Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Münster

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Joachim Gauck als Redner an der Universität Münster

©Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Rede in der Aula im Schloss Münster

Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Münster

11. Dezember 2017, Münster

Es hat mich sehr bewegt, wie schön diese großartige Universität diesen Festakt verbunden hat mit den Kontakten, die ich früher hierher hatte, auch in die Stadt und dieses Haus. Ich bin von Herzen dankbar, dass Sie, Magnifizenz, und Sie, Spectabilis, diese Dinge gewürdigt haben. Ich komme hierher und fühle mich zu Hause. Wie wunderbar! Und natürlich, lieber Herr Professor von Scheliha, haben Sie daran großen Anteil. Wissen Sie, es ist so: Wenn man geehrt wird, kann es geschehen, dass man verstanden wird – und dann wird das Ganze zum Glück. Wenn aus vielen Einzelheiten ein Ganzes wird; wenn das Bild mit den ganzen Facetten sich wieder zusammenfügt zu einem Ganzen. Das habe ich nicht oft empfunden. Deshalb ist es ein geradezu adventlicher Dank, den ich Ihnen aussprechen möchte. Natürlich freut mich auch die Stringenz der Darlegungen. Ich habe in meiner Tätigkeit als Präsident gar nicht so oft über Freiheit gesprochen, wie es mir nachgesagt wurde. Das habe ich früher getan. Ich habe dann sehr viel mehr über diese spezielle, für mich sehr zentrale Bedeutung von Freiheit gesprochen, über Verantwortung. Aber natürlich lebt das Ganze aus dem Atem der Freiheit. Und dass das hier so preiswürdig empfunden wird, das ist etwas, wofür ich überaus dankbar bin. Es gefiel mir auch, dass Sie ohne Grenzüberschreitungen die Schnittstelle von Protestantismus und Politik beschrieben haben in einer genauen, zurückhaltenden und stimmigen Weise.

Ich will in dieser Stadt des Westfälischen Friedens heute mit Ihnen über Toleranz nachdenken: Toleranz, dieses Lebensprinzip, diese Haltung und Tugend, ohne die ein menschliches Miteinander in einer Gesellschaft nicht gelingen kann und durch die eine Gesellschaft bewahrt werden wird. Bei einem meiner Besuche bin ich einmal am Grab des Bischofs Clemens August Graf von Galen gewesen, der so oft schon in meinem Kopf war, weil ich mich mit der Vergangenheit und ihren Lasten vielfältig auseinandergesetzt habe. Aber irgendwann stand ich dann dort und dachte: Ja, das ist eben auch Münster – in dieser Gegenwart von unaufgebbaren Werten und Haltungen, die in der Tradition weitergegeben werden. Das bringt dann Menschen wie mich auch in einer geographisch fremden Gegend dazu, Heimat zu empfinden.

Ich will, wenn ich über Toleranz mit Ihnen nachdenke, auch darüber sprechen, dass ich das Glück habe, Präsident in einem Land geworden zu sein, in dem Toleranz wirklich verpflichtend geworden ist. Das war ja nicht selbstverständlich, für die älteren Menschen jedenfalls nicht. Ein Stück von toleranzbereiter akademischer Welt und gesellschaftlicher Umgebung war zu erkennen und zu besichtigen, als ich hier das Zentrum für Islamische Theologie besucht habe. Schon seit einem Jahrzehnt untersucht ein bundesweit einzigartiges Exzellenzcluster Ihrer Uni das Verhältnis von Religion und Politik, und für die nächsten Jahre ist der Aufbau eines bundesweit einzigartigen Campus der Theologie geplant. Katholisch-theologische Fakultät, Evangelisch-theologische Fakultät und das Zentrum für Islamische Theologie unter einem Dach. Wenn man da gerade nicht ein Institut für Synkretismus daraus macht, soll es wohl gutgehen.

Das friedliche Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen zu fördern, diente auch die Verleihung des Internationalen Preises des Westfälischen Friedens hier in Münster an den König des Haschemitischen Königreichs Jordanien, Abdullah II., an der ich als Bundespräsident teilnehmen durfte. Diese Begegnung hat uns allen wohlgetan, weil wir mit ihm einen Menschen begrüßt haben, der dafür wirkt, dass Jordanien in einer Region der Gewalt und des Terrors, der Vertreibung und des Zerfalls staatlicher Ordnung doch ein stabilisierender Faktor geblieben ist. Er, der König, und die maßgeblichen Figuren in dem haschemitischen Königreich stehen dem Fundamentalismus entgegen und verteidigen die Koexistenz aller Religionsgemeinschaften. Der Nahe Osten allerdings, so höre ich immer wieder und so wird es uns ja aktuell bewusst, brauche einen Westfälischen Frieden. Deshalb habe ich in meiner Laudatio für Abdullah II. vor gut einem Jahr gesagt: „Wenn wir darunter die Schaffung staatlicher und zwischenstaatlicher Voraussetzungen für religiöse Toleranz und Koexistenz verstehen, sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, solch einen Friedensschluss zu fördern.“
Der Friedensvertrag von Münster und Osnabrück vom 24. Oktober 1648 regelte Machtfragen und Verfassungsfragen neu; und er erklärte die Gleichberechtigung von katholischen und evangelischen Konfessionen. Auch wenn er kleinere religiöse Gruppierungen noch von der Toleranz ausschloss und die konfessionelle Polarisierung in der Realität keineswegs sofort verschwand, so spielt der Westfälische Frieden in der Geschichte der Toleranzidee doch eine ganz herausragende Rolle. Denn die Idee der Toleranz, ursprünglich verbunden mit der Geschichte der christlichen Kirchen, löste sich mehr und mehr aus dem religionspolitischen Kontext und wurde zum allgemeinen Prinzip in einem demokratischen Verfassungsstaat.

Deshalb will ich heute einige Überlegungen zu dieser Haltung, dieser Tugend der Toleranz, die höchstes Lob erfährt, aber deren Befolgung immer wieder anzumahnen ist, hier vornehmen. Es geht um die Haltung der Toleranz, die als unerlässlich für ein friedliches Zusammenleben der Verschiedenen erklärt wird, die den Einzelnen aber gleichzeitig auch immer wieder herausfordert. Sie kostet ihn Überwindung.

Sehr geehrte Damen und Herren,

schon in der Erziehung, angefangen bei den Kleinsten im Kindergarten, wird vermittelt: Achte deinen Nächsten. Respektiere den, der anders aussieht, der anders denkt, handelt, fühlt oder auch anders betet als du. Im Prinzip wissen wir nämlich: Gegenseitige Achtung und gegenseitiger Respekt sind umso mehr erforderlich, je vielfältiger unsere Gesellschaften werden und je enger die Welt zusammenrückt.

Das gefällt nicht jedem von uns. Viele suchen nach einer alten, vielleicht wieder zu gewinnenden Homogenität. Eine starke Homogenität mag eben denjenigen beheimaten, der nach Einheit mit Seinesgleichen sucht. Aber starke Homogenität, wie sollte sie denn in unserer globalisierten Welt wieder hergestellt werden? Sie kann doch kaum mehr existieren, außerdem würde sie unsere Toleranzfähigkeit mindern. Sie würde Abgrenzung und Ausgrenzung, manchmal in offen rassistischer Form, hervorbringen. Nur wenn Differenzen ausgehalten und nicht in einem unter Umständen gewaltsamen Kräftemessen entschieden werden, ist ein friedliches Zusammenleben möglich. Eine offene Gesellschaft und eine friedliche Weltgemeinschaft können ohne Toleranz nicht existieren.
Allerdings habe ich den Eindruck, dass Toleranz trotz politischer Deklarationen und vielfältiger pädagogischer Bemühungen, die Ihnen hier im Saal vertraut sind, nicht zu-, sondern abnimmt. Fundamentalisten und Terroristen sowie Diktatoren und Autokraten verschiedener Couleur reagieren gegenüber dem anderen – dem Fremden, dem politischen Gegner, dem Andersgläubigen – mit Verleumdungen und Zensur, Berufsverboten und Verhaftungen, mit Anschlägen, militärischer und polizeilicher Gewalt, nicht selten mit Entführungen und der Vergewaltigung von Frauen. Das Fernsehen bringt uns die Schreckensnachrichten fast jeden Abend ins Haus.

Selbst in der demokratischen Gesellschaft hat mancherorts Toleranz einen zunehmend schweren Stand. Denken Sie etwa an das Erstarken rassistischer, nationalistischer, islamfeindlicher oder antisemitischer Positionen – gleichgültig, ob sie aus den Milieus einheimischer oder zugewanderter Bevölkerung kommen – oder denken Sie  an die Zunahme von Straftaten gegenüber homo-, trans- und bisexuellen Menschen auch bei uns in Deutschland. Denken Sie auch an die wachsenden politischen Spaltungen, die wir ja in nahezu allen westlichen Gesellschaften sehen, auch an den Hass, die Shitstorms und Beleidigungen im digitalen Raum.

So erscheint dann das Plädoyer für Toleranz so manchem wie ein weltfremdes Ideal zu werden – gut gemeint, aber realitätsfern. Belege für diese Skepsis sind leicht zu finden: Im Kopf sind zwar fast alle Deutschen bereit, ein Loblied auf die Toleranz zu singen – wie es in ihren Herzen aussieht, steht allerdings manchmal auf einem anderen Blatt. Regelmäßig ergeben Umfragen, dass sich die große Mehrheit der Deutschen für tolerant hält, doch gleichzeitig ergeben andere Umfragen, dass sich intolerante Einstellungen in einem Maße halten, die dieser Selbstwahrnehmung widersprechen. Schwulenehe: Da stimmen über 70 Prozent der Deutschen im Prinzip zu, aber ein schwuler Schwiegersohn? Das wäre für 40 Prozent der Menschen ein Problem. Flüchtlinge: Selbstverständlich hat Deutschland im Prinzip die Pflicht zum Schutz von Bedrohten, aber ein Flüchtlingsheim in meiner Nachbarschaft? Das lehnen viele ab.

Toleranz kostet also oft eine starke innere Überwindung, weil sie scheinbar Unvereinbares vereinbaren soll: Respekt ausgerechnet für jene Mitmenschen, deren Religion oder Meinung oder Lebensstil wir nicht teilen, teilweise sogar ausdrücklich falsch oder bedenklich finden und im ideologischen Disput bekämpfen möchten? Toleranz fordert – ganz einfach und ganz schwer – zu ertragen, was stört, und zu erdulden, was zu dulden schwer fällt. Der Politikwissenschaftler Rainer Forst hat es auf die treffende Kurzformel gebracht: Toleranz ist eine Zumutung.

Toleranz ist also nicht gleichzusetzen, jedenfalls wenn wir genau hinschauen und begrifflich exakt sein wollen, mit Offenheit. Toleranz bedeutet auch nicht schlichtes Gewährenlassen oder gar pure Gleichgültigkeit. Toleranz ist auch nicht gleichbedeutend mit Akzeptanz. Es wäre eine vollständige Überforderung des Menschen, wenn er gutheißen sollte, was er zwar duldet, was ihm intellektuell oder gefühlsmäßig aber widerstrebt. Oder wenn er als Bereicherung sehen sollte, was er eigentlich als Belastung oder gar Bedrohung empfindet. Selbst in Fällen, in denen ich eine andere Meinung tatsächlich wertschätze, bleibt doch jene Differenz, die mich meiner eigenen Einstellung den Vorzug geben lässt – ansonsten stünde diese ja beständig zur Disposition. Toleranz ist also eine Tugend, die uns wirklich viel abverlangt.

Voltaire sah sich jedenfalls veranlasst, Gott in seinem „Gebet um Toleranz“ um Beistand für diese große Zivilisationsleistung zu bitten. Ich zitiere ihn: „Gib, dass diejenigen, die am hellen Mittage Wachslichter anzünden, um Dich zu ehren, diejenigen ertragen, die mit dem Licht Deiner Sonne zufrieden sind; gib, dass diejenigen, die ihr Kleid mit einer weißen Leinwand bedecken, um zu sagen, dass man Dich lieben muss, diejenigen nicht verabscheuen, die eben dasselbe unter einem Mantel von schwarzer Wolle sagen.“

Ja, wie viel Differenz, wie viel Dissonanz halten wir aus? Wie viel Differenz, wie viel Dissonanz halte ich aus?

Vor einigen Jahren wurde ich gefragt, ob ich bereit wäre, eine Laudatio auf Kurt Westergaard zu halten, jenen dänischen Karikaturisten, der wegen seiner Mohammed-Zeichnungen Morddrohungen erhalten und ein Attentat überlebt hatte; er steht beständig unter Polizeischutz. Ich habe sofort zugesagt, obwohl mir seine Karikaturen ebenso wenig gefielen wie später die Karikaturen in dem französischen Magazin Charlie Hebdo. Aber für mich war die Laudatio ein Bekenntnis zur Meinungsfreiheit und zur Freiheit der Kunst, und damit zu unserer Verfassung und zur offenen Gesellschaft. Nach wie vor bin ich davon überzeugt: Eine offene Gesellschaft gibt allen dieselben Rechte, zum Beispiel auch das der Religionsfreiheit. Aber sie mutet allen auch gleichermaßen zu, mit Kritik, mit Streitkultur, sogar mit Satire und unter Umständen sogar mit Beschimpfungen und Schmähungen zu leben und auch Kränkungen zu erdulden. Gekränktheit verleiht nicht das Recht, die Freiheiten der anderen zu missachten. Wer es nicht lernt zu ertragen, dass andere andere Auffassungen vertreten, der hat es schwer, in einer Demokratie anzukommen. Erst recht und schon gar nicht lässt sich aus Gekränktheit ein Recht auf Mord und Terror ableiten.

Deutschland hat aufgrund seiner Vergangenheit eine besondere Sensibilität gegenüber Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sowie gegenüber völkischem und nationalistischem Denken entwickelt. Es ist gut, dass es keine Toleranz gibt gegenüber jenen, die Anschläge auf Flüchtlingsheime verüben, die Ausländerhass verbreiten oder den Holocaust leugnen. Es ist auch gut, dass in unserer Gesellschaft eine hohe Hemmschwelle herrscht gegenüber allem Tun, das andere diskriminiert oder gar physisch verletzt – dafür haben wir gute Gründe, nicht zuletzt verinnerlicht als Lehre aus unserer Geschichte.
Nicht selten erlebe ich allerdings, dass in unserer Gesellschaft mit zweierlei Maß gemessen wird. Aus einer falsch verstandenen Toleranz heraus erhalten Ein- und Zugewanderte nicht selten einen kulturellen Rabatt. So ist beispielsweise durch die Aussagen von Hunderten von Frauen belegt, dass die sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht von Nordafrikanern und Arabern aus dem Nahen Osten ausgingen. Wie oft aber hörte ich danach auch das Argument, wer die jungen Ausländer beschuldige, würde eine kollektive Stigmatisierung betreiben – und das sei rassistisch. Manche verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass sexuelle Übergriffe ein Phänomen „des Mannes an sich“ seien; meines Erachtens eine Flucht aus einer ganz konkreten – teils kriminellen – Lebenssituation. Ideologisch begründeter Eskapismus.

Wer den Blick so von der ganz konkreten Situation weglenkt, relativiert meines Erachtens nicht nur konkrete Schuld. Er verzerrt auch das Bild der Wirklichkeit und verhindert eine adäquate Lösung. Als nicht hilfreich für die Entwicklung einer gemeinsamen Zukunft von Einheimischen und Eingewanderten erlebe ich auch jene Einheimischen, die, um nicht wegen einer Kritik an Zugewanderten der Diskriminierung oder gar des Rassismus bezichtigt zu werden, ihre Kritik nur hinter vorgehaltener Hand äußern oder heimlich im Wahllokal ihr Kreuz hinter Protestparteien machen. Das hat für mich etwas mit Rückzug zu tun, und ein derartiger Rückzug hat für mich nichts mit Toleranz zu tun, wohl aber viel mit unfruchtbarer Konfliktvermeidung. Das Ergebnis liegt dann auf der Hand: Toleranz gegenüber Intoleranz befestigt in manchen Zuwanderermilieus althergebrachte hierarchische Strukturen und althergebrachtes Ressentiment – wie man an der Behandlung der weiblichen Bevölkerung dieser Milieus erkennen kann.

Es hat sehr lange gedauert, bis in unserer Öffentlichkeit neben dem Antisemitismus, der in unguter europäischer Tradition meistens von Rechtsradikalen ausgeht, auch jener Antisemitismus ins Blickfeld geriet, der seinen Ursprung in den Ländern des Nahen Ostens hat. Meist gelangten nur einzelne eklatante Fälle in die Öffentlichkeit: Etwa als Rabbi Alter in Berlin auf offener Straße von muslimischen Jugendlichen geschlagen wurde. Oder als jüdische Eltern in Berlin an die Öffentlichkeit gingen, weil ihr Sohn massiv auf einer Schule gemobbt, bedroht und attackiert wurde. Dabei ist das Wort „Jude“ unter den Jugendlichen in einigen Berliner Stadtteilen längst gängiges Schimpfwort und Israel der allseits verfluchte Staat geworden.

Arye Shalicar weiß darüber zu berichten. Er wuchs im Berliner Wedding auf und war solange akzeptierter Teil einer Straßengang, wie er aufgrund seiner dunklen Haut und schwarzen Haare als Araber durchging. Sobald er sich jedoch als Jude outete, wurde er gemieden, beschimpft und körperlich angegriffen. Und wenn er zu seiner Freundin ging, lief er an einer Hausfassade vorbei, an der stand in großen Lettern: „Don’t worry, be Arab and kill Israelis“. Er wusste: Es waren seine ehemaligen Freunde, die diese Graffiti gesprüht hatten. Heute lebt Shalicar in Israel.

Gerade Menschen aus Einwandererfamilien haben mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass wir um der Demokratie, um des Rechtsstaats und um der Toleranz willen Intoleranz auch unter Zugewanderten nicht verschweigen dürfen. Sie haben mich auch gelehrt, dass eine Konstellation, in der sich eine Seite durchgängig zum Opfer erklärt, um sich damit moralisch unangreifbar zu machen versucht, dass das in eine Sackgasse führt. Toleranz muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Wer Toleranz einfordert, hat seinerseits auch Toleranz zu gewähren.

Jetzt spreche ich einmal über Raed Saleh, einen Berliner, geboren als Palästinenser im Westjordanland, und heute Fraktionsvorsitzender der Berliner SPD. Er hat es wunderbar auf den Punkt gebracht: Wer hier in Deutschland ein Minarett bauen dürfe, der müsse auch respektieren, wenn sich zwei Männer auf der Straße küssen. Jetzt möchte ich mir einmal vorstellen, wie in seinem Herkunftsmilieu – wie gesagt, er ist geboren in Palästina – ein solcher Satz ankommt. Aber er zeigt uns: Sei nicht so leise mit deiner aufklärerischen Meinung. Fürchte dich nicht, geh‘ raus und wage den Konflikt!

Meine Damen und Herren,

ich will hier nicht stehen ohne auch an meine eigene Lebensgeschichte zu denken. Wenn ich über Toleranz spreche, muss ich natürlich auch über die Situation in meinen ersten Lebensjahrzehnten sprechen – in der DDR. Es war dort vor allem die staatlich praktizierte Intoleranz, die das Denken und Tun der Bürger einengte, ihre Vielfalt unterdrückte, ihre Phantasie lähmte, sie häufig in Anpassung beziehungsweise in den Untertanengeist trieb; oder andere natürlich auch ins Aufbegehren.

In den letzten Jahren erfahre ich nun allerdings, wie das große, vielgestaltige Feld der Demokratie auch durch gesellschaftliche Intoleranz jedenfalls beschnitten werden kann, und zwar durch eine gewisse Intoleranz, die im Namen des Guten und Gerechten auftritt. An die Stelle von politischer Ideologie oder Religion ist bei manchen Debattenteilnehmern als Leitschnur eine häufig zeitgeistgeprägte Moral getreten; auch sie duldet nur sehr schwer andere Götter neben sich.

Zunächst erschien mir zum Beispiel eher kurios, was sich in den fernen USA ereignete. Wie kann es sein, dass Romane aus dem 18. oder 19. Jahrhundert aus dem Kanon einer Universität gestrichen werden, weil Studenten sich durch die Sprache oder die Art der Darstellung verletzt, psychisch überfordert oder gar traumatisiert fühlen? Wie kann es sein, dass Weißen, z.B. bei bestimmten kulturellen Werten, abgesprochen wird, sich zu Schwarzen zu äußern, zu schwarzen Problematiken, weil es als eine Art kultureller Vereinnahmung, als Übergriffigkeit empfunden werden könnte?

Seit Längerem ist der Druck, der von den Forderungen der Politischen Korrektheit ausgeht, auch in unserem Land zu spüren. Auch bei uns gibt es immer mehr Versuche, die Sprache etwa von angeblich diskriminierenden Wörtern zu „reinigen“ und Themen und Thesen auszugrenzen, die Minderheiten verletzen könnten. Mir ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass wir vor einem durchaus ambivalenten Prozess stehen. Einerseits haben die Bemühungen zur Antidiskriminierung in unserer Gesellschaft zahlreiche Früchte getragen. Das finde ich auch gut. Ich will dabei nochmal auf das Beispiel eingehen, das in der Laudatio schon erwähnt wurde. Ich spreche über die Zeit der Flüchtlingsaufnahme. Absolut dominant und fast euphorisch wurde da eine Willkommenskultur gefeiert. Ich war Teil derselben, ich war froh, dass wir uns gegen jene gestellt haben, die aus fremdenfeindlichem Ressentiment heraus handeln. Die Wirklichkeit aber, die uns mit diesen Zustrom begegnete, die hätten wir auch aushalten können, wenn wir nicht so euphorisch gewesen wären, wenn wir die immanenten Widrigkeiten, die einer solchen Zuwanderung in dieser Größenordnung nun mal inhärent sind, miteinander besprochen hätten, wenn wir die ganze Bandbreite von Gedanken und Meinungen miteinander geteilt hätten. Denn diese Demokratie ist nicht so schwach, dass sie offene Worte und Debatten fürchten müsste. Das ist sie wahrlich nicht. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns klarmachen, dass wir vor einem ambivalenten Prozess stehen, wenn wir die Weiterentwicklung der Gesellschaft, etwa in Richtung Antidiskriminierung, betrachten. Es ist doch wunderbar, dass unsere Gesellschaft sensibler geworden ist für vieles, was Einzelne oder Gruppen einst benachteiligt oder zu Abgehängten gemacht hat. Beispielsweise dürfen religiöse, ethnische oder sexuelle Minderheiten in westlichen Gesellschaften noch nie so viele Rechte besessen haben wie heute. Niemals würde ich diese Fortschritte zu einer freien und gleichberechtigten Entwicklung aller missen wollen.

Gleichzeitig aber erscheint mir bei dieser Entwicklung auch einiges bedenklich. Ich kann mir keine freie Gesellschaft vorstellen, die imstande ist, jede Art von Unterschied auszugleichen und jede Art von Kränkung zu vermeiden, sozusagen zu löschen. Mir erscheint dann immer im Hinterkopf auch, ob ausgesprochen oder nicht, das Ideal einer gereinigten Gesellschaft, einer anderen Gesellschaft, einer ganz anderen Gesellschaft. Deshalb möchte ich mir auch keine Gesellschaft vorstellen, in der letztlich das subjektive Empfinden darüber entscheidet, was im öffentlichen Diskurs zugelassen und was untersagt ist, und aus Angst, jemand könnte sich verletzt fühlen, das Feld des Sagbaren immer weiter eingegrenzt wird.

Entschuldigen Sie, dass ich diese unangenehmen Dinge hier mit Ihnen bespreche. Ich hätte einfach auch nur sagen können: „Toleranz ist schön“. Ich bin wirklich eng verbunden mit den Milieus, die die Geschichte deutscher Schuld intensiv bearbeiten, die Vergangenheitsaufarbeitung betrieben haben und dies bis heute tun – schmerzhafte, enorm wichtige Arbeit. Mir ist auch aus meiner kirchlichen Zeit bewusst, dass ich manchmal gedacht habe: „Also wenn Du das Argument benutzt, dann stehst Du eigentlich auf der falschen Seite.“ Aber wenn ich mich so weiter einengen würde und immerfort einen Sensor anschalte, der schaut, was geht jetzt gerade, dann würde eine Phase von Selbstzensur beginnen. Genau das befördert dann das, was ja eigentlich verhindert werden soll. Ich treibe dann Menschen, die vielleicht meine offene Meinung ganz gut gebrauchen könnten, auf die Seite von Nationalisten oder Populisten, weil sie sich von der politischen Mitte in ihren Bedenken nicht aufgehoben fühlen. Viele Wahlergebnisse belegen das.

Ich habe mich sehr gefreut, lieber Herr von Scheliha, dass Sie gespürt haben, was meine Absicht war. Als ich angesichts der heißen Debatten um die Art und Weise wie wir mit den Zuwanderern, den Flüchtlingen umgehen, gesagt habe: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Ich glaube nicht, dass unsere Hilfsmöglichkeiten heute und morgen schon an ihre Grenzen gekommen sind. Ich möchte nicht missverstanden werden. Aber wir müssen auch darüber reden, was von der Mehrheit unserer Bevölkerung akzeptiert wird. Denn die Politik braucht für ihre Entscheidungen die Unterstützung von Mehrheiten und sie kann diese Mehrheiten nur erlangen, wenn sie mit der Bevölkerung offen darüber redet, was alles in einer bestimmten Problemlösung und mit einer bestimmten Haltung verbunden ist. Ich kann Ihnen sagen, wir haben eine wunderbare Bevölkerung.

Unser Land ist durchzogen von einem Netzwerk des Guten und der Guten. Wir sind stärker als die, die all das ablehnen und die uns zurückführen wollen in einen altertümlichen Nationalismus oder in eine Ablehnung des Fremden. Wir sind doch viel weiter. Warum müssen wir uns ängstlich in unseren öffentlichen Debatten verhalten, als sei die Demokratie in Deutschland jederzeit in der Gefahr zu ersterben? Nein, wir sind nicht Weimar, wir sind eine starke Demokratie! Deshalb brauchen wir einen weiten Debattenraum, der nicht eingegrenzt sein, sondern offen, deutlich sein soll. Er soll Streit für Normalität halten. Ich kann nicht anders als mich mit bestimmten Vertretern des politischen Milieus, egal ob es rechts oder links ist, zu streiten. Ich bin zu empört über manche ihrer Grundaussagen. Ich finde, dass wir diesen Streit nötig haben, dass wir auch streiten können, wenn wir bestimmte Regeln einhalten.

Ich bin durchaus der Meinung von Timothy Garton Ash, der von einer „robusten“ Art der Zivilität spricht. Er möchte nicht, dass wir uns vorschnell ängstigen und so tun, als wäre eine gewisse Deutlichkeit oder Streitkultur, eine gewisse Robustheit der Tod unserer Demokratie. Diese größere Bandbreite in Debatten muss nicht automatisch das Ende unserer Zivilität bedeuten. Ja, wer sind wir denn? Wo sind denn die großen überzeugenden Gegenentwürfe, vor denen wir davonlaufen müssten, die wir gar fürchten müssten? Es gibt sie doch nicht. Sehen Sie irgendein Gesellschaftskonzept, das Mehrheiten verführen könnte, dort hinzugehen, wo die Demokratie weit weg ist? Ich sehe das nicht. Aus diesem Grunde habe ich es im Laufe meiner Tätigkeit und meiner Präsidentschaft Schritt für Schritt gelernt, dass wir nicht eines schnellen Todes sterben, auch unsere Demokratie nicht, wenn unsere – auf dem Boden des Grundgesetzes geführten – Debatten deutlicher, facettenreicher, manchmal auch härter, jedenfalls robuster sind.

Lassen Sie uns aber beständig, in welcher Tonlage auch immer, für die liberale offene Gesellschaft werben: auch bei Menschen, die Meinungen vertreten, die wir nicht teilen, die uns rückständig oder engstirnig erscheinen. Echte Überzeugung kann nicht durch moralischen Druck oder gar durch Sprechverbote erzwungen werden. Echte Überzeugung kann nur aus innerer Einsicht erwachsen.

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt auch Situationen, in denen Argumente nicht mehr greifen, in denen intolerante Denk- und Verhaltensweisen nicht nur verfassungsfeindlich sind, sondern auch zu einer Gefahr für die Demokratie werden. Deswegen wurde das Verfassungsgericht angerufen, um über ein mögliches Verbot der NPD zu entscheiden. Deswegen haben wir zu Recht ein waches Augen auf alle Extremisten, kommen sie von Rechts, von Links oder aus dem islamistischen Spektrum. Deswegen müssen Gerichte auch darüber befinden, wie mit gewaltbereiten Islamisten zu verfahren ist, die in unserem Land den Dschihad predigen oder die aus den Gebieten des IS zurückkehren.

Ich denke, dies sollten wir in unseren Diskussionen stärker bedenken: Nicht die Toleranz an sich ist der Wert, sondern die Toleranz als Teil eines Wertekonzepts, das das Humanum schützt und stützt. „Wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen“, so hatte bereits der Philosoph Karl Popper geschrieben, „wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“

Sehr geehrte Damen und Herren,

es gibt Menschen, denen Toleranz immer fremd bleibt, die sich abschotten und aggressiv auf andere reagieren. Das ist traurig, aber das wird so bleiben. Es gibt andererseits aber auch Menschen, die Toleranz ganz einfach verströmen. Das ist wunderschön, und es wird ebenfalls so bleiben.

Und meine Erfahrung lehrt, dass Menschen in der Regel umso toleranter sein können, je mehr sie in sich selbst ruhen. Denn je stärker ihr Selbst ist, umso weniger handeln sie aus Ressentiment, Unsicherheit oder Aggression, sondern aus freier, schöner Entscheidung. In der Regel sind es auch Menschen mit einem starken Selbst, die nicht über jeden Selbstzweifel erhaben sind und ahnen, dass die Wahrheit nicht immer auf ihrer und die Fehleinschätzung nicht immer auf der anderen Seite liegt. Es sind Menschen, die trotz aller Differenzen zu anderen ganz tief in ihren Herzen die Sehnsucht nach Verständigung und ein tiefes Wissen um die Friedensfähigkeit des Menschen in sich tragen.

Lassen Sie mich enden mit eben diesen Wünschen nach Respekt für die Freiheit des anderen, wie sie schon Voltaire in seinem Gebet für Toleranz vor 250 Jahren ausdrückte, als er Gott bat: „Du gabst uns nicht ein Herz, dass wir einander hassen, nicht Hände, dass wir einander erwürgen sollten. Gib, dass wir einander helfen, die Last des kurzen, flüchtigen Lebens zu tragen; dass kleine Verschiedenheiten unter den Bedeckungen unsrer schwachen Körper, unter unsern unvollständigen Sprachen, unter unsern lächerlichen Gebräuchen, unsern mangelhaften Gesetzen, unsern törichten Meinungen, unter allen in unsern Augen so getrennten und vor Dir so gleichen Ständen, dass alle diese kleinen Abweichungen der Atome, die sich Menschen nennen, nicht Losungszeichen des Hasses und der Verfolgung werden!“

In dieser Haltung gilt es, die Toleranz zu verteidigen gegen die Intoleranz.

Wie immerwährend notwendig das ist, hat sich besonders hier in Münster fest im Bewusstsein denkender Menschen verankert. Hier, wo am Ende des Dreißigjährigen Krieges eine tiefe Einsicht in einem einzigen Satz zusammengefasst wurde: „Pax optima rerum“.