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Eröffnungsvorlesung: „Die liberale Demokratie in Frage“

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Digitale Eröffnungsvorlesung

Digitale Eröffnungsvorlesung anlässlich der Johannes Gutenberg-Stiftungsvorlesung

11. Mai 2021

„Die liberale Demokratie in Frage“


Änderung vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

 

Es ist mir Ehre und Freude, heute – zwar mit einem Jahr Verspätung und unter für mich ungewohnten Bedingungen – die Vorlesungsreihe meiner Stiftungsprofessur an der Johannes Gutenberg-Universität zu eröffnen. Ich wäre von Herzen gern persönlich mit Ihnen in Mainz zusammengekommen. Nun also aus der Ferne und ausschließlich digital.

Wäre es bei den ursprünglichen Planungen geblieben, hätte es nun schon zahlreiche Begegnungen gegeben, die mir etwas ganz Wichtiges erlaubt hätten: Denjenigen persönlich zu danken, die diese Stiftungsprofessur ermöglichen. Getragen wird diese für die Gesellschaft so nützliche Stiftung von den Freunden der Universität Mainz sowie großzügig gespendeten und gestifteten Mitteln aus diesem Kreis. Da ein Budget schon einmal ein guter Anfang ist, aber noch nicht ausreicht, um ein solches Projekt auf die Beine zu stellen, gibt es noch die Damen und Herren des Studium generale, die für die Organisation und Durchführung verantwortlich sind. Allen finanziellen und organisatorischen Unterstützern sage ich: Herzlichen Dank!

Erlauben Sie mir bitte noch, drei Personen aus diesem Kreis hervorzuheben, die mich zur Übernahme dieser Stiftungsprofessur ermutigt und bei der Konzeption und Planung wesentlich unterstützt haben. Dies sind die Professoren Barner, Rödder und Menke. Ihnen ein besonderes herzliches Dankeschön!

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn ich nun heute aus meinem Büro in Berlin zu Ihnen spreche und – statt in Ihre Gesichter – in das Objektiv einer Kamera blicke, dann fällt mir auf: Ich vermisse etwas. Wir alle vermissen die unbeschwerten Begegnungen. Wir Menschen sind soziale Wesen, die erzwungene Distanz schlägt unweigerlich aufs Gemüt. Seit über einem Jahr verlangen die massiven Einschränkungen uns im Alltag wie in der Berufswelt Enormes ab. Ganze Branchen müssen zudem trotz staatlicher Unterstützung um ihre Existenz fürchten, die soziale Benachteiligung verschärft sich, all die Langzeitfolgen lassen sich noch nicht annähernd ermessen. Schon heute erkennen wir, dass die Pandemie die Verunsicherung und auch die Zukunftsängste, die in unserer Gesellschaft existieren, noch verstärkt. 

Dies ist geradezu ablesbar geworden auf den Plakaten der Demonstrierenden in den letzten Monaten. Die immer kruderen Thesen und Verschwörungsmärchen selbst-ernannter „Querdenker“ sollten wir nicht verallgemeinern. Gleichwohl sind auch sie Ausdruck zunehmender Ängste der Gesellschaft vor einem umfassenden forcierten Wandel. Vergleichbares kennen wir aus der Geschichte, wenn wir auf andere Fortschrittswellen schauen, die die Menschheit erfassten. Wir denken natürlich sofort an den Namensgeber dieser Stiftungsprofessur, Johannes Gutenberg: Es war – aus heutiger Sicht - „nur“ der Buchdruck, eine umwälzende Neuerung, die damals die Verbreitung von Wissen auf der Welt revolutionierte. Heute sehen wir uns gleich einer ganzen Reihe von revolutionierenden Veränderungen gegenüber: Digitale Revolution, Klimawandel, Migration. Schon vor Jahren stellte der Soziologe Zygmunt Bauman fest, wir stehen "vor Herausforderungen, die in der Geschichte ohne Beispiel sind".

Die daraus erwachsene Angst lässt einen Teil der Verunsicherten populistischen Parolen gegen „das Establishment“ oder „das System“ folgen. In Polen, Ungarn, Brasilien und im Amerika unter Trump haben sich Rechtspopulisten durchgesetzt, in verschiedenen Ländern Lateinamerikas siegten Linkspopulisten.

Hier wie dort hoffen ihre Wähler auf starke Anführer, die ihnen trotz komplexer Lage beruhigende, einfache Lösungen vorschlagen. Es fehlt an Geduld, die es in einer tiefgreifenden Übergangssituation zu bewahren gilt, wenn das Alte verschwindet, das Neue aber erst allmählich geboren wird. Und es fehlt an Vertrauen, dass sich die Demokratie der mehrfachen Herausforderung gewachsen zeigen wird.

Die Strahlkraft der Demokratie hat seit 1989 teilweise stark abgenommen. Vielleicht erinnern sich einige von Ihnen an die Euphorie: Die freie Welt hatte über den Totalitarismus gesiegt. Doch anders, als imaginiert, befanden wir uns mit der liberalen Demokratie keineswegs am „Ende der Geschichte“. Die Vorstellung, dass unsere Zukunft nur besser sein könnte als die Vergangenheit, hat sich schnell als Wunschdenken erwiesen – denken wir nur an das Debakel des Irak-Krieges 2003 oder der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Auch im internationalen Raum geriet die Demokratie auf die abschüssige Bahn. Erstmals in diesem Jahrhundert finden sich unter den Ländern mit mehr als einer Million Einwohnern weniger Demokratien als nichtdemokratische Regime.

Zudem zeigt die Entwicklung auf anderen Kontinenten, dass wirtschaftlicher Aufstieg und technischer Fortschritt keineswegs mehr automatisch an das – wie der Historiker Heinrich August Winkler sagt – „normative Projekt des Westens“ geknüpft sind. Die kommunistische Führung hat China mit einer Mischung aus Autoritarismus und Kapitalismus einen bemerkenswerten Entwicklungsschub beschert. 2049, zum hundertsten Jubiläum der kommunistischen Machtübernahme, soll China die „führende Industrienation“ sein, nicht zuletzt aufgrund der Initiative für eine „Neue Seidenstraße“, die auf ein weltweites Handelsnetz unter chinesischer Führung setzt. Auf geopolitischer Ebene tritt das Land Schritt für Schritt in Konkurrenz zur Supermacht Amerika. Und Europa, einst der Ausgangsort für Aufklärung und weltweite technische Erneuerungen, droht von China und anderen aufstrebenden teils semi-demokratischen, technokratischen asiatischen Ländern überholt und zu einer Mittelmacht herabgedrückt zu werden. So scheint es einigen jedenfalls.

Gehört anderen Modellen also die Zukunft? Ist die liberale Demokratie in Gefahr – quasi ein historisches Auslaufmodell? Oder gehört sie wieder einmal auf den Prüfstand, um den aktuellen Herausforderungen gestärkt begegnen zu können?

Es soll nicht zur Beschwichtigung dienen, aber erwähnen möchte ich es hier trotzdem: Über die Krise der Demokratie haben Politiker, Journalisten und Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten gesprochen. Aber haben alle dasselbe im Sinn gehabt? Abraham Lincoln hat Demokratie 1863 in Gettysburg zwar als "die Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“ bezeichnet. Aber was die „Idee Demokratie“ tatsächlich ausmacht, darüber existieren durchaus verschiedene Vorstellungen, damals wie heute. Wer heute wie die Masse der Bevölkerung unter Demokratie ein System versteht, das soziale und wirtschaftliche Gleichheit gewährleisten soll, wird bei ansteigender Arbeitslosigkeit, bei Finanz- und Wirtschaftskrisen oder sinkenden Zukunftschancen Alarm schlagen. Wer in ihr vor allem das institutionelle Gefüge des Rechtsstaats sieht, wird von Krise sprechen, wenn sich Korruption ausbreitet, die Unabhängigkeit der Gerichte in Gefahr gerät oder wenn sich bedrohliche Schattenwelten von organisierter Kriminalität bilden. Das Reden über die Krisen der Demokratie dürfte insofern selbst ein konstitutives Element der Demokratie sein, fast so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal. Denn kein anderes System stellt sich in gleicher Weise systematisch und permanent in Frage. Das ist eine große Stärke für die Demokratie. Aber wir Demokraten müssen diesen Zustand der Unfertigkeit auch aushalten.

Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, dass unseren Zeitgenossen die Fragilität des demokratischen Systems lange Zeit gar nicht wirklich bewusst gewesen ist. Unser Land hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine beispiellose Erfolgsgeschichte erlebt - Demokratiewunder, Wirtschaftswunder, Westbindung, Wiedervereinigung, europäische Integration, Sicherheit und Wohlstand – politische und wirtschaftliche Stabilität. Doch neuerdings sehen wir Empörungs- und Wutwellen eines Teiles der Bevölkerung, wir sahen in den USA den Sturm auf das Washingtoner Kapitol. Und wir sehen: Die uneingeschränkte Akzeptanz unserer Demokratie ist Geschichte. Zwar dominiert noch nicht Ablehnung, bei einigen Gruppen jedoch herrscht Entfremdung.

Zwar haben wir im Unterschied zur Vergangenheit nicht mit Militärputschen zu rechnen, auch sind wir weit entfernt von den Zuständen in der Weimarer Republik. Aber die Unterhöhlung oder gar Zerstörung der Demokratie kann auch leise und schrittweise erfolgen.

Es mag auch daran liegen, dass traditionelle Parteien, die fast ein Jahrhundert Bestand hatten, an Unterstützung verlieren. Alte Bindungen von Abgeordneten an ihre Wählermilieus gingen verloren, weil sich die Milieus verändert haben. Besonders deutlich war dieses Schicksal bei der französischen und italienischen Linken und der Democrazia cristiana in Italien zu erleben. Stark abgeschwächt hat dieser Trend nun auch Deutschland erreicht. Inzwischen sind mancherorts neue Parteien entstanden, und Bewegungen wie La Republic en marche in Frankreich oder Podemos in Spanien proben ebenso neue Formen von Repräsentanz wie basisdemokratische Initiativen wie Fridays for Future oder identitätspolitische Netzwerke. Noch wissen wir nicht, ob sich traditionelle Parteien mit einem neuen Profil wirklich erneuern können oder ob wir ganz andere Konstellationen sehen werden und sich etwa die Somewheres von den Anywheres – um eine gängige Formulierung aufzugreifen – trennen. Bis jetzt ist jedenfalls unklar, wohin die Reise geht. Strukturelle Veränderungen in der Parteienlandschaft müssen auch nicht zwangsläufig zu einer Schwächung der liberalen Demokratie führen. Im Gegenteil: Sie können zu neuen Bindungen führen, Repräsentanzlücken schließen und damit das System festigen. Klar ist aber auch: Die Fragilität nimmt zu.

Zusätzlich wandelt sich auch das Antlitz der Demokratie. Im digitalen Zeitalter hat sie ein anderes, ein moderneres Gesicht als im Industriezeitalter. Das Internet hat die Demokratie auf eine bisher nicht bekannte Weise demokratisiert, als es eine direkte, unmittelbare Kommunikation schuf und nun alle mitreden können. Die Diskurs-Hegemonie der politischen Klasse ist aufgebrochen, Online-Aktivisten können unter Umständen mehr Einfluss entwickeln als etablierte Politiker. Und wer mit dem interaktiven Facebook aufgewachsen ist, wird die Institutionen der repräsentativen Demokratie als schwerfällig und gestrig empfinden.

Das Internet hat die Demokratie gleichzeitig aber auch entliberalisiert, weil Fake News, Desinformation, Intoleranz, Hass und Ressentiment alle vermittelnden Instanzen umgehen können. Ohne Twitter war Trump nicht vorstellbar.

Ohne Internet hätten Verschwörungstheoretiker niemals so breite Bekanntheit erlangt und Gelbwesten nicht so schnell Straßen blockiert. Ohne Internet könnten Kreml- und Peking-freundliche „Troll-Farmen“ die Welt nicht millionenfach und gezielt mit Falschmeldungen überschwemmen. Und ohne Internet gäbe es natürlich auch keine Cyberkriminalität mit ihrem wachsenden Bedrohungspotential. Wir sehen schon jetzt, wie einzelne Unternehmen, Kommunen, ganze staatliche Infrastrukturen und sogar Regierungen ausgespäht, manipuliert oder lahmgelegt werden können.

Das Internet an sich ist nicht das Problem – bietet es doch großartige Möglichkeiten, sich zugunsten der liberalen Demokratie zu verbinden und zu verbünden. Das trifft auch für diesen Moment zu, in dem Sie und ich miteinander verbunden sind. Die Logiken sozialer Medien vertragen sich aber in der aktuellen Form nicht mit einem konstruktiven Diskurs, der für die Demokratie so konstitutiv ist. Nein, ich neige nicht zu Horrorszenarien, aber wir sollten die Gefahren, die aus in einem noch weitgehend unregulierten digitalen Raum für unsere Demokratie erwachsen, nicht unterschätzen.

Gleichzeitig sollten wir allerdings auch die Möglichkeiten nicht verpassen, die sich durch eine digitale Vernetzung ergeben. Deutschland ist offenkundig nicht ausreichend digital-affin. Warum prüfen wir nicht intensiver, wie erfolgreiche asiatische Demokratien wie Südkorea oder das EU-Mitglied Estland Digitalisierung einsetzen, um Demokratie zu entschlacken und effizienter zu machen: die Verwaltung zu entbürokratisieren und aktuell zum Beispiel die Corona-Pandemie besser in Schach zu halten? Fest steht doch: An der Digitalisierung führt schon heute kein Weg vorbei, wie wir etwa an den Diskussionen über digitale Impfpässe sehen: Statt sie mit dem Verweis auf Datenschutz zu behindern, sollten wir sie unter Berücksichtigung von angemessenen Datenschutzregeln stärker vorantreiben und gestalten.

Wie bei der Digitalisierung haben wir es auch beim Klimawandel, bei der Geldpolitik oder dem Handel mit Problemen zu tun, die Nationalstaaten nicht oder deutlich schlechter im Alleingang regeln können. Doch internationale Institutionen und global  operierende Unternehmen wie Apple, Facebook, Google oder Amazon unter demokratische Kontrolle bringen, fällt, wie wir gesehen haben, schwer.

Auch in der Europäischen Union, wo Entscheidungskompetenzen demokratisch legitimiert auf supranationale Ebene abgetreten werden, ist ein gewisser Demokratieverlust zu beklagen. Es fehlt eine dauerhafte Wechselbeziehung zwischen der Wählerschaft und den Institutionen. Ein lebendiger Prozess von Meinungsbildung im supranationalen europäischen Rahmen findet nicht statt. Es gibt zwar Direktwahlen zum Europäischen Parlament, aber kein europäisches Staatsvolk, keine supranationalen Parteilisten und im Europäischen Parlament auch keine Verteilung nach Proporz – one man, one vote gilt hier nicht. Der Unwille über dieses Demokratiedefizit sollte nicht unterschätzt werden, hat er doch in Großbritannien zur knappen Entscheidung für den Brexit beigetragen.

Was für mich noch eine Besonderheit der aktuellen Krise der Demokratie ausmacht, ist mit einer Erfahrung verbunden, die weit über die politische Ebene hinausgeht. Wir haben bereits gesehen, dass unter der Führung von Viktor Orban und Jaroslaw Kaczynski Parteien demokratisch an die Macht gekommen sind, die gleich anschließend zur Aushöhlung der Demokratie geschritten sind. Das hat uns erschreckt, aber wenig Folgen auf europäischer Ebene gehabt. Aber was mich und viele Menschen auf der ganzen Welt stärker verstört und verunsichert hat, war die Trump-Wahl in Amerika, dem Land, in dem die Wiege der Demokratie stand, dem Land, das bei Millionen mit seinem Aufstiegs- und Freiheitsversprechen eine Magnetwirkung erzielte, dem Land, das die Krisen der Demokratie nun schon seit über 200 Jahren abwenden konnte und demonstrierte: Demokratie kann gelingen! 

Was wäre aus dem demokratischen Westen ohne Amerika geworden, aus dem transatlantischen Bündnis, der NATO, dem weltweiten Kampf gegen den Klimawandel, dem Widerstand gegen neue imperialistische Begehrlichkeiten Chinas und Russlands? Wie hätte sich eine regelbasierte Ordnung aufrechterhalten lassen, wie sie demokratische Staaten in internationalen Beziehungen entwickelt haben? Amerikas checks and balances, so hörte ich immer wieder, seien stark genug, um ein autoritäres System zu verhindern. So, als verschafften sie der Demokratie eine geradezu automatische Resilienz. Aber ist eine derartige institutionelle Stabilität der Demokratie wirklich eine dauerhaft verlässliche Größe?

Diese Beobachtungen führen uns zu dem eigentlich schon bekannten, aber gleichwohl erschreckenden Befund: Demokratien können sich auch zurückentwickeln.

Adam Przeworski, ein bislang in Deutschland wenig bekannter amerikanischer Politikwissenschaftler polnischer Herkunft etwa verweist darauf, dass Demokratien über keine institutionellen Mechanismen verfügen, die sie „davor schützen, von einer rechtmäßig gewählten Regierung, die sich an die konstitutionellen Regeln hält, untergraben zu werden“. Denn die Zerstörung der Demokratie kann unbemerkt eingeleitet werden mit Maßnahmen, die nicht gegen die verfassungsmäßigen Regeln und gegen Gesetze verstoßen, die als einzelne nicht alarmierend wirken, und dennoch die freiheitliche Demokratie immer ein wenig mehr untergraben und den Regierenden schließlich eine unantastbare Vormachtstellung sichern.

Wie das gelingt? Zum Beispiel,

  • indem zwar formal korrekte Wahlen abgehalten werden, zuvor aber das Wahlrecht oder die Wahlbezirke so modifiziert werden, dass ein Machtwechsel durch Wahlen erschwert oder gar verunmöglicht wird.
  • Oder indem sich Regierungen oder regierungsnahe Unternehmen nahezu dominierenden Einfluss in der Medienwelt verschaffen.
  • Oder indem Gremien und sogar oberste Gerichte mit den Anhängern der Regierungspartei besetzt werden.

Verfügt die Regierungspartei dann erst einmal über die parlamentarische Mehrheit, weil sie das Wahlvolk beispielsweise mit finanziellen Vergünstigungen lockt oder durch Feindbilder eint, kann sie ganz legal und offen diskriminierende Gesetze durchsetzen - wie in Ungarn, wo sich Nichtregierungsorganisationen als ausländische Organisationen registrieren lassen müssen, wenn sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten.

Und auch in Polen beobachten wir, wie sich der Illiberalismus Schritt um Schritt ausbreitet. Folgt manche europäische Demokratie gar der Türkei oder auch Russland und endet als Autokratie mit einem vermeintlich starken Führer?

Das Problem einer derartigen schrittweisen Aushöhlung der Demokratie besteht genau darin, dass es so schwerfällt, den Wandel klar zu erkennen und die Menschen dagegen zu mobilisieren. Die einzelnen Anlässe erscheinen zu klein, gravierende oder gar systemverändernde Folgen oft nicht vorstellbar. Nur wenn es der Opposition gelingt, die langfristigen Folgen bestimmter Schritte vorauszusehen und dies der Öffentlichkeit überzeugend zu vermitteln, besteht die Chance für einen erfolgreichen Widerstand. „Widerstand“ – sagt Przeworski warnend  – „ist nur wirksam, wenn er zum richtigen Zeitpunkt kommt und dauerhaft aufrechterhalten wird.“ Oder anders formuliert: Wenn der Widerstand zu spät kommt, verabschiedet sich zuerst der Liberalismus und am Ende kann die Demokratie sterben.

Was folgt daraus? Nur wer sensibel für die Gefahren ist, kann sich diesen frühzeitig und kraftvoll entgegenstellen. Es gilt, den liberalen Geist dieser unserer Demokratie zu verteidigen, wo immer er bedroht wird. Es gilt, die Grundrechte des Bürgers zu sichern, wie sie in unserer Verfassung niedergelegt sind: die Freiheit des Einzelnen, dem ein größtmöglicher Raum zugestanden wird, um sich zu verwirklichen. Denn das macht den Kern der liberalen Demokratie aus: Sie ist eine politische Ordnung, die das Individuum vor äußeren Eingriffen und vor Gewalt, auch vor möglicher Gewalt von Seiten des Staates schützt. Nach den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ist diese unauslöschliche Verknüpfung von Liberalismus und Demokratie, prägend geworden. 

Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in Deutschland. Mit Propagandaoffensiven und unverhohlener Gewalt  gegenüber der Opposition haben sich die Nationalsozialisten nach siegreicher Wahl am 23. März 1933 der Demokratie entledigt. Und die Bürger der einstigen DDR lebten über Jahrzehnte in einem Land mit dem Wort „demokratisch“ im Namen, aber ohne demokratische Rechte.

Es gibt also gerade in unserem Land aus historischen Gründen ein verbreitetes Misstrauen gegenüber Regierungen, die sich für Situationen des Notstands außergewöhnliche Befugnisse zusichern wollen – und teilweise sicher auch müssen, um Gefahren effektiv begegnen zu können. Denn auch in demokratischen Staaten gibt es immer wieder Situationen, in denen die Sicherheit einer Gesellschaft so bedroht ist, dass ein Eingreifen des Staates erforderlich ist.

Dann kann es legitim sein, die Freiheitsrechte eins Individuums partiell einzuschränken, um etwa sein konkurrierendes Grundrecht „auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ zu schützen.

Für den wachsamen Verfechter der liberalen Demokratie gilt es in solchen Situationen  zu prüfen: Sind die Notstandsmaßnahmen der jeweiligen Lage angemessen oder sind sie eine unverhältnismäßige Einschränkung persönlicher Freiheiten? Sind sie zeitlich begrenzt? Behalten die Volksvertretungen ihre Befugnisse? Aktuell gefragt: Bahnt sich in der Coronakrise etwa eine Politik an, die die Pandemie nur zum Anlass nimmt, eine Verschiebung politischer Macht durchzusetzen?  Oder wie weit darf nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz die Freiheit der Bürger von heute eingeschränkt werden, um die Freiheit der Bürger von morgen nicht unverhältnismäßig zu schmälern?

Diese Fragen und das Dilemma der konkurrierenden Grundrechte, das Abwägen von Freiheitsrechten gegen Sicherheit sind nicht neu – vergleichbare Diskussionen gab es etwa beim Kampf gegen den Terrorismus. Dass wir heute und zukünftig viel kontroverser und teils auch heftiger diskutieren, liegt auch daran, dass die Auswirkungen für Jede und Jeden viel konkreter sind. Doch wenn es auch manchmal schwerfällt: Diese Debatten sind für eine liberale Demokratie überlebenswichtig. Auch politischer Streit ist unabdingbar, mögen auch große Teile der Bevölkerung ihn für überflüssig halten, er bleibt – belastend oder nicht – ein Wesensmerkmal der liberalen Demokratie.

Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer,

für mich und ganz besonders für alle, die politische Ohnmacht erlebt haben, bleibt Liberalismus zentral mit der Sicherung von Freiheitsrechten verbunden. Das macht seinen Geist aus, der seit der amerikanischen Verfassung aus der Demokratie mehr macht als Wahlen, Gewaltenteilung und Rechtsstaat. Anfangs eilten die freiheitlichen, humanistischen Ideen der Realität zwar voraus, nicht alle Menschen waren gleichberechtigt, wahlberechtigt, gleich geachtet. Inzwischen stehen die Menschen- und Bürgerrechte einem jeden Menschen jedoch ungeachtet seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Religion oder Klassenzugehörigkeit zu. Wer diese Rechte missachtet, kann in Demokratien juristisch belangt werden, und was nicht justiziabel ist, trifft in unserem Land auf deutliche Kritik.

Dieser Liberalismus ist meines Erachtens weitgehend eingegangen in die politische DNA unseres Staates. Toleranz, Respekt, die Fähigkeit zum Kompromiss und die Achtung der Rechte von Minderheiten bilden einen grundlegenden „programmatischen Bestand“ der Demokratie. Liberalismus bedarf keiner eigenen Partei, sondern meldet sich, wie der Verfassungsjurist Christoph Möllers überzeugend argumentiert, „in anderen Parteien zu Wort“. Er kann sich sowohl mit konservativer wie mit linker Politik verbinden. Als rechtsliberale Variante betont er – ich zitiere Möllers – „Individualität, Eigentum und die Gefahr staatlicher Herrschaft“ und als linksliberale Variante macht er sich stark für „soziale Reformen, andere Freiheitsrechte und die Gefahr privater Macht“.  Die liberale Idee zeigt sich auch in der sozialen Marktwirtschaft, in der der Markt sozial eingehegt wird und keineswegs alles entscheidet, und in den internationalen Beziehungen, wo das Recht des Stärkeren nicht die Beziehungen zum Schwächeren dominieren soll. Er durchwebt die Werte und Haltungen aller Parteien und Bewegungen, die sich die Verteidigung von Freiheit gegen staatliche Willkür oder auch gegen eine – wie John Stuart Mill sie nannte – „Tyrannei der Mehrheit“ verschrieben haben.

Eine ganz zentrale Rolle für die liberale Demokratie spielt dabei der Pluralismus. Nachdem der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel Anfang der 1950er Jahre aus der Emigration zurückgekehrt war, beschrieb er die modernen westlichen Gesellschaften: nicht homogen, sondern heterogen.

In ihnen existieren verschiedene, miteinander konkurrierende Gruppen, angefangen von Gewerkschaften, Vereinen und Parteien bis zu – würden wir heute sagen - Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen, ethnischen, sexuellen, religiösen Interessengruppen. Pluralismus, wie er hier als Grundlage einer liberalen Demokratie gesehen wird, ist gezeichnet von Diskurs und auch von Streit. Dem Staat kommt dabei die Aufgabe zu – ich zitiere Fraenkel – „im Rahmen der bestehenden differenzierten Gesellschaft zwischen den organisierten Gruppeninteressen einen Ausgleich zustande zu bringen, der zur Begründung eines reflektierten consensus zu führen geeignet ist.“

In der Spätmoderne feiern wir das Singuläre, das Individuelle, wie der Soziologe Andreas Reckwitz herausgearbeitet hat. Doch nachdem Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft geworden ist und auch multiethnische und multikulturelle Gruppen sichtbarer in unserem Alltag mitbestimmen, brauchen wir für die Gestaltung der Demokratie umso mehr auch das Gemeinsame, das Verbindende: Die Verbindung von Partikularinteressen und Gemeinschaft und einen allgemein akzeptierten Wertekodex, der in politischen Kontroversen als Richtschnur gilt. Nur so kann in der pluralisierten Welt von heute der Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt bleiben. Nur so kann das entstehen, was ich die Einheit in der Vielfalt nenne.

Mit Sorge schaue ich daher auf eine Verengung des Diskursraumes, wie sie in den letzten Jahren auch in Deutschland immer mehr zugenommen hat. Darüber, dass es vorzugehen gilt gegenüber einer zunehmend radikalisierten extremen Rechten dürfte Einigkeit bei einem großen demokratischen Spektrum bestehen. Inzwischen setzt sich allerdings zunehmend auch die Erkenntnis durch, dass eine Gefahr für den Pluralismus auch von links ausgehen kann. Wer sich ideologisch außerhalb eines Feldes bewegt, das ideologisch ausgerichtete Meinungsrichter als korrekt abgesteckt haben, gilt oft vorschnell als undemokratisch oder gar als rechtsradikal und rassistisch. Er hat mit einer Ausgrenzung aus dem Kreis der Selbstgewissen zu rechnen, verliert unter Umständen berufliche Möglichkeiten und seinen guten Ruf.

Mit Sorge schaue ich auf jüngste Entwicklungen, in der Differenzen zwischen einzelnen Gruppen betont und Gräben in der Gesellschaft vertieft werden. Die sogenannte Identitätspolitik, die sich das berechtigte Ziel auf die Fahnen geschrieben hat, die Diskriminierung von ethnischen, rassischen, religiösen und sexuellen Minderheiten aufzuheben, hat ihrerseits das Individuum zum Gefangenen eines ethnischen, rassischen, religiösen oder sexuellen Kollektivs gemacht. Statt einen Menschen nach seiner individuellen Haltung zu beurteilen, beurteilt Identitätspolitik das Individuum aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe. In der nächsten Vorlesung werde ich ausführlicher darüber sprechen. Für heute nur so viel: Die Heftigkeit und Unerbittlichkeit, in der die Debatte geführt wird, widersprechen nicht nur dem Prinzip von Toleranz und Liberalismus, sie erschweren auch Solidarität und gemeinsames Handeln.

Gleichwohl bin ich davon überzeugt, dass Deutschlands Demokratie stabil ist. Warum? Noch haben Frustration, Kritik und Wut in Deutschland nicht zu einer mehrheitlichen Ablehnung der Demokratie und einer wesentlichen Unterstützung radikaler Parteien geführt. Oder anders gesagt: Die Erosion traditioneller Parteien ist nicht mit einer Erosion gemäßigter politischer Positionen einhergegangen. Rechts- und Linksradikale sowie Islamisten bedrohen unsere Demokratie, aber sie bleiben Figuren ohne Aussicht, prägend oder gar führend in der Gesellschaft zu agieren. Was nichts daran ändert, dass wir diesen Milieus nicht immer die nötige Aufmerksamkeit geschenkt haben. Allerdings hat die Gewalt aus extremistischen Milieus heraus deutlich zugenommen. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Verachtung für den westlichen freiheitlich-liberalen Lebensstil haben sich wie Gift in den Alltag geschlichen und die Hemmschwelle dessen, was geäußert wird, insgesamt gesenkt. Deutschland hat wieder Morde aus politischen Motiven zu beklagen. Hier muss sich der Rechtsstaat als handlungsfähig gegen alle erweisen, die unsere Demokratie mit Gewalt bedrohen.

Augenblicklich sehe ich in Deutschland allerdings weder aus dieser noch aus anderen Richtungen eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie. Eine Vielzahl von Bürgern wünscht sich einen Wandel – ja, aber innerhalb des Systems. Nicht wenige sind auch deshalb enttäuscht von der liberaldemokratischen Ordnung, weil sie mehr von ihr erwartet haben, und weil sie ihr immer noch mehr zutrauen als das, was sie augenblicklich leistet. Eben deswegen setzen sie ihre Hoffnungen nicht nur auf zivilgesellschaftliche Aktionen, Bewegungen und Proteste, sondern immer wieder - und gerade augenblicklich - auch auf Wahlen. Mögen Wahlen von manchen auch als unzureichende Partizipationsmöglichkeit kritisiert werden, so zeigt sich doch auch, dass Wahlen zu aktivieren vermögen; sie nähren die Hoffnung auf bessere Ergebnisse für die jeweils präferierte Partei. Sie wecken die Hoffnung auf neue Sieger und Verlierer, auf neue Koalitionen und damit neue politische Prioritäten. Sie wecken die Hoffnung auf beständige Erneuerung.

Um solche Hoffnungen nicht zu enttäuschen, sollte Politik entschiedener und effektiver sein. Getragen von Politikern, die es riskieren, mit ihren Vorstellungen nicht von allen gemocht zu werden, die aber mit starken Argumenten für ihre Zukunftsvorstellungen werben und sich den Herausforderungen der nächsten Zeit offensiver stellen. Natürlich ist die Demokratie die Gesellschaftsform, in der möglichst viele Bürger auf die eine oder andere Weise partizipieren. Aber ohne dass die Kraft und der Wille zur Kursbestimmung in der gewählten Führung deutlich erkennbar werden, ist die Demokratie wie eine Mannschaft ohne Kapitän.

Wie steht es also um die Zukunft unserer liberalen Demokratie? Ich weiß, dass den Bürgern Zumutungen nicht erspart bleiben werden. Ich weiß, dass es  nicht allen Teilen der Bevölkerung leicht fällt, sich dem Wandel und Fortschritt zu stellen und dabei die Risiken nicht zu fürchten. Ich weiß um die anthropologische Konstante der Furcht vor der eigenen Autonomie, der eigenen Verantwortung. Aber ich weiß natürlich auch: Es existiert ebenfalls jene andere anthropologische Konstante: die unauslöschliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Freiheit und lebenswertem Leben. Und deswegen lernen es Menschen immer wieder, die in ihnen angelegte Fähigkeit zu Eigenverantwortung wachzurufen. Aus dieser Fähigkeit ist unsere Demokratie erwachsen, aufgrund dieser Fähigkeit hat sich unsere Demokratie immer wieder verändert. Demokratie ist also nicht, Demokratie wird. Sorgen wir also miteinander dafür, dass dieses Werden unter uns lebendig bleibt!