieren - übrigens auch die Schwäche des Kränkenden -, der schafft die besten Voraussetzungen, um wieder souverän handeln und wieder Herr der Lage werden zu können.

Wie hilfreich eine derartige Versachlichung im privaten Bereich sein kann, hat jeder von uns schon erfahren. Deeskalation durch Versachlichung empfiehlt sich aber auch und ganz besonders in der Politik. Denn wer nach der Devise handelt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, heizt die Kränkungsspirale nur an und riskiert, dass sich die destruktive Dynamik verselbständigt.

Meine Damen und Herren,

eingangs habe ich bereits darauf verwiesen, dass meine Überlegungen nicht mehr als ein Anstoß für eine Orientierung auf einem dauerhaft aktuellem und auch schwierigen Gebiet sein können. Aber wir erkennen: Es bleibt eine große und unerlässliche Aufgabe, dieses Selbstwertgefühl, diese Selbstbewusstheit in möglichst allen Individuen zu stärken und zu entwickeln. Also keine wirklichkeitsfremde Abschirmung gegen jede Kränkung, sondern die Ausstattung der Menschen mit Abwehrkräften, mit Resilienz.

Das ist die Aufgabe aller Menschen, die Menschen erziehen.

Ich danke Ihnen – in der Hoffnung, dass Ihr Interesse genügend Anerkennung fand und dies für Sie kein kränkender Abend war