Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Namensartikel - Die ZEIT

Menü Suche
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Jesco Denzel

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

Namensartikel in der "ZEIT"

24. April 2020

Der vorliegende Text von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck ist eine Entgegnung auf den Artikel "Der Präsident und wir" in der Wochenzeitung "DIE ZEIT". Darin kritisierten die Autorinnen Alice Bota, Özlem Topçu und Khuê Pham sein Verständnis von Toleranz. Der Artikel von Joachim Gauck erschien am 24. April 2020 unter dem Titel "Grenzen ziehen, aber nicht ausgrenzen".

 

Es freut mich, dass öffentliche Auseinandersetzungen über das Zusammenleben in unserer Demokratie seit jeher zum Profil der ZEIT gehören. Deswegen ergreife ich gern die Gelegenheit, auf Alice Bota, Özlem Topçu und Khuê Pham zu reagieren, die ich in meiner Zeit als Bundespräsident anlässlich ihres Buches "Wir neuen Deutschen" ins Schloss Bellevue eingeladen hatte. Heute begegnen wir uns anders, einfach als Bürger, denen die Zustände im Land niemals gleichgültig sein werden.  

Der Hauptvorwurf, den mir die drei Autorinnen machen, lautet: Obwohl sich Teile unserer Gesellschaft in den letzten Jahren radikalisiert haben, obwohl wir mit mehr Hass und Gewalt insbesondere von "rechts" konfrontiert sind, zeigte ich unverändert "Verständnis für die nach rechts Abgedrifteten". Und sie gehen davon aus, dass ich dadurch meine Empathie und gegenüber den zugewanderten "neuen Deutschen" aufgegeben habe. Ich gestehe, die Kritik hat mich nicht unberührt gelassen, denn mir lag und liegt nach wie vor an einem neuen "Wir" in Deutschland. Und ich habe mich gefragt, wie der Eindruck entstehen konnte, es habe bei mir einen "Sinneswandel" gegeben.

Es stimmt zweifellos: Wir haben es in unserer Gesellschaft mit einem Rechtsruck zu tun. Die AfD tritt immer offener mit völkischen, fremdenfeindlichen und geschichtsrevisionistischen Äußerungen hervor und ist dennoch im Bundestag und allen Landtagen vertreten. Teile der Partei marschieren gemeinsam mit Neonazis, Kameradschaften, Pegida, Reichsbürgern, Hooligans und Mitgliedern der Identitären Bewegung. Der "Flügel" wird vom Verfassungsschutz beobachtet, extremistische Positionen dringen immer weiter in die Mitte der Partei vor. Politiker, Journalisten und aktive Bürger sind ständigen Beschimpfungen und sogar Morddrohungen ausgesetzt. Der Shitstorm ist Teil des Alltags geworden und hat das politische Klima beeinträchtigt und zum Teil vergiftet. Zwar endet sprachliche Gewalt nicht zwangsläufig in physischer Gewalt. Nicht jeder, der Hass predigt, schreitet zur Tat. Aber Hass ist immer ein Nährboden und Brandbeschleuniger für Gewalt. Seit Mitte letzten Jahres erlebten wir gleich drei tödliche Anschläge in Deutschland: die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, den Anschlag auf die Synagoge in Halle, die gezielte Erschießung von neun Menschen mit Migrationshintergrund in Hanau.

Zu fragen wäre: Sind das "Wendepunkte" in unserer Demokratie – und Wendepunkte wohin? Leben wir in einer Gesellschaft, in der die "neuen Deutschen wieder außen vor sind"? Und habe ich trotz dieser Radikalisierung "Verständnis für die nach rechts Abgedrifteten" entwickelt, und dabei vergessen, "dass es in diesem Land Migranten gibt und ihre Kinder"?  

Was die "Wendepunkte" betrifft: Es gibt eine neue, offene Feindschaft gegenüber den Institutionen und Vertretern der offenen Gesellschaft. Die liberale Demokratie ist unter Druck geraten, sie braucht entschiedenere Verteidigung und eine stärkere Auseinandersetzung mit radikalen und extremistischen Vorstellungen. Wer aber allein schon in der Auseinandersetzung mit einer Partei, die in den Parlamenten vertreten ist, einen Grund für die weitere Vergiftung der politischen Debatte sieht, verzichtet grundsätzlich auf die argumentative Überzeugungskraft, die der Lebensatem jeder Demokratie ist. Auseinandersetzung bedeutet eben gerade nicht – wie die Autorinnen unterstellen – Verständnis oder gar Einverständnis. 

Ich halte es außerdem für falsch, die zweifellos vorhandenen nationalistischen Gefahren summarisch als faschistische Bedrohung zu bezeichnen. Das führt leicht zu einem Alarmismus, der die Bürger schließlich abstumpft, statt sie zu sensibilisieren und zu aktivieren.  

Ich halte es des weiteren für falsch, wenn alle, die die AfD wählen, zu Demokratiefeinden erklärt werden, weil sie "Faschisten wie Björn Höcke" gewählt haben. Es stimmt zwar: Je deutlicher der demokratiefeindliche Charakter nationalistischer Parteien hervortritt, desto mehr muss sich ihre Wählerschaft fragen lassen, wie sie ihre Entscheidung noch als Protestwahl rechtfertigen kann. Und zweifellos gibt es unter den AfD-Wählern unbelehrbare rechtsextremistische, fremdenfeindliche, rassistische, antisemitische Bürger. Hier ist Intoleranz und strafrechtliche Verfolgung angezeigt. Andererseits bleibt selbst in der Wählerschaft nationalistischer Parteien ein Teil erreichbar für demokratische Politiker und  Parteien. Das zeigt sich etwa bei den Wahlerfolgen der ÖVP in Österreich und der Sozialdemokraten in Dänemark. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung, dass die CDU/CSU in der Coronakrise sprunghaft an Zustimmung gewonnen hat, während die AfD  erheblich an Unterstützung einbüßte. Und gewonnen hat die Union nicht deswegen, weil sie Positionen der AfD übernommen und sich angebiedert hätte, sondern umgekehrt: Das Elitenbashing von Populisten kann nicht verfangen, wenn sich "Eliten" bewähren und deshalb Anerkennung finden.  

Es stimmt auch nicht, dass unsere Gesellschaft wieder grundsätzlich in "wir" und "ihr" gespalten wurde - wie die überzeugenden Aktionen von Solidarität und Anteilnahme nach den Attentaten zeigen. Ich kann deshalb nicht erkennen, dass - wie die Autorinnen schreiben - , die "neuen Deutschen wieder außen vor sind". Es stimmt zwar, dass sich unter Konservativen eine stärkere Skepsis gegenüber Zuwanderung hält, weil sie ihre Identität auf die Beheimatung im Vertrauten bauen. Aber ich fände es politisch schädlich, ein Junktim zu konstruieren zwischen einer konservativen Haltung und einer fehlenden Offenheit gegenüber Migranten. Es widerspricht den Erfahrungen. Auch aus konservativen Milieus etwa in Bayern oder Baden-Württemberg heraus ist Offenheit gewachsen und Vielfalt zur Normalität geworden.  

Ich erkenne bei den Autorinnen ein Verständnis von "rechts", das in Deutschland weit verbreitet ist. Ein "Rechter" ist hier im Normalfall verdächtig, wenn er nicht schon gleich als Extremist und Rassist angesehen wird. Einen so beschriebenen Rechten gilt es anzuprangern und zu meiden. Dem kann ich ohne Einschränkung folgen, wenn es sich tatsächlich um einen Nazi beziehungsweise antidemokratischen Extremisten handelt. In unserer Situation gehört die Mehrheit derer, die rechts von der politischen Mitte stehen, allerdings nicht in diese Schublade.

Wie ich in meinem Buch "Toleranz – einfach schwer" ausgeführt habe, ist die Auseinandersetzung um das Verhältnis zu Menschen rechts der politischen Mitte allerdings nicht neu. Schon Herbert Marcuse wollte vor Jahrzehnten Toleranz nur jenen gewähren, die im weiteren Sinne progressiv sind. In Liberalen und erst recht in Konservativen sah er die Boten künftigen Unglücks. "Es ist der Liberalismus selbst", schrieb der Philosoph, "der den total-autoritären Staat aus sich erzeugt: als seine Vollendung auf einer fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung." 

Wer diesem Denken folgt, nimmt der offenen Gesellschaft einen ihrer Grundpfeiler: den Pluralismus. Demokratie darf nicht jene ausgrenzen, die von einer progressiven Elite als nicht-progressiv eingestuft werden. Denn dadurch unterbleibt die Auseinandersetzung unter den Vielen und die Repräsentanz der Verschiedenen, zu denen Konservative und Linke genauso zählen wie etwa Migranten aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Die offene Gesellschaft beruht nämlich auf der Achtung der Differenz - auch wenn dies so manches Mal eine Zumutung ist. Deswegen schließe ich mich dem italienischen Rechtsphilosophen Norberto Bobbio an: "Die Toleranz muss sich auf alle Menschen erstrecken, ausgenommen diejenigen, die das Prinzip der Toleranz leugnen."  

Wenn es nach meinen persönlichen Gefühlen geht, würde mir die Ausgrenzung von Menschen rechts der Mitte vielleicht sogar gefallen. Aber politisch klug ist es auf keinen Fall. Die Fäden zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft dürfen nicht mutwillig zerschnitten werden. Es ist für mich eine Horrorvision, wenn ich mir die deutsche Gesellschaft so gespalten vorstelle, wie sie es zur Zeit etwa in den USA und Polen ist.  

Es liegt mir sehr daran, von Menschen verstanden zu werden, mit denen ich mich verbunden fühle, weil sie für Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit eintreten. Und es irritiert mich, wenn die Autorinnen diese Verbundenheit offensichtlich nicht gespürt haben. Aber Sie, Alice Bota, Özlem Topçu und Khuê Pham, werden mich immer als Verbündeten haben, wenn es darum geht, in der Mehrheitsgesellschaft mehr Empathie und Sensibilität für die "neuen Deutschen" zu entwickeln. Denn ja, es ist die Lernaufgabe der Alteingesessenen, auf Angehörige anderer Ethnien und Religionen zuzugehen und sie als gleichberechtigten Teil unserer Gesellschaft anzuerkennen.

Dann fällt es auch den Eingewanderten leichter, nicht in einer durch Kränkung und Demütigung verursachte Distanz oder gar Antihaltung zu verharren. Ich wünschte, wir könnten uns in unseren jeweiligen Lernprozessen annähern. Ich wünschte, wir könnten noch stärker gemeinsam das Deutschland der Zukunft bauen, in dem sich die Verschiedenen gleichberechtigt wiederfinden. Und wenn uns ein stabiles Grundvertrauen miteinander verbindet, können uns auch Irritationen und Meinungsunterschiede nicht entzweien.