Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Guido Bergmann

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

Interview mit der Welt am Sonntag

20. Dezember 2020, Berlin

Welt am Sonntag: Herr Bundespräsident, wenn Sie einem Freund im Ausland heute die Befindlichkeit der Deutschen erklären müssten, was würden Sie ihm sagen?

Joachim Gauck: Die Deutschen sind traditionell eher sorgenvoll, neigen zu Aufgeregtheit, mitunter auch Hysterien. Aber heute nehme ich vor allem eine Melange aus Rationalität und Besorgnis wahr. Irrationale Angst herrscht gegenwärtig eher in einer Minderheit. Die große Mehrheit verhält sich in dieser von Unsicherheit geprägten Zeit sehr besonnen.

Ist die Demokratie bisher eher gestärkt oder geschwächt durch die Pandemiewellen gekommen?

Es zeigt sich, dass die mitunter sehr lauten Proteste und die Verschwörungsideologien einer Minderheit die Mehrheit nicht erreichen. Aber die Demokratie musste während der Pandemie auch lernen: Mehr Debatte ermöglichen, das Parlament nicht in die zweite Reihe schicken, und auch, dass verantwortliches Regierungshandeln nicht einfach Stimmungen in der Bevölkerung folgen kann. Es braucht Mut, das als richtig Erkannte manchmal auch gegen Widerstände durchzusetzen. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland zweifelt nicht an unserer Demokratie. Ich nehme auch eine große Ernsthaftigkeit und Gelassenheit wahr.

Pandemie und Corona sind die Worte des Jahres. Ein drittes gehört dazu: Verhältnismäßigkeit. Hat die Politik diese Verhältnismäßigkeit in der Pandemie gewahrt?

Die Regierenden stehen in dieser Pandemie unter einem doppelten Erwartungsdruck: Dem Einen gehen die Maßnahmen zu weit, dem Anderen nicht weit genug. Die Verhältnismäßigkeit ist zudem schwer zu gestalten, denn das erforderliche Wissen zur Eindämmung des Virus ist unvollständig und erweitert sich beständig. Und der Schutz des Lebens will immer gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Aber gerade das Ringen um das richtige Maß zeigt doch, dass die Regierung die notwendige Verhältnismäßigkeit ihres Handels sehr erst nimmt. Dies führt zeitweilig eher zu einer gewissen Unentschlossenheit oder zu wechselnder Taktik in der Politik. Wer nun die Gefahr einer autoritären Regierung heraufbeschwört, dem kann ich nur raten: Schaut die Regierungen auf Bundes- und Länderebene an. Seht ihr irgendeine Regierung im Westen, und seit der Einheit auch im Osten Deutschlands, die tatsächlich darauf orientiert war oder ist, ins autoritäre Herrschen zu streben? Ihr werdet keine einzige finden.

Vergangene Woche hat der Münsteraner Verfassungsrechtler Oliver Lepsius trotz der Präzisierung des Infektionsschutzgesetzes hervorgehoben: Ein diffuses Infektionsgeschehen rechtfertige verfassungsrechtlich nicht diffuse Eingriffe. Hat er recht?

Von einem Lehrstuhl aus erscheint die gesellschaftliche Wirklichkeit oftmals anders als von der Regierungsbank aus. Es ist manchmal so, dass die beste aller Welten nicht herstellbar ist. Aber natürlich kann es den Regierenden passieren, etwas zu restriktiv zu agieren oder etwas zu verschlafen. Und mit fortschreitender Zeit werden die Eingriffe der Regierung auch zielgenauer.

Lepsius kritisiert auch die Moralisierung, mit denen die Einschränkungen begründet werden. Er sagt, wer die Versammlungsfreiheit genießen will, muss verfassungsrechtlich nicht auch staatliche Schutzpflichten erfüllen. Wie sehen Sie das?

Neben der verfassungsrechtlichen Norm gibt es auch den gesellschaftlichen „common sense“. Er besteht aus dem uralten Gebot: Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg’ auch keinen anderen zu. Auch wenn es nicht im Grundgesetz steht, so sollte es doch eigentlich Konsens sein, dass wir aufeinander achten, gerade in lebensbedrohlichen Zeiten.

Und die Moralisierung?

Es wird immer passieren, dass auch mit moralischen Kategorien gearbeitet wird. Allerdings sollte damit sparsamer umgegangen werden. Sachfragen sollten mit Sachargumenten diskutiert werden. Etwa die Frage: Warum kommen FFP2-Masken erst spät zum Einsatz? Wie wirksam ist die Corona-App? Die Differenz in der Sache darf nicht automatisch zu Freund-Feind-Situationen führen. Wir neigen aber insgesamt zur Moralisierung. Nehmen Sie die Klimadebatte oder die Debatte um die Aufnahmen von Flüchtlingen. Auch die Auseinandersetzung mit der AfD ist davon gekennzeichnet. Es gibt eine Reihe von Themen, mit denen man sehr rational gegen die AfD argumentieren kann.  Wir brauchen nicht immer gleich die moralische Verdammnis. Die Wirkung der Moralisierung in der Debatte ist stark. Nur: Sie nutzt sich ab. Deswegen bin ich darüber besorgt, dass oftmals eine moralische Voreiligkeit die notwendigen Klärungen in der Sache erschwert.

Halten Sie dieses Verhalten für besonders deutsch?

Ja, weil wir so grundsätzlich denken und auf der richtigen Seite stehen wollen. Bemerkenswert ist aber, dass sich in einer Nation, die lange autoritär geprägt wurde und eine gewisse Neigung zum Gehorsam hatte, sich eine so liberale Grundhaltung etabliert hat.

In der erste Welle der Pandemie hat Bundestagspräsident Schäuble darauf aufmerksam gemacht, dass der Schutz des Lebens nicht der oberste Wert unserer Verfassung ist. Wie sehen Sie das?

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat formuliert, dass der Schutz des Lebens kein absoluter Wert ist, da die Grundrechte sich gegenseitig beschränken. Die Frage ist aber nicht nur verfassungsrechtlicher sondern auch theologischer Natur. Damit haben sich Menschen zu allen Zeiten auseinandergesetzt. Denken Sie an unsere Klassiker, an Schiller: „Das Leben ist der höchsten Güter nicht.“ Es gibt bedeutende Menschen, die ihre Leben für andere geopfert haben. Ihnen war die Liebe zum Mitmenschen mehr wert als das eigene Leben.

Gingen frühere Generationen anders mit dem Tod um als heute?

Die Gesellschaft ist insgesamt empfindlicher geworden. Die jüngeren Generationen können sich nur noch schwer die Lasten vorstellen, die die Generation meiner Eltern- und Großeltern tragen mussten. Ich will das nicht bewerten. Ich stelle einfach fest: Die Stressresilienz ist schwächer geworden. Das ist eine ganz merkwürdige Folge des langen krisenfreien Lebens, zu der auch gehört, dass die Gesellschaft insgesamt nicht wirklich glücklicher geworden ist.

Ich habe den Eindruck, dass der Tod vor dem 100. Geburtstag mehr und mehr als ein peinlicher Kunstfehler der Medizin gilt. Teilen Sie diesen Eindruck?

Die Menschen der Moderne stehen auf dem Kriegsfuß mit der Endlichkeit. Das passt nicht zum Weltbild – zumal in einer Zeit, in der religiöse Sicherheiten verloren gehen. Krankheit und Tod passen nicht zum Verständnis vom ewigen Gelingen.

Hätte in einer Pandemie, die – sagen wir – in den 50er- oder 70er-Jahren gewütet hätte, die Religion eine wichtigere Rolle als heute gespielt?

Das denke ich schon. Damals haben mehr Menschen Trost im religiösen Angebot gesucht. Das ist vielfach verloren gegangen. Die Menschen sind mehr und mehr stolz darauf, dass sie dieser religiösen Bindung nicht mehr bedürfen. Aus diesem Stolz heraus ist aber nicht mehr Lebensfreude entstanden. Eher ein hektisches Suchen nach dem schnellen Glück. Der Zugewinn, von der Religion befreit zu sein, ist nicht so recht erkennbar. Die Gesellschaft ist ohne die religiöse Bindung auch nicht menschlicher geworden.

Seit Kriegsende haben sich die Kirchen – besonders die evangelische Kirche – zu allen zentralen Fragen der Gesellschaft lauthals geäußert. Täusche ich mich, wenn ich sage, dass die Kirchen in dieser Pandemie versagt haben, weil sie zu Halt gebenden Worten nicht in der Lage sind?

Sie sind nicht sicher, dass sie mit einfachen religiösen Botschaften eine angemessene Antwort geben können. Dahinter steckt ein uraltes Problem – die Theodizee-Frage, also die Frage: Wie verteidigen wir Gott vor dem Vorwurf, dass das Böse in der Welt existiert. Bei jedem großen Unglück, wie jetzt der Pandemie, lässt sich leicht fragen, aus welchem Grund Gott das Leid zulässt. In früheren Jahrhunderten sagte die Kirche, es sei eine Strafe Gottes. Je mehr der Mensch seine Gestaltungsmöglichkeiten erkannt hat, desto mehr ist ihm bewusst geworden, dass er die Fragen nach unerklärlichem Übel nicht lösen kann. Vielleicht erwarten manche Menschen ein tröstende Antwort aus dem religiösen Bereich, die Theologen aber in einer traditionellen Form so nicht mehr verantworten mögen. So bleibt ein Unerlöstsein und Unerklärtsein. Womöglich machen sich die Menschen zu wenig klar, dass das Aushalten des Verstörenden und das Unerlöstsein zur Daseinsform des Menschlichen gehört. Die Religionen versuchen das Leiden daran zu mindern.

Die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter den Beschlüssen der Regierung. Sehen Sie die Gefahr, dass diese breite Unterstützung bröckelt?

Diese Gefahr sehe ich nicht als besonders groß an. Wenn irgendeine Person mit dem Aluthut auf dem Kopf kommt, überzeugt das keinen. Hätten wir einen großen Star, ein Idol, das sich der Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen anschließt, sähe die Lage vielleicht anders aus. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die Partei, die besonders intensiv mit unserem System hadert, keinen Honig aus ihren Attacken saugen kann.

Woher kommt die Neigung hierzlande, alle Argumente mit Bezügen auf die Nazizeit zu verbinden: Sophie Scholl, Anne Frank?

Wir greifen gern auf die letzten, möglichst alle überzeugenden Dinge zurück. Da muss der Andere dann schweigen.

Wie erklären Sie sich eigentlich, dass es doch immer wieder laute Stimmen gibt, die die repräsentative Demokratie für nicht ausreichend demokratisch halten? Sind wir wirklich im Westen angekommen, wie Heinrich-August Winkler behauptet?

Schauen Sie auf die Vereinigten Staaten. Da versuchte ein Präsident die Macht der Institutionen anzutasten. Mich hat das mehr erschreckt als die illiberalen Bewegungen in Europa. Die Frage bleibt, wie wir die Akzeptanz für unsere parlamentarische Demokratie verbreitern. Als ich 1989 in die Politik eintrat, erschien mir der plebiszitäre Gedanke durchaus als ein Weg, noch mehr Menschen zu beteiligen. Bei der Kompliziertheit unserer Welt und dem Zwang, Plebiszite letztlich auf Ja-Nein-Fragen zu reduzieren, bin ich davon abgekommen. Heute bin ich bei Heinrich-August Winkler. Ich sehe auch: Je weiter sich die Demokratie entfaltet, desto größer wird der Freiheitsdrang auch in zum Teil identitätsorientierten Subgruppierungen. Und obwohl ich dem nur äußerst begrenzt folgen kann, müssen erkannte Defizite in Demokratien durch möglichst gemeinsame Anstrengungen behoben werden. Bisher hat auch dabei unser repräsentatives System gut funktioniert. Wenn es Möglichkeiten gibt, die Mitwirkung der Menschen zu vergrößern, soll man es ausprobieren, ohne aber Chaos zu verbreiten. Jedenfalls bin ich dagegen, unser System umzustoßen.

Gehen Sie optmistisch oder pessimistisch ins neue Jahr?

Ich bin Optimist, weil ich gelernt habe zu vergleichen. Ich betrachte die Phasen unserer Geschichte und die Jahrzehnte, in denen ich mich bewegt habe. Auch vergleiche ich die Lage der Freiheit, der Menschenrechte und der Kultur unseres Landes mit denen in anderen Staaten. Wenn ich dies tue, kann ich nur optimistisch sein. Wenn ich nur auf das Ideal schauen würde, wie es die Menschen der politischen Ränder tun, dann kann die Wirklichkeit nur furchtbar sein. Das ist sie aber nicht. Auch bin ich optimistisch, wenn ich auf Deutsche heute und die der früheren Zeiten schaue. Ich betrachte eine Bevölkerung, die in ihrer großen Mehrheit rechtstreu und demokratisch ist. Das stimmt mich optimistisch.

 

Das Gespräch führte Dr. Jacques Schuster.