Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Verleihung des Lew-Kopelew-Preises

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Joachim Gauck mit den Preisträgern Lew Gudkow (li.) und Can Dündar (re.) in Köln bei der Verleihung des Lew-Kopelew-Preises

©Marek Ratajczak

Preisübergabe an Lew Gudkow (li.) und Can Dündar (re.) in Köln

Laudatio bei der Verleihung des Lew-Kopelew-Preises

26. November 2017, Köln

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Noch schöner als dieses Treffen heute, über das wir alle froh, glücklich und dankbar sind, noch schöner wäre es, wir würden uns überhaupt nicht mit den Preisträgern treffen. Sie würden einfach Zuhause sein, ihre Arbeit machen, niemand würde sie stören, und alle würden sie schätzen für das, was sie tun!

Aber wir sind nicht von gestern – wir sind von heute, ein bisschen auch von morgen, und darum wissen wir um die Wichtigkeit solcher Veranstaltungen. Denn anders als dort, wo die Geehrten leben - wo die Räume sich immer mehr verengen, die Arbeitsmöglichkeiten gegen Null gehen und sogar Gefahr besteht bis hin zur Inhaftierung - , anders als dort, ist dies hier ein Land der Freiheit. Und es macht uns froh und glücklich, dass Menschen hier leben und siedeln wollen, sogar wenn sie aus Ländern kommen, in denen ihre Vorfahren einst von Deutschen vertrieben oder vernichtet werden sollten.

Hier finden sie einen Raum der Freiheit und der Achtung vor ihren Arbeiten. Deshalb versammeln sich Politiker und Menschen aus der Zivilgesellschaft auch heute, um sich und anderen zu erklären: Wir sind da zur Verteidigung der Menschenwürde, der Menschenrechte und der Freiheit – und das wird so bleiben!

Wir ehren Lev Gudkov und den türkischen Journalisten Can Dündar. Zwei Persönlichkeiten, die für die Freiheit des Wortes und die Freiheit der Forschung stehen. Sie haben sich dem Druck ihrer autoritären Herrschaft nicht gebeugt, sich weder Denk- noch Sprechverbote erteilen lassen. Wir ehren zwei Menschen, denen Wahrhaftigkeit mehr bedeutet als Karriere und das Wohlwollen ihrer Machthaber. Und wir danken diesen beiden Menschen, weil sie uns in der Zuversicht bestärken, dass sich Wahrheit und Freiheit niemals gänzlich unterdrücken lassen.

Sehr verehrte Damen und Herren,

als ich im April 2014 die Türkei besuchte und in Istanbul Vertreter der Zivilgesellschaft zum Gespräch einlud, befand sich unter ihnen auch Osman Kavala, Unternehmer und Vorsitzender der von ihm gegründeten Kultur- und Menschenrechtsorganisation Anadolu Kültür.

Ein Rastloser, politisch zurückhaltend, aber unermüdlich im Einsatz zur Förderung der Kultur auch in den vernachlässigten Kurdengebieten, und sehr engagiert im Kulturaustausch zwischen der Türkei und Ländern der Europäischen Union. Vor knapp sechs Wochen wurde Kavala verhaftet, seit Anfang November 2017 sitzt er in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: Versuch zum Sturz der Regierung und zur Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung.

Ich bekenne: Ich war erschrocken, obwohl ich doch auch nicht wirklich überrascht war.

Seit dem Putschversuch im Juli 2016 überzieht eine Welle der Repression die Türkei. Wir lesen: Zehntausende Menschen wurden verhaftet, mehr als 120.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen. Ein Viertel aller Richter und Staatsanwälte wurde suspendiert, über 150 Journalisten sitzen im Gefängnis, 150 Zeitungen, Fernsehsender und Radiostationen wurden geschlossen. Die Gefängnisse sind überfüllt, Amnesty International berichtet über Folter und Misshandlungen.

Die Türkei ist leider auf dem Weg zur Alleinherrschaft eines Mannes.

Jeder, der sich dem offiziell verordneten Kurs wiedersetzt, riskiert Entlassung oder sogar Gefängnis. Auch Sie, lieber Can Dündar, standen vor der dramatischen Wahl zwischen Schweigen (um den Preis des Verlusts der Selbstachtung) und Reden (um den Preis des Verlusts der Freiheit).

Sie waren Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, als Ihnen das Video zugespielt wurde, das zeigte, wie der türkische Geheimdient MIT Waffen an Extremisten in Syrien liefert.
"Ist das Ihnen zugespielte Dokument echt?", haben Sie damals sich und Ihre Redaktionskollegen gefragt, und: "Ist seine Veröffentlichung im Interesse der Öffentlichkeit?"
Und weil Sie auf beide Fragen nur mit Ja antworten konnten, stand Ihre Entscheidung fest. So haben Sie die Informationen veröffentlicht, weil Sie sonst, wie Sie selbst erklärten, Verrat an Ihrem Beruf begangen hätten.

Sie haben die Wahrheit gesagt, obwohl sie wussten, dass Sie damit die Freiheit riskierten. Tatsächlich wurden Sie und Erdem Gül, der Leiter des Hauptstadtbüros Ihrer Zeitung, festgenommen, der Spionage und des Geheimnisverrats bezichtigt, für drei Monate in Untersuchungshaft gesteckt und am 6. Mai 2016 verurteilt: zu fünf bzw. zu knapp sechs Jahren Haft. Sie und Erdem Gül sind augenblicklich zwar frei, aber das Berufungsverfahren läuft.

Ähnlich wie die Türkei ist auch Russland auf dem Weg zur Alleinherrschaft eines Mannes. Hatte Putin noch vor seiner Wiederwahl im Frühjahr 2012 erklärt – ich zitiere – die "Neigung zu übertriebener Repression" deformiere die russische Gesellschaft, begann er nach dem erneuten Amtsantritt, diese Repression seinerseits zu verschärfen – offensichtlich aus Angst, der Freiheitsbazillus des Euromaidan im Nachbarstaat Ukraine könne auch auf Russland übergreifen. Es ist – nebenbei bemerkt – übrigens eine alte Tendenz des geheimdienstlich-sowjetischen Denkens, alles, was im Inneren als Bewegung hin zu Demokratie und Freiheit geschieht, außenpolitischen Feinden zuzuschreiben.

Jedenfalls wurden Demonstrationen gewaltsam niedergeschlagen, drei Frauen der Gruppe Pussy Riots erhielten für ihr "Punk-Gebet" eine zweijährige Gefängnisstrafe, Oppositionspolitiker Nawalny steht immer wieder vor Gericht, Kirill Serebrennikow, einer der bekanntesten russischen Regisseure, wurde unter Hausarrest gestellt. Und auf einen unabhängigen Journalisten in Kaliningrad, dem früheren Königsberg, wurden unlängst zwei Mordanschläge verübt.

Von schweren Menschenrechtsverletzungen hören wir außerdem aus Tschetschenien und von der annektierten Krim. In Tschetschenien sollen im Frühjahr diesen Jahres über hundert Männer verschleppt und inhaftiert worden sein, weil sie homosexuell sind oder für homosexuell gehalten wurden. Von der Krim meldet das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte willkürliche Festnahmen, Misshandlungen, Isolationshaft, Prügel, Elektroschocks und von der Abschaffung der politischen Selbstverwaltung der Krimtataren.

Sie, lieber Lev Gudkov, sind als Direktor des Levada-Zentrums ebenfalls von den zunehmenden Repressionen betroffen. Levada, das einzige unabhängige Meinungsforschungsinstitut in Russland, zählt zu den etwa 150 Nichtregierungsorganisationen, die sich selbst als "ausländische Agenten" bezichtigen sollen.

Das ist ein folgenschwerer Beschluss für das Zentrum, das Sie, Lev Gudkov, seit elf Jahren leiten: Die Arbeit mit ausländischen Partnern musste eingeschränkt oder eingestellt werden, Universitäten oder Firmen wollen sich nicht mehr zur Zusammenarbeit bekennen und lokale Verwaltungen verweigern Informationen aus Angst vor dem Geheimdienst.

"Wir werden wie Aussätzige im eigenen Land behandelt", so haben Sie es konstatiert. Dennoch machen Sie bis jetzt unbeirrt weiter. Levada hält der eigenen Gesellschaft weiter einen Spiegel vor. Und Levada erschließt Außenstehenden weiter ein tieferes Verständnis des heutigen Russlands. Denn neben Informationen liefern Sie, lieber Lev Gudkov, auch Interpretationen. Selten habe ich intellektuell so differenzierte Kommentare zu aktuellen Entwicklungen und so grundlegende Analysen über den Typus des "Homo Sovieticus", des Sowjetmenschen, gelesen, wie aus Ihrer Feder. Selten hat mir jemand so nachvollziehbar erklärt, wie im Alltagsverhalten der Menschen von heute die Tiefenschichten russischer und sowjetischer Mentalität aus längst vergangener Zeit nachhallten.

Meine Damen und Herren,

ich hatte im Vorgespräch eben Gelegenheit, mich mit Lev Gudkov über eine besondere Schwierigkeit der Situation in Russland zu unterhalten. Es ist leider so, dass diejenigen, die mit ihrer Hellsichtigkeit und Liebe zur Wahrheit die öffentlichen Schweigeverabredungen brechen, nicht nur auf das Missfallen oder die Gegenwehr der Regierenden treffen. Sie stoßen oft auch auf tiefes Unverständnis, ja auf Abneigung in der Gesellschaft und müssen auf die Solidarität sehr vieler, ja fast der meisten Zeitgenossen verzichten – von Menschen, die nicht aufgeschreckt werden möchten aus einer Ruhe des Vergessens und Verdrängens.

So haben demokratische und freiheitsliebende Intellektuelle eine doppelte Aufgabe. Sie haben sich gegen ein Regime zu wehren, das die Wahrheit und die Debatten um die Wahrheit scheut. Und sie müssen sich abgrenzen von einer Mentalität, die geprägt ist von einem generationenlangen Angstanpassungssyndrom. In Diktaturen – und nichts anderes kennt die durchherrschte Gesellschaft in Russland und in den umliegenden Regionen –, in durchherrschten Gesellschaften gilt die Tugend der Eigenverantwortung wenig, weil sie Karrieren zerstört. Dagegen zählt die Fähigkeit der Anpassung, die Fähigkeit, sich rechtzeitig zu fürchten und gar nicht aufzufallen. Wenn Derartiges über Generationen eingeübt wird, wird es zum Normalverhalten und prägt sich tief in die Seelen der Betroffenen ein. Die Menschen haben wohl eine Ahnung davon, was Freiheit ist, aber sie sind noch nicht fähig, die Freiheit als Eigenverantwortung zu leben.

Indem ich noch einmal ausdrücklich darauf verweise, will ich den Respekt vor all denen, die in solchen Organisationen wie Memorial oder im Meinungsforschungsinstitut Levada arbeiten, noch einmal erhöhen. Was diese Menschen leisten, ist eine Sisyphusarbeit! Und sie erinnert uns daran: Alle Entwicklungen hin zu humanitärer und aufklärerischer Politik, zu einer freien Gesellschaftsordnung, zum Rechtsstaat, alle diese Entwicklungen sind - bevor sie Staatspolitik werden – erdacht und gelebt worden von Einzelnen. Von Individuen und kleinen Minderheiten, die nicht geruht haben, bis diese Erkenntnisse gesellschaftsverändernd gewirkt haben. Das ist einer der Gründe, warum wir unsere Preisträger von Herzen unterstützen. Sie sind Zuhause in unseren Herzen, aber wir wünschen, dass das, was sie tun, auch in ihren Heimatländern ein Zuhause erhält.

Ich gestehe, dass ich 1989/90 zu den Optimisten zählte, die glaubten, wir stünden vor einer beglückenden demokratischen Zukunft. Wie wohl die überwältigende Mehrheit der Bürger in Europa befand ich mich in einer euphorischen Stimmung. Ich sah Ost und West friedlich vereint in einer Entwicklung und Stabilisierung von Frieden und Demokratie, von Menschenrechten und Wohlstand.

Ich gestehe, dass ich auch im Fall der Türkei zu den Optimisten zählte – besser gesagt: zählen wollte. Denn nach den "dunklen" 1990iger Jahren, in denen Krieg und Terror herrschten und Zehntausende umgekommen sind, schien mir der frühe Erdogan auf einem Weg der Demokratisierung und auch natürlich der wirtschaftlichen Reformen zu sein. Dabei hat er schon damals erklärt, dass die Demokratie für ihn nicht Zweck, sondern Mittel sei.

Jedenfalls ist mir noch um die Jahrtausendwende nicht in den Sinn gekommen, in Europas unmittelbaren Nachbarstaaten könnte sich schon nach wenigen Jahren wieder die Meinungsfreiheit unterdrückt werden und eine fortschreitende Zentralisierung der Macht in Gang gesetzt werden. Aber unter den aktuellen Feinden der Pressefreiheit listet die Organisation "Reporter ohne Grenzen" gleich drei Länder an Europas Grenzen auf: Russland, Weißrussland und die Türkei. Es ist, als hätte die Geschichte, erschreckt vom eigenen Drang nach vorn, so etwas wie eine Rolle rückwärts gemacht. Die Rückkehr zum Autoritarismus.

Trotz aller historischen Unterschiede sind in Russland und der Türkei weitgehend identische Prozesse zu beobachten. Hier wie dort haben autoritäre Herrscher die Kontrolle über die Justiz übernommen.
Hier wie dort steuern sie, nach vielfach durchgedrücktem Eigentümerwechsel, dann auch die Medien.

Wer nicht eine der wenigen unabhängigen Zeitungen liest oder über Internet verfügt (was allerdings auch schon zeitweilig zensiert wird), der lebt in einer manipulierten, verzerrten, einer beschnittenen Welt.

Hier wie dort wird die Wirtschaft zu politischem Wohlverhalten verpflichtet oder ihre Vertreter sind sogar eng mit dem Staat verbunden.
In beiden Ländern herrscht zudem ein Führerkult, und beiden Herrschern ist es gelungen, eine Ideologie aus Nationalismus und Staatsreligion zu formen – bei den Einen mit dem orthodoxen Christentum, bei den Anderen mit dem Islam.

Beide Herrscher konnten dabei tief sitzende Gefühle einstiger imperialer Größe mobilisieren, wobei sie selbst in die Rolle des Zaren bzw. des Sultans schlüpfen und dem Bürger die Rolle des Untertanen zuweisen. Auch wenn das nicht so offen ausgesprochen wird, dürften diese Vorstellungen subkutan eine ziemlich machtvolle, virulente Gestaltungskraft entwickeln.

Für Putin und Erdogan sind Oppositionelle und freie Geister Agenten des westlichen Auslands, heimatlose Kosmopoliten, "Staatsfeinde im Innern", eine 5. Kolonne. Die Feindbilder vom angeblich aggressiven und dekadenten Westen vor Augen, soll sich die Gesellschaft wie in einer Festung hinter ihren Führer scharen: anti-westlich, anti-europäisch, anti- amerikanisch, anti-liberal, ja anti-demokratisch. In dieser Atmosphäre der Hetze und des Hasses bedarf es oftmals nicht einmal offizieller Anordnungen, damit sich - tatsächlicher oder inszenierter - Zorn des Volkes gegenüber Oppositionellen oder Unangepassten entlädt.

Sie, lieber Can Dündar, haben es persönlich erfahren: "Du bist ein Vaterlandsverräter", hat der Mann geschrien, der auf Sie schoss, als Sie während Ihres Prozesses zeitweilig das Gerichtsgebäude verließen. Ähnlich "ermächtigten" sich Unbekannte in St. Petersburg und warfen Molotowcocktails auf das Studio des Regisseurs von "Matilda", dem russischen Film, der die Wut von ultra-orthodoxen Gläubigen und von Nationalisten auf sich zog, weil dort nämlich die Liebesgeschichte des heiliggesprochenen Zar Nikolaus II. mit der polnischen Ballerina Matilda gezeigt wird.

Das Bestürzende und Beunruhigende: In der Regel bleibt die Suche nach den Tätern ohne Ergebnis. Oder man findet nicht die wirklichen Drahtzieher. Denn die Regierungen, sie wollen gar nicht unbedingt Recht exekutieren. Ihnen kommt die Gewalt, die vom Volkszorn ausgeht, zum Zwecke der Einschüchterung gerade recht.

Umso wichtiger, meine Damen und Herren, ist Solidarität. Denn Menschenrechte sind universell: wir wissen es; wir sagen es immer wieder, aber wir dürfen es auch nicht vergessen. Und zwar ist das so, nicht weil der Westen einen globalen Geltungsanspruch erheben würde, sondern weil Menschen auf der ganzen Welt gleich – menschengleich – auf Unrechtserfahrung und Entwürdigung reagieren. Das ist der Grund für ihre universelle Gültigkeit.

Insofern bedeutet Menschenrechtspolitik tatsächlich auch Einmischung: Sie verpflichtet uns nämlich, immer dann zu intervenieren, wenn die Würde eines Menschen verletzt ist, unabhängig davon, in welchem Staat dies geschieht. Can Dündar hat ein wunderbares Bild gefunden, als er von der "großen Familie der Menschenrechtsverfechter" sprach.

Und so möchte ich heute stellvertretend für Hunderte anderer erinnern an den türkischen Journalisten Ahmet Sik, der in Haft sitzt und im Juli vor Gericht ausführte: "Journalismus ist kein Verbrechen." Ein merkwürdiges Land, in dem man das als eine neue Wahrheit verkünden muss.

Ich möchte erinnern an den Blogger Raif Badawi, der in Saudi Arabien zu 1.000 Peitschenhieben verurteilt wurde, weil er das Recht eines jeden verteidigte, seinen Glauben frei zu wählen.
Erinnern möchte ich auch an den leider viel zu früh in diesem Jahr verstorbenen Liu Xiaobo, der als Mitunterzeichner der Charta 08 Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte für das chinesische Volk forderte.

Und nicht zuletzt erinnere ich an Khadiya Ismayilova, die mutige Journalistin in Aserbaidschan, die über Korruption auf höchster Regierungsebene recherchiert und in diesem Jahr den alternativen Nobelpreis erhielt.

Ich weiß, meine Damen und Herren, Menschenrechtspolitik gerät schnell in den Verdacht realitätsferner Moral. Doch Politik braucht Rückbindung an Ethik als Richtschnur. Es gilt immer, eine Balance zu finden zwischen der Treue gegenüber unseren grundlegenden ethischen Selbstverpflichtungen und effektiven Lösungen, die in der Regel auf Kompromissen aufbauen müssen – Kompromissen allerdings, die nicht zynisch sein dürfen. Diplomatie, die sich anbiedert und dabei den eigenen Kern verrät, sie verliert eben ihre Glaubwürdigkeit.

Sie, lieber Lev Gudkov, haben deswegen immer wieder gefordert, die Dinge auch in den deutsch-russischen Beziehungen beim Namen zu nennen und "moralische Klarheit" zu schaffen. Kurzfristig, so sagten Sie, möge ein zynischer Pragmatismus vielleicht Vorteile bringen, aber – ich zitiere Sie – "langfristig schadet das beiden Seiten".

Wie wichtig die Verteidigung von Menschenrechten, von Freiheit und Wahrheit ist, habe ich selber in den Jahren des Eisernen Vorhangs erlebt. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie es uns in der DDR aufgebaut hat, wenn die sogenannten "Westmedien" das Unrecht des Regimes entlarvten und über Oppositionelle oder unabhängige Kircheninitiativen berichtet haben.

Ich erinnere mich auch gut daran, wie nicht allein Regierungs-, sondern auch gesellschaftliches Handeln Einfluss auf die Ost-West-Beziehungen genommen hat. Sie war zum Beispiel großartig, jene spontane, überraschende Hilfsaktion von geradezu gigantischem Ausmaß, die in Westdeutschland nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen Ende 1981 einsetzte. Das war großartig. Auch Lew Kopelew hat sich damals intensiv für die verbotene Solidarność eingesetzt und dafür posthum vom polnischen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski die Dankbarkeitsmedaille erhalten. Wir sollten uns von seinem Einsatz inspirieren lassen.

Ja, Solidarität ist weiter gefordert. Noch immer sitzen neun deutsche Staatsbürger in türkischen Gefängnissen. Und es wäre ganz fatal, wenn Deniz Yücel, Mesale Tolu und die anderen Inhaftierten als Geisel für politische Deals missbraucht würden. Wir dürfen sie nicht aus dem Auge verlieren und fordern von hier aus ihre sofortige und bedingungslose Freilassung!

Gleichzeitig erklären wir, dass wir in unserem Rechtsstaat all jenen türkischen Staatsbürgern Zuflucht bieten, die Schutz vor Erdogans Willkürherrschaft suchen – wir liefern sie nicht aus. Deutschland und andere europäische Länder tragen ihnen gegenüber sogar eine besondere Schutzverantwortung, denn selbst im Exil sind sie noch bedroht. So bin ich bestürzt darüber, dass Menschen wie Can Dündar oder der türkischstämmige Schriftseller Dogan Akhanli sich nur mit Personenschutz in der deutschen Öffentlichkeit bewegen können. Dieser Zustand ist besorgniserregend!

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit gut einem Vierteljahrhundert lebt Europa in Frieden und Demokratie. Die Angehörigen der jungen Generation haben niemals erfahren, wie es ist, wenn man Selbstzensur übt, um seinen Studienplatz nicht zu verlieren, um nicht vor Gericht gestellt zu werden oder gar ins Exil getrieben zu werden.

Die jungen Menschen von heute, sie standen niemals vor der Frage, wie weit sie bereit sind, sich des beruflichen Aufstiegs wegen korrumpieren oder zum Schweigen bringen zu lassen. Oder ob sie ihren Beruf, ihren Lebensunterhalt, ihre Freiheit, ihre Heimat, unter Umständen sogar ihr Leben für ein offenes Wort, für ein widerständiges Handeln riskieren würden.

Wir sind in Deutschland eine unheroische Gesellschaft geworden. Die Bürger brauchen keinen Mut, um Meinungen von Regierungspolitikern oder Vertretern des Mainstreams im öffentlichen Raum zu widersprechen. Und sie riskieren nur selten etwas, wenn sie anders als die meisten denken oder anders als die meisten leben.

Die Bürger in einer Demokratie haben es glücklicherweise nicht nötig, heroisch zu sein – sich für eine Sache zu opfern. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es Länder in unserer nächsten Nachbarschaft gibt, die Helden brauchen. Und wir sollten nicht vergessen, dass auch ein demokratisches Land niemals gänzlich gesichert ist vor einer Situation, in der es Helden wieder nötig haben könnte.

Sie verdienen unsere uneingeschränkte Bewunderung und Unterstützung - Menschen wie Lev Gudkov und Can Dündar, die sich nicht den Mund verbieten und nicht bestechen lassen.
Die, wie die Mitarbeiter des Meinungsforschungsinstituts Levada, trotz permanenter argwöhnischer Beobachtung unbeirrt ihrem Auftrag nachgehen. Oder die, wie die Redakteure der Tageszeitung Cumhuriyet, trotz Durchsuchungen, Verhaftungen und Prozessen weiter ihre unabhängige Stimme erheben.

Lieber Lev Gudkov, lieber Can Dündar, ich freue mich aufrichtig, dass Ihnen in diesem Jahr der Lew-Kopelew-Preis überreicht wird.