Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Imdahl-Gastprofessur

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck erhält die Urkunde für die Max-Imdahl-Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum

©RUB, Marquard

Überreichung der Urkunde durch den Rektor der Ruhr- Universität, Axel Schölmerich (li.), im Audimax

Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum

27. November 2019, Bochum

Anlässlich der Max-Imdahl-Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum hat Bundespräsident a.D. Joachim Gauck eine Vorlesung zum Thema „Die plurale Gesellschaft – Gewinn und Verunsicherung“ gehalten. Wir dokumentieren seinen Vortrag in Auszügen.

 

(...) Unsere Gesellschaft wird heute immer pluraler, immer vielfältiger. Ich nenne nur die Bereiche von Religionen, Ethnien, von Geschlechteridentitäten und Rollenverständnissen in Familie und Arbeitswelt. So haben wir uns in den letzten Jahrzehnten an die Herausbildung verschiedenster Lebensformen gewöhnt: unterschiedliche Formen von Lebenspartnerschaften werden akzeptiert, ebenso wie die Diversität im Bereich der Geschlechterorientierung. Religiöse Diversität existiert neben nicht diskriminiertem Agnostizismus und kulturelle Vielfalt gilt als selbstverständlich.

Eine völlig homogene Gesellschaft hat es zwar nie gegeben, weil es immer Unterschiede gab: zwischen Mann und Frau, arm und reich, Einheimischen und Zugewanderten usw. Aber in den Nationalstaaten hatten sich früher doch Narrative herausgebildet, die Menschen miteinander verbunden haben, auch wenn sie sich persönlich gar nicht kannten. Die Unterschiede traten zurück, das Gemeinsame überwog – etwa dieselbe Hautfarbe, dieselbe(n) Religion(en), dieselben Sitten; aufgrund der Ähnlichkeiten erkennen dann die Menschen im Anderen sich selbst und fühlen sich der Gemeinschaft auf eine nicht hinterfragte, selbstverständliche Art zugehörig. In diese als homogen empfundene Welt wuchs man einfach hinein, ihr gehörte man ganz direkt an, sie wurde selbstverständlicher Teil der eigenen Identität. Es war eine Welt der gefühlt Gleichen.

So haben unsere Vorfahren und die Älteren unter uns ihren alten Nationalstaat in Erinnerung. Das hat sich gründlich verändert.

Heute bilden Migrantenkinder in den Großstädten die Mehrheit in den Grundschulklassen, einige Sprecher und Moderatoren im Fernsehen stammen aus der Türkei, aus dem Iran und dem Irak; jüngst ist ein Politiker türkischer Herkunft Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt geworden. Vor ihm waren andere Frauen und Männer mit ausländischen Familiennamen Mitglieder in Parlamenten und Regierungen dieser Republik geworden. Heute sind die Muttersprachen und Religionen verschieden, ebenso oftmals auch die Emotionen angesichts derselben Ereignisse. Die Pluralisierung hat die ethnische und religiöse Zusammensetzung der Nation verändert, traditionelle Milieus etwa im Bürgertum oder auch unter den gläubigen Christen sind in hohem Maß erodiert. Wir leben zwar zusammen in einer Nation, aber nicht mehr in einer Welt der gefühlt Gleichen. (Es macht durchaus Mühe, ein neues, alle verbindendes WIR zu schaffen!)

Aus der in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Vielfalt hat sich in den Demokratien schrittweise eine deutlichere Artikulation der jeweiligen gruppenbezogenen Interessen, Prägungen und Glaubensinhalte ergeben. Je freier und liberaler die Gesellschaft war, desto ausgeprägter. Ein gesellschaftlicher oder politischer Zwang zu Homogenität, wie er zuvor existierte, ist den liberalen Demokratien wesensfremd geworden – ihr Kennzeichen wurde der Pluralismus. Die Behauptung einer hegemonialen Kultur wurde verworfen, Unterschiedliches existierte zunehmend gleichberechtigt nebeneinander. Für alle Menschen, die ihre politischen, sozialen oder kulturellen Identitäten nicht oder nur eingeschränkt leben konnten, ist die Existenz in einer freien und pluralen Gesellschaft ein lebensverändernder Gewinn.

Warum aber entstehen in Gesellschaften, die in Folge einer aufklärerischen Politik einen so grundsätzlichen Gewinn errungen haben, retardierende oder gar Gegenbewegungen?

Lassen Sie mich diese Entwicklung einmal beispielhaft am Beispiel des demographischen Wandels demonstrieren. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Staaten haben sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs stark homogene Nationen in stark heterogene Nationen verwandelt. In Großbritannien beispielsweise lag die Zahl der Einwohner aus einer ethnischen Minderheit in den 1950er Jahren bei wenigen Zehntausend; heute sind es acht Millionen. Das ethnisch recht homogene (West)Deutschland begrüßte 1964 den Millionsten "Gastarbeiter"; bis 2017 stieg die Zahl der Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund in Gesamtdeutschland auf gut 19 Millionen. Damit bildeten sie mit etwa 23 Prozent einen stärkeren Anteil an der Bevölkerung als die Ostdeutschen mit ca. 14 Millionen. In relativ kurzer Zeit also hat sich ein relativ starker Wandel vollzogen, in den die Ostdeutschen allerdings erst seit 1989 einbezogen sind.

Wir wissen aus soziologischen Studien, dass Fremde und Fremdes erst einmal Befremden auslösen: Pluralität ruft, wenn sie Unbekanntes umfasst, erst einmal Skepsis und Misstrauen hervor. Und so lässt sich denn auch eine Verbindung herstellen zwischen der starken Einwanderung der Jahre 2015/16 und einer durchgehenden Zunahme von Abwehr gegenüber Migranten in allen europäischen Ländern. Populisten konnten mit Fremdenangst und offen ausländerfeindlichen Parolen erhebliche Punkte sammeln und ihre bis dahin größten Wahlerfolge einfahren, in Deutschland schafften sie mit teils zweistelligen Wahlergebnissen den Sprung in Bundes- und Landesparlamente. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk sprach von einer "Rebellion gegen den Pluralismus".

Was an diesem Beispiel erkennbar wird, gilt allgemein. Regelmäßig erscheint in den Gesellschaften der Moderne ein Teil der Öffentlichkeit als modernekritisch. Der Wandel ist für sie Bedrohung. Für einige Menschen ist etwa die Migration Anlass zur Sorge, ob ihre soziale Sicherheit auch in Zukunft gewährleistet sei, wenn billige Arbeitskräfte ins Land kommen. Für andere sind fremde Kulturen oder Religionen bedrohlich, weil sich alte Eindeutigkeiten auflösen und in ihnen das Gefühl der Entheimatung Raum greift. Und wer Bedrohung spürt, reagiert mit Angst, und aus der Angst heraus mit Abwehr und Aggression. Manche – vor allem in kleinen Nationen – fürchten sogar eine angeblich durch Migration ausgelöste "Überfremdung" oder "Umvolkung" und den damit unter Umständen verbundenen Untergang des eigenen Volkes. Wien dürfe nicht Istanbul werden, warnte etwa der ehemalige Wiener FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache.

Das Autoritäre ist also weiterhin lebendig und vielerorts sogar auf dem Vormarsch. Sogar in einer stabilen Demokratie wie unserer, und erst recht in anderen Teilen der Welt, existieren Teile der Bevölkerung, die ausdrücklich eine autoritäre Regierungsform bejahen. Denn autoritäres Denken will Eindeutigkeit. Autoritäres Denken befreit von Ambivalenz. Und so wollen sich Menschen mit autoritärer Disposition starken Personen unterordnen, um sich von der Last der Mehrdeutigkeit und Pluralität zu befreien.

Heißt die Gleichung also: "Mehr Zuwanderung – mehr Pluralität – mehr Zustimmung für Populisten"? Schaut man genauer hin, stellt sich heraus, dass eine derartige Schlussfolgerung in dieser Pauschalität nicht trägt. Denn in Universitätsstädten wie etwa Bremen, Köln, Stuttgart oder Hamburg, wo viele junge und gut ausgebildete Menschen wohnen und zudem seit längerem eine ethnisch gemischte Bevölkerung existiert, haben die Menschen im Durchschnitt eine relativ positive Haltung zur Einwanderung. Pluralität erschreckt sie nicht – oder besser: nicht mehr. Diese Stadtbewohner haben nämlich erfahren, dass Vielfalt nicht bedrohlich sein und das Eigene nicht einschränken muss, dass Vielfalt die eigene Lebenswelt sogar erweitern und bereichern kann. Ethnische und religiöse Pluralität gehört dort zum normalen Alltag. Jedenfalls konnten die Populisten etwa in Stuttgart, Bremen oder Köln trotz hoher Ausländeranteile nicht reüssieren. Und in ganz Deutschland fanden sich 2015 Zehntausende, denen Offenheit und Aufnahmebereitschaft wichtiger waren als die Abschottungsparolen und Abwehrstrategien von Populisten und ihren Anhängern.

Die Haltung gegenüber der Einwanderung ist also ambivalent. Und die Angst vor Einwanderung scheint nicht in erster Linie von der Höhe und der Anwesenheit von Einwanderern abhängig zu sein. Populisten feierten umgekehrt dort ihre größten Triumphe, wo eine Bevölkerung erstmals mit Einwanderern konfrontiert wurde – so wie das in den neuen Bundesländern geschah oder wie in Ungarn und Polen.

Angst und Abwehr resultieren hier offenkundig aus einem verunsicherten Ich und aus mangelnder Erfahrung beziehungsweise fehlender Gewöhnung. Der regelmäßige Kontakt mit Migranten hingegen baut Fremdheit, Vorurteile und Ängste ab. So hat die Bevölkerung Kaliforniens auf einen rapide ansteigenden Anteil von Ausländern zunächst mit gesetzlichen Restriktionen reagiert, illegale Einwanderer etwa von Sozialleistungen ausgeschlossen und zweisprachigen Unterricht an den Schulen untersagt. Seit der Jahrtausendwende aber hat sich der Trend umgekehrt. Angehörige ethnischer Minderheiten sind in Kalifornien inzwischen die Mehrheit. Einige Gesetze wurden revidiert, Kalifornien zählt heute zu den tolerantesten Bundesstaaten in den Vereinigten Staaten.

Ich habe so ausführlich über Migration gesprochen, weil sich hier exemplarisch zeigt, dass die Akzeptanz von Pluralität nicht zwangsläufig sein muss, aber dass sie durch Gewöhnung entstehen kann. Diese Gewöhnung vollzieht sich oft ohne Programm, die Dinge "ereignen sich" einfach und rücken dem Einzelnen nahe: der Pizza-Laden und der Döner-Imbiss eröffnen gleich nebenan – und keiner will mehr den Kaffee aus der ostdeutschen Gaststätte trinken. Wo allerdings wie in den neuen Bundesländern und in den osteuropäischen Staaten keine oder nur sehr wenige Lernfelder im Umgang mit Migranten herrschten, bleibt die diffuse Angst gegenüber dem Fremden bestimmend.

An dieser Stelle begegnet uns ein Aspekt, der vielfach unterschätzt wird. Oft herrscht das Missverständnis, das Neue käme zum Alten einfach hinzu, eine plurale Gesellschaft sei mithin eine Addition von Verschiedenen. Als Addition von Verschiedenen aber würden sich genau jene Parallelgesellschaften herausbilden, die wir – wie ich denke: zu recht – ablehnen und zu verhindern trachten. Denn dann würde eine Gesellschaft völlig erodieren. Eine plurale Gesellschaft kann sich aber auch nicht dadurch auszeichnen, dass die Neuen und Schwachen sich den Alten und Starken einfach unterordnen. Das wäre Assimilation und bedeutete deren Selbstaufgabe. Wer in eine neue Gesellschaft eintritt, bringt alte Identitäten mit, die er zumindest zeitweilig beibehält und die auch auf andere ausstrahlen. Deshalb, sagt die Philosophin Isolde Charim, verändert die Pluralisierung uns alle. "Man kann heute nicht mehr dieselbe Art Deutscher oder Österreicher sein wie früher. (...) Keiner kann heute seine Kultur noch so leben, als ob es keine Kultur daneben gäbe (...) Heute gibt es keine Zugehörigkeit, die ihre Selbstverständlichkeit nicht gegen andere Selbstverständlichkeiten behaupten muss."

Dies zu begreifen empfinden viele Menschen allerdings als Zumutung, zumal sich die Ängste aufgrund von Migration vielfach verbinden mit der Verunsicherung, die durch mehrere Faktoren gleichzeitig ausgelöst wird. Ich nenne nur stichwortartig Globalisierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Biotechnologie ... Für den Durchschnittsbürger stellt sich diese Umgestaltung und damit verbundene Pluralisierung von Arbeitswelt, Informationswelt und sozialen Beziehungen als Gewinn heraus, wenn er zu jenen Bevölkerungsteilen gehört, die über Fremdsprachen verfügen, die in der neuen IT-Welt zu Hause sind, die sich schnell umorientieren und etwas Neues beginnen können. Bei vielen anderen aber sind die Angst vor dem sozialen Abstieg und eine diffuse Skepsis gegenüber der Zukunft eingekehrt, selbst wenn es ihnen augenblicklich noch gut geht. Noch andere – wie etwa die Arbeiter in Amerikas Rust Belt oder die Gelbwesten in Frankreich – sind bereits von den negativen Seiten der Globalisierung und Digitalisierung erfasst. Es gibt also zweifellos Verlierer durch die Moderne, die sich ungestüm ihren Weg bahnt und große Teile trotz vieler neuer Möglichkeiten ratlos und verschüchtert zurücklässt.

Es stimmt: Die Menschheit steht heute nicht erstmals vor einem technologischen Wandel. So schickte beispielsweise der französische König 1830 einen jungen Ingenieur nach England, um die sensationelle neue Erfindung des Dampfzugs zu begutachten. Der Ingenieur beobachtete sorgfältig den Zug, der Fahrgäste zwischen Manchester und Liverpool beförderte. Dann rechnete er seine Beobachtungen gewissenhaft durch und schrieb nach Paris: "Es ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es kann nicht funktionieren."

Damals wie heute fällt es schwer, sich einzugestehen, dass das bisherige Verständnis von der Welt nicht mehr zu halten ist. Es fällt schwer, zuzugeben: Es gibt noch eine Wahrheit hinter der Wahrheit, die uns bis jetzt zugänglich gewesen ist. Und es gibt sie in so verschiedenen Bereichen und in so umfassender Weise – beim Klimawandel, bei der künstlichen Intelligenz, in der Genforschung –, dass eine tiefe Verunsicherung Einzug gehalten hat. Es ist etwas ins Rutschen gekommen und wir wissen nicht, was unangetastet bleibt und wo sich überhaupt noch Sicherheit bietet.

Wenn sich dann erweist, dass eine Regierung oder gar die liberale Demokratie den Überblick und die Planungsfestigkeit verliert oder dass es ihr an Entschiedenheit mangelt, die Unsicherheiten und Ängste in der Bevölkerung durch glaubhafte und effektive Politik zu reduzieren, dann geraten nicht nur die Regierungen, sondern auch das sie tragende liberaldemokratische System massiv unter Druck. 41 Prozent der Westdeutschen und 57 Prozent der Ostdeutschen sind der Meinung, unser Staat sei weniger handlungsfähig und eher schwach, wie eine jüngste Allensbach-Umfrage ergab . "Menschen schätzen Freiheit und Offenheit, solange sie sich sicher fühlen", hat der jetzt scheidende EU-Ratspräsident Donald Tusk immer wieder erklärt. Wenn die liberalen Demokratien es nicht schaffen, ihren Bürgern das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, ist das Erstarken von Populisten, Nationalisten und Autokraten nahezu zwangsläufig. Dann wenden sich die Wähler Führern zu, die einfache Lösungen und effektives Handeln versprechen – und unter Umständen tatsächlich durchsetzen, weil sie, wie in Ungarn oder Polen, Rechte der Bürger missachten oder unabhängige Institutionen ausschalten.

Ich beobachte, dass sich in unserem Land selbst bei Menschen, die keiner autoritären Ideologie verdächtigt werden können, ein Unwillen gegenüber unserer Demokratie eingeschlichen hat. Denn unser liberaldemokratisches System enthält so etwas wie eine systembedingte demokratische Langsamkeit. Wichtige Infrastrukturprojekte werden mitunter etwa durch endlose Eingaben von Bürgern verzögert oder gar verhindert. Langfristige strategische Planungen können sogar aus Angst vor dem Unmut von Wählergruppen oder aufgrund einer opportunistischen Anpassung an einen durch Umfragen ermittelten Wählerwillen unterbleiben. Der Pluralismus als Mittel zum Aushandeln gesellschaftlicher Konflikte wird in solchen Fällen als Hindernis empfunden, besser und schneller auf anstehende Probleme zu reagieren. Mitwirkungsmöglichkeiten, einst mühsam errungen, erscheinen vielen dann nicht mehr als Gewinn, sondern als Belastung.

Ich hörte schon deutsche Wirtschaftsvertreter voller Neid von chinesischen Bauvorhaben berichten, die in Windeseile umgesetzt werden, weil sie durch Bürgerbeteiligung, durch Umwelt- und Arbeitssicherheitsgesetze und permanente öffentliche Hinterfragung nicht belastet sind. Und bei so manch engagiertem Umweltschützer gewinne ich den Eindruck, er wünschte sich einsichtige politische Führer, die endlich im Hauruck das Rad der Geschichte bewegen, statt beim Klimaschutz angeblich nur kompromisshaftes "Klein-Klein" zu liefern.

Ich könnte weitere Beispiel nennen für Unverständnis, durchaus auch für Verachtung dafür, dass sich eine auf Pluralismus basierende liberale Demokratie den langwierigen Verfahren des Rechtsstaats unterzuordnen hat, dass sie mitunter lange debattiert, mitunter langsam entscheidet, mitunter nur Zwischenschritte erreicht. Dass sie einen permanenten "Dialog zwischen den Generationen, Kulturen und Milieus" erfordert, wie Sie, Herr Professor Schölmerich, es in Ihrer Laudatio als eines meiner Themenschwerpunkte beschrieben haben.

Unsere Demokratie erlaubt der Mehrheit politisches Handeln, aber sie gibt ihr nicht freie Hand im Sinne einer Hegemonie. Sie garantiert Minderheitenrechte, selbst dann wenn sich die Mehrheit ganz sicher ist, doch Recht zu haben. Einen einheitlichen "Volkswillen" gibt es in unserer liberalen Demokratie nicht. Und tatsächlich bietet der Pluralismus die Chance, dass die verschiedenen Aspekte eines Problems abgewogen und unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden. Deswegen können wir in der Regel auch darauf hoffen, dass Kompromisse, wie sie am Ende einer öffentlichen Auseinandersetzung und Reflexion stehen, auch von denen mitgetragen werden, die in der Mehrheitsentscheidung unterlegen sind. Dort hingegen, wo der Interessenaustausch unterbleibt und die Entscheidungen schneller, aber einsamer – etwa per Twitter – getroffen werden, ist der Weg frei für Autokraten. Autokraten, so erläuterte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler am Beispiel von Donald Trump, "produzieren Zeitdruck, um so die Agenturen der politischen Reflexivität – unabhängige Gerichte, kritische Presse, engagierte Zivilgesellschaft – ausschalten und ihren Willen zu dem des Volkes erklären zu können."

Ich gestehe aber auch: Wenn unter anderem auch der Pluralismus dazu führt, dass dringliche politische Entscheidungen nicht oder sehr spät getroffen werden, wenn der Rechtsstaat, einst gedacht zum Schutz bürgerlicher Freiheitsrechte und erhöhter bürgerlicher Teilhabechancen, aufgrund der vielen Einspruchsmöglichkeiten immer öfter zum Instrument von Bürgern zur Verhinderung oder Verzögerung von Projekten wird, dann sind Pluralismus und demokratisches Regierungshandeln nicht mehr in der richtigen Balance. Dann kann auch Pluralismus mit zu einem Vollzugsdefizit beitragen, das der italienische Politiktheoretiker Danilo Zolo für ebenso gefährlich erachtete wie einen Machtmissbrauch und ihn eine Neubewertung von demokratischer Teilhabe vorschlagen ließ: "Die Entlastung des politischen Systems von einem Übermaß an Demokratie kann (...) als die strukturelle Bedingung für das Überleben der Demokratie selbst dargestellt werden." Denn eine zu weitgehende Berücksichtigung von Interessen kleiner und kleinster Gruppen kann dann dazu führen, dass die anstehenden großen Herausforderungen nicht effektiv angegangen und gelöst werden.