Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Stern-Interview

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck in Schloss Bellevue - ARCHIVBILD

©Guido Bergmann - Bundesregierung

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck in Schloss Bellevue - ARCHIVBILD

Interview mit dem Stern

05. Dezember 2019

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hat dem Wochen-Magazin Stern ein Interview gegeben.

 

Die 50er Jahre

Herr Gauck, gibt es ein besonderes Geräusch, einen Geruch, der Sie an Ihre Kindheit in Rostock erinnert?
Das ist der Geruch der Zigaretten, die wir uns im Herbst aus trockenem Laub gedreht haben, als wir versucht hatten, uns das Rauchen anzugewöhnen. Sie schmeckten schrecklich. Das war ganz gut so. Denn in Wahrheit hat man es sich damit abgewöhnt.


Sie sind elf Jahre alt, als Ihr Vater 1951 spurlos verschwindet. Was war schlimmer – sein Verschwinden oder die Ungewissheit?
Die Ungewissheit. Man war im Alter von Elf ja noch nicht politisch. Es war die Zeit, als wir den 2großen weisen Vater der Völker2 hatten, gütig wie die Sonne – Josef Stalin. Und dann kommst du nach Hause, der Vater ist nicht da. Und keiner sagt dir, wo er ist. Man hört nur von anderen, denen es auch so gegangen ist. Dann fügt sich das Ganze zu einem Bild der Ohnmacht. Erst später haben wir gehört, dass mein Vater in Schwerin in einem Gebäude war, wo schon die Gestapo gewütet hatte – dort tagte das russische Militärtribunal, geheim. Das hat ihn dann für zweimal 25 Jahre nach Sibirien geschickt.


War die Ostsee für Sie Grenze oder Symbol der Freiheit?
Ein Glückssymbol – Freiheit, Wind, Weite. In den 50ern war die Gesamtstimmung der Menschen in der DDR zwar bedrückt, aber doch voller Hoffnung, dass sich etwas ändert. Und Anfang der 50er konnte man immer noch abhauen, die Welt war noch nicht so vernagelt.


Gab es Nazis in der DDR – oder waren die alle im Westen?
Es gab sie reichlich. Nur wenige kannte man. Die SED war übrigens die Partei, die die meisten Mitglieder der NSDAP aufgenommen hat.


1955 kommt Ihr Vater aus Sibirien zurück – mit ihm auch der Hass auf die Russen?
Nein, Hass auf die Russen habe ich nie gespürt. Aber eine Wut auf das Unrecht und die Ohnmacht. Das hat mich schon geprägt. Meine Antipathie gegenüber dem Kommunismus ist dann stärker aus anderen Quellen gewachsen.


Wo gab es mehr Antikommunisten: In der Bundesrepublik oder der DDR?
Eher in der DDR. Weil die Unterdrückung nicht theoretisch war, sondern brutal. Es gibt zwei Arten von Antikommunismus. Einer entsteht aus einer konservativen Weltsicht. Der andere entsteht aus Leiden und Rechtsferne. Das verstehen viele Altlinke im Westen nicht. Deshalb ist für mich der aufgeklärte Antikommunismus ein Geschwisterkind des Antifaschismus.


Jemals den Text von "Auferstanden aus Ruinen" gesungen?
Ich kannte den Text auswendig. Es war aber die Hymne unserer Unterdrücker.


Ihr erster Krawattenknoten?
Als Konfirmand. Der Knoten blieb dann für sehr lange Zeit so. Das nächste Mal hatte ich die gleiche Krawatte beim Abitur an.


Auf einer Skala von 1 – 10. Wie frei war Joachim Gauck in den 50ern?
5. Wegen der Möglichkeit zu gehen.

 

Die 60er Jahre

BRD oder Westdeutschland?
Wir sagten: Der Westen.


Wo waren Sie am Todestag von JFK?
An der Uni in Rostock. Es war ein unglaublicher Schock. Ich weiß noch, wie ich ein halbes Jahr zuvor, im Juni 1963, gebannt vor dem Fernseher saß, als er Berlin besucht hatte. Ich kannte in Rostock damals schon einen, bei dem man West-Fernsehen gucken konnte. Die Menschen waren in jener Zeit, relativ kurz nach dem Mauerbau, den ich als zweite Gründung der DDR bezeichne, total resigniert. Jetzt hatten sie uns endgültig. Jetzt konnte keiner mehr abhauen. Viele hörten auf, offen zu sprechen. Der Anpassungsmechanismus, den es in Diktaturen gibt, verstärkte sich.


Sie werden Pastor in und um Rostock. War die Seelsorge schon politisch?
Natürlich. Das ganze Leben in der Kirche war stark geprägt von den jeweiligen politischen Themen oder auch Belastungen. Es gab einen Hunger der Menschen nach einem alternativen Sinnangebot. Man hat Raum für eine geistige Geborgenheit angeboten. Anders als in der Nazi-Zeit war die Mehrheit der Leute zwar nicht in der Tiefe überzeugt vom System. Allerdings war Kirchenmitgliedschaft ein Aufstiegshindernis. So traten viele aus und die Christen wurden zur Minderheit.


Ihr Sehnsuchtsort in den 60ern?
Vor dem Mauerbau war das West-Berlin. Danach verlagerte sich das an die Orte, wo du noch hingehen konntest – die Ostsee. Du träumst von Schweden oder Hamburg, aber Du sagst Dir: Na ja, auf dem Darß ist es auch schön.


Westfernsehen geguckt?
Bei mir in der Familie, stark bildungsbürgerlich geprägt, hat man das Fernsehen zunächst verachtet. Dann kamen die Olympischen Spiele 1968 – da habe ich gesagt: Ich ertrage es nicht, ich muss das sehen. Dann brauchtest du als erstes einen Konverter und eine Westantenne, der dir das Westfernsehen mit seinem Pal-System in dein Wohnzimmer holte. Viele im Osten kannten damals das Bonner Kabinett besser als das eigene.


Wie lang waren die Haare?
So halb lang, über die Ohren.


Kam man in Rostock an Dope?
Nee.


Trabbi gefahren?
Einen eigenen konnte ich mir lange nicht leisten. Pastoren gehörten zum Niedriglohnsektor. Aber die West-Kirche unterstützte uns. Ich habe als Landpfarrer zunächst ein Motorrad bekommen, später dann auch einen Trabbi.


Haben Sie Rudi Dutschke verstanden?
Ich habe seine Haltung verstanden – dieses Sich-Nicht-Zufrieden-Geben mit dem, was mich umgibt. Seine politische Ausrichtung – überhaupt nicht. Ich konnte nicht verstehen, wie man so blöd sein kann, im Kommunismus sein Heil zu sehen. Die Kraft der Realität war stärker als die Kraft der Gedanken, die ich in den Texten fand. Ich habe spät erkannt, dass eine demokratische Linke mit einem emanzipatorischen Ansatz ein Gewinn für die Gesellschaft ist.


1969. In der Bundesrepublik wird Willy Brandt Bundeskanzler. Haben Sie damit irgendwelche Erwartungen verknüpft?
Ich habe mich von Herzen gefreut, war damals eher so ein konservativer Sozialdemokat im Kopfe. Dass dieser freie Staat im Westen einen Widerständler, der im Exil gewesen war, zum Kanzler macht – wunderbar.


Wie frei war Joachim Gauck in den 60ern?
3,5. Aber nur wegen der geistigen Freiheit.

Die 70er Jahre

"Vom Himmel hoch, da komm ich her" oder Stairway to heaven?
Jedenfalls nicht "Stairway to heaven".


Sie sind Stadtjugendpfarrer in Rostock. Wie rebellisch war die Jugend?
Hinlänglich. Wir Jugendpfarrer mussten manchmal schon ein bisschen zur Vorsicht raten, nach dem Motto: Leute, übertreibt es nicht, Knast ist nicht schön. Oder einem potenziellen Wehrdienstverweigerer klar machen, dass er dann nicht mehr studieren konnte. Gut war, dass bei uns über die relevanten Themen: Menschenrechte, Militarismus oder Ökologie offen und kritisch gesprochen wurde – anders als in den Schulen und der Öffentlichkeit.


Im Mai 1971 löst Erich Honecker Walter Ulbricht als Erster Sekretär der SED ab. Ein guter Tag?
Unser Gefühl war: Nach Ulbricht kann es nur besser werden. Ulbricht war schrecklich, seine Zeit verbunden mit viel stalinistischem Unrecht. Mit Honecker gab es zunächst eine Phase eines gewissen Aufatmens.


Ihr Held, Ihre Heldin bei den Olympischen Spielen in München?
Mark Spitz, der war so ungeheuerlich. Sieben Mal Gold.


Angst vor der Stasi gehabt?
Angst liegt mir nicht so. Ich habe das runtergespielt. Die Ehefrau und Mutter meiner vier Kinder hatte oft Angst. Wenn wir weg waren hat sie beim Zurückkommen oft gesagt: Die Stasi war hier. Ich habe dann immer so getan, als sei das total übertrieben. Allerdings: Sie hatte mehr Recht als ich. Mich hat damals besonders erbittert, dass sie Jugendliche als Spitzel angeworben haben. Das haben Betroffene mir erzählt. Ich war so wütend darüber, dass ich mich bei staatlichen Stellen beschwerte.


Mal an die innerdeutsche Grenze gefahren?
Eigentlich hat man sich das nicht angetan, außer beim Berlinbesuch ans Brandenburger Tor gehen. Aber eine Erinnerung an damals: Ich bin mit meinen kleinen Söhnen auf der Mole in Warnemünde und die "Dänenfähre" fuhr an uns vorbei, das Schiff nach Gedser. Die Jungs riefen: Oh, da möchten wir auch rauf. Ich sage: Nein, wir können da nicht drauf, das dürfen nur Menschen aus dem Westen. Die beiden fanden das total schrecklich. Was machst du als Vater? Du sagst: Das Eis hier am Strand schmeckt viel besser als das Eis in Dänemark. Du bist Zuhause, es ist keine Mauer zu sehen – und du machst doch eine Grenzerfahrung.


Bei Biermanns Ausbürgerung wütend oder enttäuscht?
Wütend. Wir haben die ganze Nacht vorm Fernseher gesessen, ich hatte ein Tonbandgerät und habe das Köln-Konzert aufgenommen. Wir haben gelacht und geweint. Und später kam die Freude darüber, dass es tatsächlich Künstler gewagt haben, gegen die Ausbürgerung zu protestieren.


Jemanden gekannt, der einen kannte, der einen der 10000 VW-Golf abbekommen hatte, den die SED gekauft hatte?
Nee. Bei uns ist keiner gelandet.


Wie frei war Joachim Gauck in der 70er Jahren?
5. Es gab das Gespür, dass man Vertreter einer sinnvollen gesellschaftlichen Alternative war.

Die 80er Jahre

Gab es "Schwerter zu Pflugscharen"-Aufnäher in Mecklenburg-Vorpommern?
Natürlich. Wir durften das Zeichen zwar nicht drucken lassen. Besonders findige Leute hatten dann die Idee, Aufnäher auf Fleece-Stoff zu drucken, ein Motiv aus dem Alten Testament, aus dem Prophetenbuch Micha. Es war ein Friedenssymbol. Wir dachten: Das können sie nicht verbieten. Haben sie aber. Und auch die Kirchentage im Lutherjahr 1983 hatten Signalwirkung, die über die kirchlichen Milieus hinausging.


Haben Sie mitbekommen, dass sich in der Bundesrepublik die Grünen gründeten?
Na klar. Der Westen war für uns der Ort, aus dem die Moderne kam. Interessant war, dass Du im Westen einfach eine Partei gründen konntest. Das ging bei uns ja nicht. So kriegst Du auch wieder deine eigene Begrenztheit vor Augen geführt.


1981. Helmut Schmidt besucht das hermetisch abgesperrte Güstrow. Haben Sie sich über die Sicherheitsmaßnahmen gewundert?
Es war grotesk! Die Stasi hat Volk gespielt. Bei mir war es eine Mischung aus Amüsement und Verachtung. Ich kannte eine, die es geschafft hat, dabei zu sein: Frau Beyer aus meiner Gemeinde. Tolle Geschichte. Sie kauft sich in Rostock am Hauptbahnhof eine Fahrkarte, obwohl an dem Tag eigentlich kein Zug nach Güstrow fahren soll, wie ihr die Transportpolizisten erklärten, setzte sich dann einfach in den am Bahnsteig stehenden Zug, der angeblich nicht fahren sollte und kommt in Güstrow an, wo sie vor dem Bahnhof von einem Stasi-Offizier gefragt wird: Was machen Sie denn hier? Darauf sagt sie: Habe ich Sie gefragt, warum Sie mich so komisch anquatschen? Da denkt der: Das ist eine von uns. Frau Bayer kann Helmut Schmidt aus nächster Nähe anschauen.


Vietnamesen waren Fidschis?
Ja, genau. Aber nicht mein Sprachgebrauch. Ich wusste schon, was sich gehörte.


Jemals weiter in die Ostsee rausgeschwommen oder gesegelt als erlaubt?
Man durfte auf der Ostsee nicht segeln, dazu bedurfte es eines ganz besonderen Scheins. Ich hatte zwar den Rettungsschwimmer, habe aber keine Versuche gemacht, schwimmend zu entkommen. Außerdem wollte ich ja nicht endgültig weg. Ich wollte mal raus.


Oft über Theodor Adornos Satz nachgedacht: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen?"
Darüber musste ich nicht nachdenken, weil ich von Anfang an wusste, dass der Satz falsch ist. Es gibt unendlich viele richtige Leben im falschen.


Ihren Söhnen wird das Abitur und damit das Studium verweigert, sie übersiedeln 1987 in die Bundesrepublik. Sie weinen ihnen am Bahnhof "keine Träne" nach. Auch ein Nachweis Ihrer besonderen Identität?
Das war etwas anderes. Beide Söhne stellen den Ausreiseantrag. Ich gönne ihnen die Freiheit – und gleichzeitig tut es mir leid, dass wieder zwei von uns weg sind. Nicht nur von der Familie. Sondern von denen, die dagegen sind. Deshalb ist in der Kirchenszene das Mitgefühl mit den Ausreisenden immer begrenzt gewesen, wir wollten Menschen um uns haben, mit denen wir etwas verändern können. Dass ich meine Gefühle zähmte, ist ein Kapitel aus dem großen Buch "Entfremdung". Du lernst das in einer Diktatur, weil du nicht ständig mit dem Kopf gegen die Wand rennen willst. Du legst dir eine Hornhaut auf der Seele zu.


Beim Mauerfall geweint?
Ja, da war ich glücklich. Aber noch glücklicher war ich, als meine Rostocker mit mir zum ersten Mal zusammen auf der Straße waren. Vor der Einheit kam die Freiheit. Erst müssen Leute auf der Straße stehen, dann fallen Mauern.


An Kohls 10-Punkte-Programm zur deutschen Einheit geglaubt?
Es war eine Perspektive. Viele meiner Freunde waren aber äußerst skeptisch. Wir dachten ja erstmal an die Heilung der Gesellschaft, an eine totale Reform. Kohl war damals weitsichtig und hatte auch das richtige Bauchgefühl. Und das Volk hat das gespürt. Es hat das gewollt, was funktioniert.


Wie frei war Joachim Gauck Ende der 80er?
Gefühlte 10. Enge und Ängste waren überwunden, Freiheit leuchtete. Die Sorgen waren noch hinter dem Horizont.


Die 90er Jahre

Ihr Gefühl, als Sie nach dem 18.März 1990 das erste Mal neben den Genossen von der PDS in der Volkskammer saßen?
Am 18. März kam ich aus dem Wahllokal und hatte Tränen in den Augen. Ich musste 50 Jahre werden, um sagen zu können: Ich habe gewählt! Als ich dann als gewählter Abgeordneter die PDSler in der Volkskammer sah, habe ich mich schon gefragt: Was haben die hier zu suchen? Ich habe sie zwar immer herzlich abgelehnt, ich konnte sie bekämpfen, aber ich konnte sie nicht hassen. Ich musste begreifen: Jetzt haben sie eine neue Würde: sie sind genauso gewählt wie ich.


Im Juli 1990 nimmt die Treuhand ihre Arbeit auf. Richtig, falsch oder alternativlos?
Ich bezweifle, dass es andere Strategien gegeben hätte, was mit einem anderen Datum zusammenhängt, dem 1.Juli. Das war der Tag, an dem die D-Mark kam. Ein Schicksalsdatum. Jeder Abgeordnete in der Volkskammer wusste: Die Löhne, die jetzt ausgezahlt werden und die Produkte, die hergestellt werden, passen nicht zusammen.


Wann haben Sie Angela Merkel das erste Mal bewusst wahrgenommen?
Als sie Sprecherin im Demokratischen Aufbruch war. Es war aber noch kein besonders nachhaltiger Eindruck.


Größter Erkenntnisgewinn bei Lektüre einer Stasi-Akte?
Der größte: Wir haben immer eine Wahl. Und der zweite: Diktatur ist unmenschlich und arrogant.


Haben Sie an Francis Fukujamas "Ende der Geschichte" geglaubt?
Fukujama hat ja selber nicht so schlicht daran geglaubt, wie die deutsche Publizistik es immer darstellt. Ich gehörte zu denen, die glücklich waren, dass ein imperialer Machtanspruch an seine Grenze gekommen war. Dass eine Diktatur, die vorgeblich die Erlösung einer ganzen Menschheit zum Ziel hatte, in sich zusammenfiel. Das ist schon ein wichtiger Markstein in der Politikgeschichte. Und trotzdem haben die Jahre des Kommunismus tiefe Spuren bei den Menschen hinterlassen, nicht nur bei den echt Traumatisierten. Ein Defizit an Eigenverantwortung wirkt bis heute nach.


Rostock-Lichtenhagen, August 1992. Ein Pogrom?
Wenn ich wütend bin, nenne ich es so. Es ist jedenfalls widerlich gewesen.


"Besser-Wessi mit Bierflasche erschlagen. Ganz Bernau freut sich, dass er tot ist" – die BZ-Schlagzeile wahrgenommen?
Das ist ein bisschen Neandertal. Es ist natürlich viel einfacher, jemand anderem die Schuld an seinem Elend zu geben, als dass er nachdenkt über seine Anpassungsschwierigkeiten, seinen Gehorsam oder seine Mitwirkung bei der Stabilisierung der Diktatur. All das tut weh. Und Menschen wollen nicht dahin gehen, wo es weh tut. Es ist leichter sich gegen andere als gegen sich selbst zu richten.


Wie frei war Joachim Gauck in den 90ern?
9,5.

Die 00er Jahre

Oktober 2000 hören Sie als Chef der Gauck-Behörde auf. "Die Stasis waren nur kleine Arschlöcher", die Handlanger der SED. Hat Biermann recht?
Es gibt unter den A… solche und solche. Und welche, die darf man nicht als klein bezeichnen, weil es schreckliche Menschenfeinde sind. Und es gibt arme, verführte Wesen, da kannst du nur Mitleid haben. Und solche, die sich unter großen Schwierigkeiten wieder losgesagt haben. Es ist eine Verratsgeschichte, wie wir sie in Deutschland schon einmal erlebt haben. Es gab aber auch Menschen, manchmal sogar Genossen, die Nein gesagt haben zur Zusammenarbeit mit der Stasi. Der Kern von Biermanns Aussage ist richtig: Die Stasi war Handlanger. Deshalb war unsere Entscheidung, die Stasi-Leute stärker zu sanktionieren als andere, nur bedingt richtig. Es wäre besser gewesen, die SED-Führungselite bis runter zur Kreisleitung genauso zu sanktionieren.


Haben Sie mal mit Angela Merkel mal gemeinsam gesungen?
Gebrüllt haben wir zusammen. Als wir 2014 in Brasilien Weltmeister wurden, da haben wir uns in den Armen gelegen. Wir haben auch mal auf einer Geburtstagsfeier gemeinsam gesungen. Ein paar aus meiner Rostocker Kirchengemeinde haben einen Choral angestimmt, und ruckzuck stand Angela Merkel unter meinen Freunden und hat mitgesungen.


Den Angriff an 9/11 persönlich genommen?
Daniela rief mich an: Guck bitte ins Fernsehen! Das war für mich – verstörend. Ich habe gar keinen richtigen Begriff. Verstörend. Terrorismus in diesem Ausmaß in der Mitte Amerikas, das ist mir in die Knochen gefahren.


Stolz darauf, einer Behörde den Namen gegeben zu haben?
Mein alter Herr hat das gröblichst missbilligt. Ich sage: Vater, an mir liegt es nicht. Dann habe ich ihm noch mal den Titel der Behörde vorgelesen. Das sind vier Zeilen. Das passt in keine Überschrift. Gauck-Behörde schon. Geschluckt habe ich aber, als das Verb "gaucken" im Duden aufgetaucht ist.


Jemals Mitleid mit Gregor Gysi gehabt?
Nein. Warum? Dem geht´s doch so gut.


Jemals Mitleid mit Helmut Kohl gehabt?
Ja. Auch. Aber auch nur begrenzt. Nach der Spendenaffäre war ich allerdings empört. Geht´s noch? Es war eine große Leistung von Angela Merkel, dass sie die Zeit von Helmut Kohl beendet hat. Ich hätte auch ein besseres Verhältnis zu Herrn Gysi, wenn er ein besseres Verhältnis zur Wahrheit hätte. Ich habe fast Freundschaft geschlossen mit Günter Schabowski, weil er eine existentielle Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit hatte. Wenn jemand zur Wahrheit findet, ist Versöhnung leicht.


Haben Sie blühende Landschaften gesehen?
Ja. Aber zu viel Ödnis auch. Aber hätte Helmut Kohl sagen sollen: Leute, auf uns wartet eine graue Wüste von 15 Jahren? Du kannst dir auch keine Bundeskanzlerin wünschen, die sagt: Wir schaffen das nicht. Deshalb sind politische Signale oft nicht direkt deckungsgleich mit der Wirklichkeit.


Das Internet bereits als große Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden erkannt?
Ich habe eher das demokratisierende Element gesehen, die Vervielfachung von Information. Da habe ich mir mehr Gewinn versprochen. Die Gefahren habe ich nicht gesehen.


Die Freiheitsfrage…
Was soll ich sagen? Ich fühlte mich nicht unfrei.

Die Zehner-Jahre

Horst Köhler schmeißt als Bundespräsident hin. Darf man das?
Nur wenn man sehr, sehr gute Gründe hat.


Haben Sie nach der Niederlage gegen Christian Wulff heimlich eine Träne verdrückt?
Nee. Ich war dankbar und stolz. Ich trat in eine luxuriöse Lebensphase ein. Einige titulierten mich als Präsidenten der Herzen, ohne dass ich etwas zu leisten hatte. Ich bin durchs Land gefahren und habe über Demokratie und Diktatur gesprochen, über Freiheit und Verantwortung. Das war eine glückliche Zeit für mich.


Die hörte zwei Jahre später auf…
Richtig. Es kam anderes Glück, aber das kam verzögert.


Verändert sich der Gang als Staatsoberhaupt?
Ganz eindeutig: Ja. Gerade, wenn du dich gerne mal locker oder flapsig äußerst oder ein selbstbewusster Typ bist, dann musst du dich schon ziemlich erziehen. Da ist es gut, wenn man ein bisschen älter ist und nicht denkt, man muss dem Ego noch mehr zuführen. Die Existenz als Verkörperung einer Institution muss etwas anderes sein als die Verkörperung eines politischen oder kulturellen Ich. Es liegt etwas auf dir, das du tragen musst. Ich spürte im ersten Jahr nicht, dass es schön ist. Ich spürte, dass es Arbeit ist. Ich musste darauf achten, bis in die Nebensätze, dass ich nicht als Nebenregierung wahrgenommen werde.


Angela Merkel hat sich Ihrer Ansicht nach in der Flüchtlingskrise übernommen. Sie sagt: "Wir schaffen das." Sie sagen: "Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich."
Das ging noch gerade. Darüber hinaus geht es nicht. Indem ich mich mit der Bevölkerung und denen, die sie repräsentieren, darüber verständige, wer wir sind und was wir können, gebe ich der Regierung noch keine Zensur. Meine politische Absicht war, den Rechtsaußen-Leuten, und allen Demokratiefeinden, die Debatten- und Deutungshoheit zu nehmen über die Probleme, die mit dem Flüchtlingszustrom eben auch verbunden sind.


Ihren emotionalen Höhepunkt erleben Sie bei der Übergabe des DFB-Pokals an Borussia Dortmund nach dem 5:2 gegen Bayern.
Das war sehr schön, aber natürlich nicht der Höhepunkt. Es war auch nicht die Begegnung mit den gekrönten Häuptern, sondern die Begegnung mit den vielen Freiwilligen. Das klingt gutmenschenmäßig, aber es stimmt. Dieses Land ist wirklich durchzogen von einem Netzwerk der Guten. Menschen zu treffen, die oft schon über Jahrzehnte ehrenamtlich unterwegs sind, ist unglaublich inspirierend. Ich spürte: Es gibt nachhaltiges Glück.


Haben Sie AfD-Sympathisanten im Bekanntenkreis?
Eher nicht. Ich habe Merkel-Kritiker in meinem Bekanntenkreis, die würden aber hoffentlich nicht so weit gehen, die AfD zu wählen. Ich habe etliche Bekannte, die Probleme haben mit einer überzogenen Form der political correctness.


Ist es schade um die SPD?
Ja. Wir brauchen die SPD.


Wie frei waren Sie in diesem Jahrzehnt?
Da war ich Bundespräsident. 9,2.

Was Bleibt?

Ihr bestes Jahrzehnt?
Wenn ich die Grenze verschieben dürfte, würde ich sagen: Die 80er Jahre ab 1988. Nicht das Jahrzehnt, in dem ich auf dem Gipfel stehe, sondern wo in mir etwas wächst und wo durch mein Mittun sich draußen fundamental etwas ändert. Dieses Element, das Befreiung möglich ist.


Das beste Jahrzehnt der Bundesrepublik?
Schwer zu sagen. Ein spätes. In den Jahrzehnten nach der Einheit wächst Deutschland in ein Format geprägt von Rechtssicherheit, Wohlstand, institutioneller Stabilität und einer aktiven Zivilgesellschaft, das wir selten hatten in der Geschichte. Trotz manch ungelöster Probleme: Eine bemerkenswert gute Zeit.


Alles in allem stolz, ein Deutscher zu sein?
Nein, das kann ich so allgemein nicht sagen. Aber ich bin stolz, ein Bürger dieses Deutschlands zu sein – und der Präsident dieses Deutschlands gewesen zu sein.


Gibt es einen besten Satz von Joachim Gauck?
Na ja, wichtig ist mir allerdings: Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung.


Die zehn wichtigsten Ostdeutschen der Nachwende-Zeit: Angela Merkel. Manfred Krug. Wolf Biermann. Kati Witt. Matthias Sammer. Neo Rauch. Matthias Platzeck. Gregor Gysi. Sahra Wagenknecht. Franziska van Almsick. Joachim Gauck.
Nein, der Liste stimme ich natürlich nicht zu.


Es ist sowieso einer zu viel. Sie müssten einen rausnehmen.
Aus dieser Liste nehm' ich mich nicht raus.

 

Das Interview führten: Andreas Hoidn-Borchers und Axel Vornbäumen