Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Staedte- und Gemeindetag Guestrow

Menü Suche
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Daniel Kopatsch

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede - ARCHIVBILD

Besuch des Städte- und Gemeindetags Mecklenburg-Vorpommern

23. Oktober 2019, Güstrow

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Das ist ein schöner Morgen. Ich habe das Gefühl, ich bin zu Hause!

Das liegt nicht nur daran, dass ich natürlich wirklich in meinem Heimatbundesland bin. Sondern das liegt daran, dass ich umgeben bin von engagierten Menschen. Sie alle, die Sie als Bürgermeisterin und Gemeindevertreter heute hier versammelt sind, Sie sind nicht nur kommunale Funktionsträger, wie das so nüchtern heißt. Sie sind Menschen, die von ihren Mitbürgern versehen worden sind mit einem wichtigen Sonderauftrag auf Zeit. Und Sie leben damit etwas, was ich in meiner Rede etwas beleuchten möchte, nämlich eine aktive Existenz nicht nur als Bewohner ihrer Gemeinde und unseres Landes, sondern als Bürger. Darauf gehe ich noch ein.

Jetzt gehe ich aber zunächst auf einen ganz besonderen Bürger ein.

Lieber Herr Dettmann, das was Sie in den zurückliegenden drei Jahrzehnten für unsere gemeinsame Heimat getan haben, das möchte ich wirklich ganz vorne ins Schaufenster stellen. Ins Schaufenster, wenn gemeckert wird über "die Politiker". Ins Schaufenster stellen, wenn gesagt wird "es bringt ja sowieso alles nichts, wir hier auf dem Land können ja eh nichts ändern". Ins Schaufenster stellen, wenn gesagt wird, dass Eigeninitiative sich nicht auszahlt. Ins Schaufenster auch, wenn gesagt wird: Die ländlichen Regionen sind auf dem absteigenden Ast.

Und wenn ich Sie so anschaue, möchte ich Sie vor allem und immer wieder herzeigen, wenn Menschen denken: "Engagement macht keinen Spaß".

All diese Eindrücke sind nämlich falsch.

Demokratische Politik KANN nah am Menschen sein.

Eigeninitiative ZAHLT sich aus vor Ort.

Der ländliche Raum HAT Zukunft, wenn man's richtig anpackt.

Und vor allem: Demokratisches Engagement MACHT Spaß, jedenfalls wenn man es so macht wie Sie. Vielen Dank für Ihre Arbeit und vielen Dank, dass Sie uns alle auf diese Weise ein Vorbild sind!

Und jetzt müssen Sie ertragen, dass ich Ihr Wirken einmal schildere als Beispiel dafür, was ich meine, wenn ich sage: Wir sind nicht nur Bewohner, sondern Bürger unseres Landes.

Ich habe gelesen, am Abend des 9. November 1989 haben Sie mit Ihrer Frau getanzt. Das war der Moment der Befreiung, auch wenn wir damals schon vorher kräftig demonstriert hatten. Aber es bleibt nicht bei der Befreiung. Es kommt die Mühe der Ebene. Sie waren im Neuen Forum, und irgendwann hieß es: "Mach' du das". Und was passiert? Sie werden der langjährigste Bürgermeister einer größeren Stadt hier in MV. Und es wird eine Aufgabe, die so sehr in Leib und Magen übergeht, dass Sie sich am Telefon manchmal gemeldet haben mit "Ja, hier ist der Bürgermeister", so habe ich es in der Süddeutschen Zeitung gelesen. Wenn Physiker aus dem Norden politisch aktiv werden, scheint das ja immer eine Sache zu sein, die viele Amtszeiten umfasst….

Aber nochmal zurück zur Situation 1989/90. Sie haben getanzt, sie haben sich gefreut über die neuen Möglichkeiten. Und wahrscheinlich haben Sie einen kräftigen Schrecken bekommen, als auf einmal alle Sie anschauten, als es um den neuen Bürgermeister ging. Ganz ehrlich, es wäre menschlich gewesen, zu sagen: "Ach nein, das möchte ich dann doch lieber den anderen überlassen. Ich halte mich lieber zurück, es bringt ja eh' nichts, man kann ja doch nichts machen." Und außerdem ist es viel bequemer, aus dem Schaukelstuhl heraus oder (heute aus dem anonymen Chatroom) seinen klugen Senf dazuzugeben und die anderen zu kritisieren, die natürlich auch mal Fehler machen. Und es stimmt: Die machen manchmal auch Fehler.

Aber jemand wie Reinhard Dettmann, und er steht ja heute mal beispielhaft für Sie alle, der erkennt in diesem Moment: "Freiheit ist nicht nur Befreiung. Es ist auch Gestaltung der Freiheit. Und das machen wir mal am besten selbst". Und so wendet er sich eben der praktischen Politik zu. Der Gestaltung dessen, was ist. Den Haushaltsplan, die Bauordnung, die Kindergärten, Fernwärme und immer wieder das Thema Arbeitslosigkeit. Das mag dem einen oder andere reichlich problembeladen vorkommen. Denn denken wir nicht lieber an das Vollkommene, an das Endgültige, haben wir nicht lieber eine Vision für das Eigentliche und Schöne statt für das, was wir vorfinden in unserer Gemeinde?

Wenn wir Perfektion als Maßstab anlegen, werden wir die Arbeit nie beginnen müssen. Denn Perfektion ist eben nicht zu erreichen. Eine wunderbare Ausrede für alle, die das "schmutzige Geschäft" Politik ablehnen, den Kompromiss per se "faul" finden und sich lieber zurücklehnen und gar nichts tun. Hier im Saal sind andere Menschen versammelt. Menschen, die das Vorfindliche realistisch anschauen, sich damit aber nicht zufrieden geben. Die sagen: "Wir packen das an, wir suchen den begrenzten Fortschritt, die etwas bessere Lösung, das, was jetzt gerade möglich ist. Und wir lassen uns dabei von Rückschlägen, von Vorläufigen und Nichtperfekten nicht abschrecken." Anders hätte man wohl nicht Bürgermeister einer Gemeinde wie Teterow werden können, die zeitweise 30 Prozent Arbeitslosigkeit hatte.

Sie, lieber Herr Dettmann, und die meisten anderen hier dürfen sich mit angesprochen fühlen, Sie haben ihre Existenz als aktiver Bürger angenommen. Diese Art von Bürger-Engagement gibt es auch bei der Feuerwehr oder in der Kirchengemeinde. Dafür müssen wir jetzt nicht alle Bürgermeister werden. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein: Unser demokratischer Rechtsstaat verkümmert, wenn Menschen nicht begreifen, dass sie befähigt sind zu einer Existenz als aktive Bürgerinnen und Bürger. Das kann als Vorlesepate oder in der Altenhilfe sein, das gilt aber in besonderer Weise eben auch in der Kommunalpolitik. Wenn sich bestimme Leute immer zu klug sind, sich selber zu engagieren, werden sie halt von Leuten regiert, die dümmer sind als sie selbst. Deshalb ist es mir immer wieder ein Anliegen, Menschen zu ermutigen, ja anzustiften dazu, sich zu engagieren für Bereiche jenseits des eigenen Wohnzimmers.

Jeder Bürgermeister und jeder Gemeindevertreter weiß natürlich: meine Ehrenamtlichen im Ort sind meine natürlichen Verbündeten. In vielen Städten und Gemeinden sähe es ganz schön trostlos aus, wenn es nicht das ehrenamtliche Engagement gäbe. Es lohnt sich, diese Verbündeten zu hegen und zu pflegen! Eine andere Gruppe, deren Wirken ich als Bundespräsident immer wieder besonders ins Licht der Aufmerksamkeit bringen wollte, waren dann tatsächlich Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und andere, die vor Ort Verantwortung übernehmen.

Ich erneuere meinen Dank und meinen Ausdruck von Respekt für Ihre Arbeit hier gerne nochmal.

Die Bedeutung der Kommunen wurde in der Vergangenheit vielleicht von vielen von uns etwas unterschätzt. Das ist ein schwerer Fehler. Warum? Weil sie Räume sind, die Menschen Verankerung, Sicherheit und Beheimatung bieten. Sicherheit und Beheimatung sind nicht alles. Im Gegenteil: Ich will, dass die Bürger ihre Freiheit leben können und nicht nur nach Sicherheiten suchen. Aber im Raum der Freiheit zu bestehen und handlungsfähig zu sein, das ist nicht leicht. Vor allem in Zeiten wie diesen, in denen sich so viel so schnell verändert. Regelmäßig ziehen Angstwellen durch unsere Gesellschaft, oftmals professionell befeuert durch Menschen, die von solchen Ängsten profitieren. Und dagegen gilt es anzuarbeiten! Alles was dazu beiträgt, dass sich Menschen als freie Individuen begreifen können, ist daher von Nutzen. Sich frei zu verhalten fällt Menschen beispielsweise leichter, wenn Sie eingebunden sind in ein vertrautes Netz. Wenn sie etwa den sicheren Raum Ihrer Gemeinde haben, den sie überblicken können. Wenn die Dinge dort verlässlich funktionieren. Und wenn Sie wissen: Ich bin nicht anonymen Kräften ausgesetzt. Hier wird vor Ort entschieden von Leuten, die sich hier auskennen. Die selber hier wohnen. Und die auch ansprechbar sind, wenn etwas zu besprechen ist. Oder die sogar selber auf die Bürger zugehen. Das gibt Menschen Halt in Zeiten des Wandels.

Bitte machen Sie sich als Kommunalpolitiker eines selbstbewusst klar. Sie entscheiden nicht nur über das, was vor Ort ansteht. Sondern, das, was in den Kommunen geschieht, ist von großer Bedeutung dafür, dass der ganze demokratische Staat funktioniert.

Der in der vergangene Woche verstorbene Erhard Eppler, der Politik sowohl praktisch (als Bundesminister) wie auch eher grundsätzlich als Programmatiker der SPD betrachtet hat, hat noch in diesem Jahr ein Buch über "die Würde des Politischen" geschrieben. Er beschreibt die Gemeindeordnungen der Länder und sagt:

"Es gibt keine festen Grenzen für Kommunalpolitik. Ein Bürgermeister darf auch Phantasie haben. Er kann etwas zur öffentlichen Aufgabe machen, woran andere gar nicht denken. Er kann ein Netz von Fahrradwegen anregen (….), er kann versuchen, in seiner Stadt (….) eigene Energiepolitik zu betreiben (….). Und er kann in seiner Stadt (….) eine Diskussion darüber anregen, wie die Stadt in zehn Jahren aussehen soll, was sich aus der einen oder anderen vernachlässigten Ecke noch machen lässt."

Und das wünsche ich mir! Ich möchte, dass unsere Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker nicht nur Grußworte vorlesen dürfen oder exekutieren müssen, was in Berlin entschieden wird. Sie sollen aktive Handlungsmöglichkeiten haben. Vor Ort, aber auch als Stimme ihrer Gemeinden. Sie sind doch nun wirklich diejenigen, die in Berlin immer wieder früher und lebensnäher auf das hinweisen, was gerade auf der Agenda steht. Ich nenne ein Beispiel:

Als die bundespolitischen Debatten 2015 ziemlich zerrissen waren zwischen einem sehr bedingungslosen "Refugees welcome" einerseits und genereller Ablehnung von Zuwanderung anderseits, waren es oftmals die Bürgermeister, die ganz gelassen sagten: "Lasst uns genau hinschauen, was möglich ist und was nicht." Ich habe mich jedenfalls darüber gefreut, so viele pragmatische Stimmen aus den Städten und Gemeinden zu hören, die mit Mut und Menschenfreundlichkeit anpacken, aber eben auch genau berichten können, wo es Probleme gibt und wo wir auch steuernd eingreifen müssen.

Die Leute in den Großstädten meinen natürlich, sich bestens auszukennen, damit, wie das mit den Flüchtlingen gehen kann, wie man Klimaschutz macht oder die Agrarpolitik – und sagen das auch ziemlich laut. Aber die Sichtweisen der Praktiker vor Ort, der Kommunalpolitiker – die würde ich in den Debatten der künftigen Jahre gerne lauter und öfter hören. Der oder die nächste Vorsitzende des Städte- und Gemeindetages MV sollte also schon mal nicht zu schüchtern auftreten, wenn sie oder er in Schwerin oder Berlin die Stimme erhebt. Wir wollen sie hören! Und ich wünsche mir, dass uns allen noch etwas klarer wird, dass die Städte und Gemeinden nicht irgendwelche nachgeordneten Bereiche der "eigentlichen Politik" sind, sondern ganz zentral für das Funktionieren unserer ganzen Demokratie. Erstens, weil – wie beschrieben – die Kommunalpolitiker besonders dicht dran sind an den Problemen und zweitens die Bürger einen festen Raum brauchen, indem sie sich beheimatetet fühlen, den sie überblicken und gestalten können. Aber durchaus auch, weil die Kommunalpolitik Strukturen hat, die demokratische Konstellationen besonders deutlich erkennbar werden lassen.

Ich zitiere nochmal Erhard Eppler:

"In der selbstverwalteten Gemeinde lässt sich auch am einfachsten erklären, warum wir mit den Steuern, die wir zahlen, einfach das kaufen, was wir als Einzelne nicht kaufen können, was aber oft mehr wert ist als vieles, was wir kaufen. Ein schönes, helles Schulhaus für unsere Kinder können wir nicht kaufen, einen Gehsteig ohne Löcher auch nicht."

Damit ist gesagt, dass in der Kommunalpolitik besonders deutlich werden kann, was die Gründe demokratischen Handelns und was die Vorteile gemeinsam ausgehandelter Lösungen sind. Und das hat einen hohen Wert in einer Zeit, in der Demokratie immer stärker verächtlich gemacht wird.

Bei der Gelegenheit muss ich ein Wort sagen zu einem Thema, das mir wirklich unbegreiflich ist. Ich spreche von Hass, Drohungen und sogar Gewalt gegen Kommunalpolitiker, ob in den sozialen Medien oder auf der Straße. Wir denken dabei natürlich an die schockierenden Attacken bis hin zum Mord an Kommunalpolitiker, die in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht haben. Aber ich denke auch an das, was viele von Ihnen mitunter erleben, das es aber nicht in die Nachrichten schafft. Hier wünsche ich mir wirklich starke solidarische Gegenkräfte aus den Kommunen, von Menschen, die sagen: "Jetzt reichts. Man muss ja nicht mit allem einverstanden sein, was der Bürgermeister macht. Aber wenn es was zu kritisieren gibt, wird das angesprochen in zivilisierter Weise und ohne Hass und Gewalt." Verlassen Sie sich drauf, auf das Thema komme ich zurück, auch wenn ich nicht beim Städte- und Gemeindetag spreche. Ich komme zum Schluss. Und jetzt bringen Sie mich, lieber Herr Dettmann, in eine schwierige Situation.

Denn ich weiß und habe sogar in Zeitungen gelesen, dass Sie jede Rede traditionell mit einem Schnack auf Platt beenden. Und meistens haben Sie die Lacher damit auf Ihrer Seite.Platt spreken kann ick zwa ouk, aber die Pointe überlasse ich jetzt mal Ihnen und ende mit Worten des Dankes:

An Sie, lieber Herr Dettmann, dass Sie den Städten und Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern so lange Gesicht und Stimme gegeben haben. Sie haben viel Gutes bewirkt für die Menschen im Land!

Und ich danke Ihnen allen für Ihre wichtige Arbeit. Vor 30 Jahren haben Menschen die Freiheit erkämpft. Diese Freiheit gilt es fortwährend zu gestalten. Und mit Ihrer Arbeit verwalten Sie nicht nur kommunale Haushalte, sondern Sie gestalten diese Freiheit als aktive Bürger.

Und deshalb fühle ich mich hier bei Ihnen zu Hause. Haben Sie Dank!