Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Laudatio Cem Oezdemir

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Laudatio auf Cem Özdemir anlässlich der Preisverleihung "Die schärfste Klinge" in Solingen

©Christian Beier

Laudatio auf Cem Özdemir im Theater und Konzerthaus Solingen

Laudatio bei der Preisverleihung "Die Schärfste Klinge"

31. Oktober 2019, Solingen

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Meine Aufgabe ist es heute Abend, über den diesjährigen Preisträger der "schärfsten Klinge" zu sprechen. Ich tue das wirklich ganz besonders gerne und freue mich sehr über diesen Preis für Sie, lieber Cem Özdemir.

Bevor ich über den Preisträger sprechen werde, bleibe ich aber nochmal einen Moment bei diesem Preis. Im Jahr 2011 wurde mir diese Auszeichnung verliehen. Eigentlich hätte ich, der Tradition folgend, dann bei der nächsten Verleihung die Laudatio halten sollen, das wäre 2014 gewesen und auch das hätte gut gepasst, denn ich hätte über Herta Müller gesprochen, der ich mich tief verbunden fühle. Aber ich war, nun ja, im Jahr 2014 aus beruflichen Gründen verhindert.

Ich hoffe, die Solinger haben mir mein Fehlen vergeben, ich glaube, ich war ja irgendwie ganz gut entschuldigt. Und daran hatte auch Cem Özdemir seinen Anteil, der meine Kandidatur als Bundespräsident sogar schon im ersten Anlauf mit betrieben und unterstützt hat.

Bevor ich in meine eigentliche Rede einsteige, muss ich Cem Özdemir direkt ansprechen. Ich habe Ihr Interview gelesen, das Sie im Vorfeld dieser Preisverleihung gegeben haben. Nach Solingen gefragt sagen Sie unter anderem:

"Einer der Gründe, warum ich mich entschlossen habe, für den Bundestag zu kandidieren, war der schreckliche Brandanschlag von 1993 und die beeindruckende Reaktion von Mevlüde Genç damals. Statt mit Verbitterung und Hass hat sie mit einer ausgestreckten Hand auf diesen furchtbaren Anschlag reagiert und engagiert sich gegen Rassismus. Ich hatte das Gefühl, dass jemand im nächsten deutschen Bundestag sitzen sollte, der die Sprache von Mevlüde Genç spricht."

Das, lieber Herr Özdemir, hat mich berührt. Auf Hass und Rassismus, der ja auch Ihnen begegnet, gehe ich später in meiner Rede ein. Aber dieses Zitat stelle ich vor meine eigenen Gedanken und binde es ein in ein Gefühl, das heißt: Ich bin froh, dass Sie schon so lange Mitglied unseres Parlaments sind.

Und heute nun erhalten Sie den Solinger Preis "Die schärfste Klinge". Er ist ja nicht nur ein Preis für die Kunst der Rede, sondern er wird verliehen an "Persönlichkeiten, die sich fair und engagiert für öffentliche Interessen eingesetzt haben."

Als mir dieser Preis 2011 zugesprochen wurde, da hätte ich über diese Formulierung möglicherweise eher hinweggelesen. Heute, acht Jahre später, lohnt es sich doch nochmal, diese Begründung anzuschauen, die ja schon ein bisschen älter ist. Denn sie sagt eben: Es kommt nicht nur darauf an, Sprache besonders wirkmächtig einzusetzen. Sondern, dies auch auf eine faire Weise zu tun und sich dabei für "öffentliche Interessen", also das Gemeinwohl, einzusetzen. Das sind zwei Aspekte, die heute keine Nebensachen mehr sein können. Sprache, das muss ich vor diesem Publikum geschichtlich nicht näher erläutern, lässt sich eben auch auf unfaire, auf manipulative, auf hetzerische Weise nutzen. Und sie lässt sich auch einsetzen für Ziele, die einem wirklichen öffentlichen Interesse völlig zuwiderlaufen.

Wenn wir uns gemeinsam wünschen, dass Sprache, dass politisches Handeln "auf eine faire Weise" geschehen soll, dann muss uns dieser Tage natürlich einfallen, dass dies auch bedeutet: Hass, Verunglimpfung, Aufruf zu Gewalt – all das darf niemals Mittel der Politik sein. Und verantwortlich für Hassvergehen können auch Menschen sein, die Hass als Mittel ihrer politischen Kommunikation verwenden, in sozialen Netzwerken, auf den Straßen aber auch in Parlamenten. Niemals dürfen wir uns damit abfinden!

Mit dem Wunsch nach einem fairen politischen Handeln sollte aber andererseits auch nicht gesagt sein, dass wir uns alle nur lieb angucken wollen und so tun, als gäbe es keine Konflikte. Der bisweilen geäußerte Wunsch, in der Politik solle doch jetzt mal endlich Schluss sein mit diesem ganzen Streit und man solle sich doch bitte zusammenraufen, statt miteinander zu ringen – diesen Wunsch möchte ich nicht unter der Fairness verstanden sehen, die wir uns wünschen sollten.

Denn zu unserer Demokratie, zu unserer offenen Gesellschaft gehört der Streit dazu – auch wenn er eben manchmal unbequem erscheint. Hass aber und Gewalt sind tabu. Aber wir sind verschieden, unsere Interessen sind verschieden. Das ist nichts unbilliges. Und das darf, das muss deutlich werden. Die Kunst und die Aufgabe in der Demokratie ist es, aus diesen Unterschieden nicht irgendein Einerlei zu machen, sondern die verschiedenen Standpunkte, Sichtweisen, Interessen miteinander in Verbindung zu bringen und Ausgleich zu schaffen, wo das nötig ist. Cem Özdemir ist ein Politiker, dem das sprachlich und fachlich gelingt. Und er ist einer, der weiß: Vorstellungen, es gäbe so etwas wie einen einheitlichen Volkswillen, der nur vom sinnlosen und selbstsüchtigen Streit "der" Politiker verdeckt würde, sie sind falsch. Wir wollen Fairness, aber wir wollen sie als Ringen um den besseren Weg, mit dem Widerstreit der Meinungen, im Sinne einer robusten Zivilität, um Timothy Garton Ash zu zitieren.

Das andere Wort aus ihrer Preisbegründung ist, dass sich die Preisträger "engagiert für öffentliche Interessen" einsetzen. Auch diese Passage liest sich heute vielleicht etwas anders als 2011. Denn es ist uns deutlicher geworden als damals: genau das brauchen wir!

Wir brauchen Menschen, die engagiert öffentliche Interessen vertreten. Keine Angst, es muss jetzt nicht jeder hauptamtlich Politik machen. Auch wer sich ehrenamtlich engagiert, ob in der Kommunalpolitik oder in einer Initiative, in der Kirchengemeinde, der Flüchtlingshilfe, als Ausbilder bei der IHK oder meinetwegen auch für Klimaschutz, der tut etwas für die öffentlichen Interessen.

Warum ist das erwähnenswert? Weil wir in vielen Ländern der Welt eine Zunahme ent-mächtigender Haltungen und Politikansätze beobachten. Eines der gefährlichsten und für mich abstoßendsten Phänomene des Populismus in vielen Ländern der Welt ist es, dass er Menschen suggeriert: Lasst Euch befreien von der Komplexität der Welt, von den Herausforderungen, vor denen Ihr steht. Zieht Euch zurück in alte, angeblich bewährte Gesellschaftsmodelle, in die Rolle dessen, der andere, "stärkere", für sich entscheiden lässt. Der zwar mal kräftig meckern kann gegen "die da oben", aber ansonsten darauf setzt, dass ein starker Mann es schon richten wird.

Das meine ich, wenn ich von Ent-Mächtigung spreche – denn wenn wir dieser Haltung folgen, verlieren wir unsere Rolle als selbstbewusstes Subjekt im demokratischen Staat. Dann werden wir vom Bürger, vom Citoyen, zum rein passiven Objekt der Weltläufte, eine solche Flucht aus der komplizierten Welt mit all ihren Widersprüchen, eine Flucht aus der Verantwortung, kann manchen Menschen manchmal bequem und verführerisch erscheinen. Denn in der modernen Welt kann einen schon eine Art Schwindel ereilen, ein Schwindel vor der Vielzahl der unübersichtlichen Möglichkeiten – ein Gedanke übrigens, den Sören Kierkegaard bereits im 19. Jahrhundert so formulierte –, auch damals gab es Angstwellen in der Gesellschaft.

Solchen Fluchtgefühlen wollen wir nicht folgen. Ich freue mich deshalb über jede und jeden, der stattdessen etwas anstößt oder etwas mitmacht, was über die kurzfristigen eigenen Interessen hinausgeht und der Gesellschaft etwas bringt. Ich finde, auch ein Engagement in der Kirchengemeinde, bei der Feuerwehr oder als Lesepate ist ein Dienst an der Demokratie, an den "öffentlichen Interessen", wie es der Preis formuliert und deshalb fühle ich mich mit allen Ehrenamtlichen im Land eng verbündet.

Uns ist klar: Wir sind es, die zuständig sind für die Dinge, die im Land geschehen. Wir haben auch mit in der Hand, sie zum Guten zu verbessern. Wir bringen uns ein, wir versuchen etwas, wir scheuen weder Kompromisse, Zwischenlösungen noch das Risiko von Misserfolgen. Denn all das gehört dazu, wenn wir im öffentlichen Raum Verantwortung übernehmen. Lieber Herr Özdemir, vielleicht möchten Sie diesen Herbst 2019 politisch eher abhaken. Nicht nur wegen des Wahlergebnisses vom Sonntag. Ich denke daran, dass Sie als Vorsitzender Ihrer Bundestagsfraktion kandidiert haben und NICHT gewählt wurden. Ich will das hier nicht verschweigen. Ich will es aber auch einordnen in einen größeren Kontext. Ganz allgemein glaube ich, dass es vielen Menschen Respekt macht, wenn Politiker nicht jedes Risiko scheuen, auch nicht das einer Niederlage. Sondern die etwas riskieren für die "öffentlichen Interessen". Mir jedenfalls hat es nachhaltig Eindruck gemacht, dass Sie sich erkennbar gemacht und etwas gewagt haben. Die Zukunft ist offen, glauben Sie es jemanden, der mit 50 zum ersten Mal gewählt hat und mit 72 sozusagen im zweiten Anlauf Bundespräsident wurde!

Heute verleihen wir einen Rhetorikpreis. Ich will aber auch ein paar Takte sagen, warum mir Ihr politischer Weg Respekt gemacht hat und warum ich glaube, dass wir dankbar sein können für vieles, was Sie bisher schon geleistet haben.

Sie sind heute Mitglied des Bundestages, waren im Europaparlament, Sie waren Parteivorsitzender. Sie haben in den Vereinigten Staaten von Amerika gelebt und haben dort Vorträge gehalten. Sie sind ein Transatlantiker geworden, der entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Grünen heute doch ein etwas realistischeres Amerikabild haben als in ihren Anfangstagen. Sie sprachen einmal von einem "wertegeleiteten Realismus", den wir in der Außenpolitik brauchen. Eine Formulierung, die mir gut gefällt. Und gemeinsam sind wir der klaren Überzeugung: Die Bindung an den Westen und an die Werte der westlichen Aufklärung – das geben wir doch nicht auf wegen eines Herrn Trump!

Sie waren immer wieder profilierter Fachpolitiker, heute sogar im undankbaren, aber heute doch sehr wichtigen Bereich Verkehrspolitik. Aber es ist auch kein Geheimnis, dass Ihr politischer Weg schon immer wieder besonders rezipiert und interpretiert wurde von der Herkunft Ihrer Familie. Ich nehme an, das hat Sie manches Mal gestört und ich weiß, dass es bis heute auch besondere Belastungen für Sie bringt. Aber Sie wurden nun mal, obwohl in Deutschland geboren, von so manchen gesehen als Zitat, "der erste gebürtige Türke im Bundestag", auch wenn Sie als Kind besser schwäbisch als Türkisch sprechen konnten.

Der SPIEGEL, der Sie bei Ihrer ersten Wahl 1994 porträtierte, war ganz enttäuscht, dass Sie eher "Honoratiorenschwäbisch" sprachen. Was man im so weltoffenen linksliberalen Hamburg wohl stattdessen erwartet hatte? Aber genau da sind wir auch schon bei einem großen Thema – nämlich bei den (oftmals doch wohl irrigen) Erwartungen, die eine Mehrheitsgesellschaft an Minderheiten hat – und übrigens auch bei Erwartungen, die diese Minderheiten dann aneinander formulieren.

Denn nicht nur der SPIEGEL war verwundert oder enttäuscht darüber, dass Sie ja eher ein "Spätzle-Türke" seien (ein wörtliches Zitat!). Auch die Tübinger Grünen, so war damals zu lesen, "mochten ihn nicht als Bundestagskandidaten nominieren, weil er dem Klischeebild vom entrechteten Türken nicht entspricht".

Und die Gruppe der Türkeistämmigen in Deutschland, wollte Sie schnell mal als "ihren Lobbyisten in Bonn betrachten." Sie haben diesem Wunsch von vornherein klar widersprochen – Sie sind deutscher Staatsbürger, ein vom Volk gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages und niemandes Lobbyist.

All das ist zwar ein Vierteljahrhundert her, aber es verdeutlicht schon ein bisschen, dass wir alle ziemlich gut darin sind, Menschen auf eine Identität festzulegen, um dann empört zu sein, wenn diese Schablone gar nicht funktioniert. Wenn sich herausstellt, dass Identitäten mehrere Schichten haben können. Zum Beispiel dass man ein heimatverbundener Schwabe sein kann, obwohl man einen Gebetsteppich an der Wohnzimmerwand hängen hat –  auch das notierte der SPIEGEL damals fleißig. Und jetzt geht dieser Özdemir Anfang der 1990er Jahre zu Friedensdemos und zu Anti-Atom-Aktionen, statt über die Diskriminierung der Türken in Deutschland zu klagen? Große Verwunderung allerorten, jedenfalls 1994. Und zwar nicht bei Ausländerfeinden oder Spießern, sondern eben bei den Tübinger Grünen oder eben beim Spiegel.

Sie selber haben öfter darauf hingewiesen, dass in den USA geborene Kinder aus Einwandererfamilien bestimmte Fragen, die Sie hier in Deutschland ständig hörten, nicht gestellt bekommen.

Ich wünsche mir, dass Menschen, deren Eltern in der Türkei oder anderswo geboren sind und die in Deutschland aufwachsen und leben, genauso selbstbewusst, natürlich und logisch Deutsche sein können, sich so fühlen und so gesehen werden, wie das in den USA immer der Fall war – und hoffentlich bleibt.

Was mir imponiert an Ihrem Umgang mit diesem Thema, Herr Özdemir ist, dass Sie sich gelassen damit auseinandersetzen und ganz einfach Ihren politischen Weg gehen, ohne sich identitätsmäßig einengen oder eine ethnisch begründete Spezialaufgabe anzustreben. Sie sind einfach Cem Özdemir, MdB, geboren in Urach, und derzeit der Vorsitzende des Bundestags-Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur!

Lieber Herr Özdemir, seit langen Jahren weiß die Öffentlichkeit, dass Sie über ein rhetorisches Talent verfügen, um das Sie in Berlin beneidet werden. Ihre Bundestags-Rede vom Februar letzten Jahres etwa, als eine bestimmte Fraktion des Bundestages verlangte, dass der Bundestag den deutschen Journalisten Deniz Yücel für seine unbotmäßigen Texte maßregeln solle, ist damals zu Recht hochgelobt und bereits ausgezeichnet worden.

Dass es nochmal notwendig würde, Mitgliedern des Deutschen Bundestages zu erklären, dass die Presse in Deutschland frei ist und auch kritische oder ärgerliche Texte nicht von Staatswegen gerügt oder verfolgt werden, das hätte ich mir nicht vorstellen mögen. Aber es wurde eben nötig und Sie haben es besonders beeindruckend getan. "Unser Deutschland ist stärker als es Ihr Hass jemals sein wird", so riefen Sie es einer bestimmten Fraktion zu. Und dabei haben Sie gleich noch Attacken auf die angeblich zu bunte deutsche Nationalmannschaft abgewehrt: "Geben Sie es doch zu", spotteten Sie damals "wenn Sie ehrlich sind, drücken Sie doch den Russen die Daumen und nicht unserer Nationalmannschaft!".

Das ist schon ziemlich "scharfe Klinge". Aber Sie setzen in der Auseinandersetzung mit, ich sage jetzt doch mal den Namen, mit der AFD, nicht allein auf moralische Empörung. Sondern da sprach jemand, der ein ernstes Thema – einen Angriff auf die Pressefreiheit, der nebenher mit einem guten Schuss völkischen Denkens versehen war – mit einer Verve, einer Leidenschaft und außerdem mit Humor so zurückwies, dass es jeder verstand. Und nicht nur, wer bei "Reporter ohne Grenzen" arbeitet oder sowieso in der örtlichen Initiative gegen Rassismus mitmacht.

Auf diese Fähigkeit sollten wir an einem Abend, an dem ein Rednerpreis verliehen wird, nochmal eingehen. Es scheint mir so, dass gerade jene, die sich der politischen Aufklärung verschrieben haben, oft eine Sprache verwenden, die sich gefällt in Abstraktion. Die Dinge auf den Punkt zu bringen, das wirkt unfein, mindestens unterkomplex.

Ich weiß ja, die politischen Zusammenhänge SIND komplex. Nicht immer ist alles auf eine schöne Formel zu bringen, die jeder sofort versteht. Und Verkürzungen können auch zur Täuschung werden. Aber: Wir Demokraten sollten doch wohl nicht meinen, wir seien zu vornehm, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Und wir sollten nicht am Ende eine klare, verständliche Sprache ablehnen und sie denen überlassen, die Einfachheit im Ausdruck verbinden mit Verdummung in der Sache, mit Gegenaufklärung und mit Ressentiment.

Lieber Herr Özdemir, Sie sind jemand, dem das in seinen Reden gelingt: komplexe Zusammenhänge zu erhellen, ohne sprachlich zu langweilen. Verständlich zu reden, so wie ein guter Arzt seinen Patienten komplexe Vorgänge erklärt, oder ein begabter Wissenschaftler einem Laien.

Und nebenher motivieren Sie Menschen, auch jene, die nicht jeden Tag mit Politik zu tun haben, sich zu interessieren für die Dinge, die zu besprechen sind. Weil Sie sie vortragen so, dass sich auch jemand dafür interessiert, an dem andere Teile der politischen Debatte meistens vorbeigehen.

Vielleicht hat das wiederum mit ihrem Lebensweg zu tun. Sie mussten sich vielleicht mehr erklären als andere. Politisch, aber auch persönlich. Das fing ja damit an, dass sie ihren Vater beruhigen mussten, als sie nach der mittleren Reife abgingen, um Erzieher zu werden. "Sein einziger Sohn will mit Kindern spielen!" Und dann – ich weiß nicht, was Ihr Vater dazu gedacht hat –, gingen sie noch in eine Partei mit Männern, die stricken. Da werden Sie Ihr rhetorisches Talent schon früh benötigt haben, um Verständnis zu erzielen, beim Abendessen daheim.

Es ist wohl so: Rhetorisches Talent ist eine Begabung, die manche haben und andere eher nicht so sehr. Aber der Versuch, alle Menschen zu erreichen und nicht nur die Insassen der jeweiligen Filterblase, das ist doch auch eine Arbeitsweise und ein Verständnis von politischer Kommunikation, die Sie bewusst pflegen, auf die Sie auch Mühe verwenden. Und die ich mir von mehr Politikerinnen und Politikern aller Parteien der demokratischen Mitte wünsche!

Nicht jeder Grüne reüssiert im Bierzelt in Landshut und nicht jeder Schwabe schafft es sogar zu Applaus im Aachener Karneval. Ihnen gelingt das. Und zwar in einer Sprache, die sich nicht anbiedert, aber zugleich keine Angst hat vor Volkstümlichkeit. Die versucht, Abstraktion nötigenfalls zu reduzieren, aber eben nur so lange, wie es zur Erhellung einer Sache beiträgt. Und genau das unterscheidet sie eben – in Inhalt, Ansatz und Rhetorik – von jenen, die nur auf schnelle öffentliche Wirkung aus sind, die Zusammenhänge grob verkürzen und vereinfachen, um zu manipulieren. Wenn wir das scharf ablehnen und uns gegen Populismus aussprechen, darf das nicht bedeuten, dass wir eine populär verständliche Sprache meiden. Im Gegenteil: die dürfen wir pflegen!

Eine klare Sprache und das Bemühen, alle Menschen anzusprechen, nicht nur Teile der Gesellschaft – das ist das, was ich an Ihrem Wirken als Redner besonders preiswürdig finde, heute in Solingen und auch sonst im Deutschen Bundestag.

Lieber Cem Özdemir, ich freue mich über Ihr rhetorisches Können. Sie sind ein Politiker, dem Menschen gerne zuhören. Und dem auch deshalb etwas zugetraut wird. Das ist viel wert in diesen Zeiten. Ich hoffe, Sie alle konnten in meiner Rede spüren, dass der diesjährige Preisträger für mich jemand ist, den ich anschaue und von dem ich mir in Zukunft noch mehr erwarte als nur, dass er vermutlich die nächste Laudatio bei der schärfsten Klinge halten wird.

Vielleicht wird er dann auch aus, nun ja, beruflichen Gründen verhindert sein, aber das wird die Zukunft weisen…

Herzlichen Glückwunsch, lieber Cem Özdemir!