Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Jesco Denzel

Interview mit "Der Tagesspiegel"

23. Mai 2021

Der Tagesspiegel: Herr Gauck, mit dem Impffortschritt ebbt die Pandemie ab. Welche gesellschaftlichen Wunden wird Corona hinterlassen?

Joachim Gauck: Am meisten fürchte ich, dass der grassierende Individualismus sich verfestigt. Die Vereinzelung in den Gesellschaften des Westens nimmt zu, und auch die Abgrenzung zwischen verschiedenen Gruppen. Das wird nun möglicherweise gesteigert, obwohl ja andererseits das Bedürfnis nach Gemeinsamkeit besteht – ein Wunsch nach Bezogenheit, die unsere offene Gesellschaft der vielen Verschiedenen ja auch unbedingt braucht. Nach der Pandemie sollten wir deshalb wieder unser Wir-Gefühl stärken, eine Art Leitkultur …

Der Tagesspiegel: Nicht gerade ein positiv besetztes Wort.

Joachim Gauck: Richtig, aber in der Sache geht es um etwas Grundlegendes. Unsere Gesellschaft ist von einer großen Verschiedenheit geprägt. Umso wichtiger ist ein demokratischer Grundkonsens, der Werte und Spielregeln widerspiegelt, die für alle gelten, der alle verbindet und bindet und der nicht nur den Verstand, sondern auch das Gemüt der Menschen anspricht. Ein solcher demokratischer Grundkonsens ist nicht Ausdruck von nationalistischem Denken, der anderen von oben aufgezwungen wird; bezeichnenderweise fordert ihn auch der Deutsche Ahmad Mansour, der selbst Einwanderer ist.

Der Tagesspiegel: In der Krise hat die Polarisierung zugenommen. Wie kommen wir wieder weg davon?

Joachim Gauck: Das werden wir leider nicht so schnell überwinden, weil Lagerzugehörigkeit auch ein Sicherheitsbedürfnis befriedigt. Jeder bleibt in seiner Blase. Um von dem polarisierenden Denken loszukommen, braucht man als Erstes den ernsthaften Entschluss, sich auch für Argumente der anderen Seite zu öffnen. Wir müssen begreifen, dass robuste Debatten und richtiger Streit nicht schädlich sind. Sie sind ein Signum der Demokratie. Aber neben der offenen Debatte – hoffentlich ausgetragen mit Zivilität, ohne Ausgrenzung und Verachtung – brauchen wir auch den Kompromiss.

Der Tagesspiegel: Wer die Corona-Maßnahmen kritisiert, werde schnell in die falsche Ecke gestellt, lautet ein häufiger Vorwurf. Können Sie das nachvollziehen?

Joachim Gauck: Ja, wenn es sich um eine Intoleranz der Guten handelt. Da werden dann zulässige Fragen oder Meinungen schon als gefährlich für das Gemeinwesen oder vorschnell als rechtsradikal eingestuft. Aber das ist doch das Zeichen der offenen Gesellschaft, dass die Unterschiede aushält und nicht verbietet, wenn Leute Ansichten vortragen, die einem nicht besonders oder auch gar nicht gefallen.

Der Tagesspiegel: Die Schauspieler-Aktion #allesdichtmachen hat gezeigt, wie schnell eine Debatte hochkocht. Die einen fanden die Botschaft zynisch, andere fanden sie mutig. Und Sie?

Joachim Gauck: Weder noch. Sie entsprach nicht meiner Meinung, aber es ist das gute Recht dieser Akteure, ihre Meinung öffentlich kundzutun. Allerdings gab es schnell Äußerungen, die besagten: Wer so spricht, gehört zu denen, die unsere Demokratie gefährden. Dem sollte jeder liberale Demokrat, egal welcher Partei, widersprechen! Das dürfen wir nicht zulassen. Sonst schaffen wir ein Klima, in dem die Reinen und Erleuchteten eine sanktionsbewährte Leitkultur errichten. Aber die offene Gesellschaft ist keine Gesellschaft der gereinigten Geister. Deshalb muss Toleranz gegenüber umstrittenen unangenehmen Positionen Bestandteil einer aufgeklärten Demokratie sein.

Der Tagesspiegel: Diese Toleranz haben Sie auch einmal für AfD-Wähler eingefordert. Sollte das jetzt auch für "Querdenker“ und Impfgegner gelten?

Joachim Gauck: Absolut. Aber bitte nicht falsch verstehen: Toleranz heißt nicht akzeptieren. Für mich gibt es auch einen Begriff der kämpferischen Toleranz. Ich bekämpfe die AfD und ihre Ansichten. Und klar ist auch: Wer nur Hass und Hetze verbreitet und unsere liberale Demokratie angreift, dem müssen wir entschieden und mit allen Mitteln des Rechtsstaats entgegentreten. Eine Toleranz für Intoleranz kann es nicht geben. Aber ich möchte auch nicht, dass wir mit dem illiberalen Mittel des Verbotes einschreiten, solange jemand nicht wirklich die Demokratie gefährdet. So ist es auch mit Querdenkern und Impfgegnern. Ja, das Ausmaß an Spinnerten, die Querfront von links außen bis rechts außen und das Esoterische, das alles schreckt ab. Aber nicht alle, die dort mitlaufen, sind eine Gefahr für die Demokratie. Wir können doch nicht alle ausgrenzen, die mit der Corona-Politik unzufrieden sind.

Der Tagesspiegel: Wie im AfD-Milieu reden auch Querdenker von der "Merkel-Diktatur“. Als hätten wir hier die DDR. Was löst das in Ihnen aus?

Joachim Gauck: Das macht mich zornig. Es ist nicht nur intellektueller Unfug, sondern banalisiert die Diktatur. Es ist aber auch ein Versuch dieser Leute, ihre Gegner als moralisch verkommen hinzustellen – nach dem Motto: Du bist nicht der Richtige, also musst du weg. Richtig wäre, zu sagen: Wir erkennen folgende Fehler, deine Partei ist daran schuld, deshalb wählen wir eine andere. Das ist eine demokratische Lösung. Aber dieses moralische Aufladen mit Kampfbegriffen aus einer völlig anderen Zeit, das ist ein Zeichen der Verrohung und eine Verunglimpfung der Demokratie.

Der Tagesspiegel: Oft hört man den Vorwurf der "Zensur“, wenn sich jemand gegen die Verwendung rassistischer oder sexistischer Wörter verwahrt. Was denken Sie?

Joachim Gauck: Nicht selten übertreibt es die politische Korrektheit tatsächlich. Wir müssen politische Korrektheit schätzen, achten und wollen, wenn sie Minderheiten Gehör verschafft. Was wir allerdings nicht wollen, ist eine selbst ernannte Elite, die ihrerseits festlegt, welche Wörter erlaubt und welche als angeblich rassistisch oder sexistisch zu verbieten seien. Und wo sich jeder, der sich einer derart willkürlich festgelegten Sprache nicht anschließen will, dann rechtfertigen oder verdächtigen lassen muss. Ich persönlich bin eher liberal- konservativ als progressiv, wenn es um die Veränderung unserer Sprache geht.

Der Tagesspiegel: Gibt es eine "Hypermoralisierung“ der Politik?

Joachim Gauck: Ja, die gibt es – immer dann, wenn man den politischen Gegner ausschließlich als Feind bezeichnet, anstatt in der Sache zu streiten. Ich möchte wirklich keine moralfreie Politik. Aber wir müssen uns auch mit Argumenten aus politischen Richtungen auseinandersetzen, die den eigenen Überzeugungen entgegenstehen. Es reicht nicht, jemanden nur zu verurteilen, weil er ein gefährlicher Verführer sei. Es darf in politischen Debatten auch nicht nur um Gefühle gehen. Denn wenn das Gefühl des Einzelnen zum konstitutiven Element der Debatte wird, haben wir ein Problem. Das sehe ich etwa auch in der Identitätspolitik. Natürlich brauchen wir "Pressure Groups“, aber wenn sie ihre Wahrheit allein aus ihrer subjektiven Befindlichkeit ableiten, werden Faktizität und Logik auf der Strecke bleiben – doch sie müssen die Debatte prägen. Das Wunderbare an der menschlichen Existenz ist zudem, dass wir neben dem aufklärerischen Denken, das die Verschiedenen zu verbinden vermag, auch über Empathie verfügen. Wenn etwa, wie geschehen, eine weiße Malerin einen getöteten schwarzen Menschen nicht mehr abbilden darf, dann wird Menschen ihre kostbare Empathiefähigkeit abgesprochen. Das ist ein Rückfall in eine vormoderne Art, zu denken.

Der Tagesspiegel: Stichwort Empathie: Mehr als 80 000 Menschen sind in Deutschland nach einer Corona-Infektion gestorben. Stehen wir dem Tod zu gleichgültig gegenüber?

Joachim Gauck: Gott sei Dank steht die moderne Gesellschaft dem Leben näher als dem Tod, weil wir nicht mehr mit Hunger und Elend kämpfen müssen. Aber es gibt doch eine Fremdheit gegenüber unserer Endlichkeit. Wer die nicht wahrnehmen will, muss sich auch der Frage nicht stellen, inwieweit man mitverantwortlich ist für das, was um einen herum geschieht. Das Bewusstsein dafür kann verloren gehen, wenn wir einen Lebensstil an den Tag legen, als gäbe es kein Ende der Vergnügungen.

Der Tagesspiegel: Viele Ältere sind in Deutschland mittlerweile gegen Corona geimpft. Können Sie verstehen, wenn Jüngere neidisch werden?

Joachim Gauck: Die meisten sind nicht neidisch, denke ich. Es war richtig, den Impfstoff als Erstes an die Alten zu verteilen, und junge Menschen hatten durchaus Angst um Eltern und Großeltern. Allerdings habe ich Verständnis, wenn junge Leute sagen: Es gibt neben dem Gesundheitsproblem auch die Probleme unserer Zukunft. Ihr Alten seid finanziell so gut ausgestattet mit euren Renten, aber wer sichert unsere Zukunft?

Der Tagesspiegel: Weil die Jugend ausbaden muss, was die Babyboomer hinterlassen: ein Rentenproblem und ein kaputtes Klima?

Joachim Gauck: Genau. Das liegt vor allem daran, wie Parteipolitiker denken: Sie fragen sich, wie sie die nächste Wahl gewinnen. Und das geht am einfachsten, indem man allerhand Wohltaten an die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler verteilt – und das sind nun mal die Älteren, die sich aufs Rentenalter zubewegen. Die jüngere Generation drohte dabei leer auszugehen. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimawandel ist nun allerdings die Nachhaltigkeit von Politik massiv eingefordert worden.

Der Tagesspiegel: Die Pandemie macht die Verwerfungen des Kapitalismus deutlich. Ärmere stecken sich etwa deutlich häufiger an als Reiche. Brauchen wir einen Systemwechsel?

Joachim Gauck: Linke glauben das. Allerdings können sie keine guten Beispiele aufführen für die Nützlichkeit eines Systemwechsels. Wenn wir das politische Ideal des Sozialismus mit der Wirklichkeit vergleichen, dann hat die Wirklichkeit immer schlechte Karten. Der real existierende Sozialismus hat niemals eine freie, lebenswerte Gesellschaft hervorgebracht. Der richtige und machbare Weg ist hingegen die Zivilisierung der sozialistischen Ideen mit dem Geist der Demokratie. In Ländern wie der Bundesrepublik ist es gelungen, den Kapitalismus zu zivilisieren. Die soziale Marktwirtschaft schafft Lebensverhältnisse, die einem Freude auf die Zukunft machen können, weil Chancen eröffnet werden und das Armutsrisiko verringert wird.

Der Tagesspiegel: In der Pandemie hat die Politik an Vertrauen eingebüßt. Wie kann sie das zurückgewinnen?

Joachim Gauck: Durch Entschlossenheit und Lösungskompetenz angesichts der vielen Herausforderungen. Und die Politik muss mit den Leuten auf eine Weise reden, die verständlich ist. Uns fehlen Politiker, die hochkomplexe Dinge auf eine einfache Weise an die Mehrheit der Bevölkerung bringen können. Außerdem darf sie Nebenwidersprüchen nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken. Ein Beispiel: Sahra Wagenknecht von der Linken hat gerade Erfolg mit einem Buch, in dem sie einen Widerspruch aufzeigt zwischen der traditionellen Linken mit einem universellen Ansatz und der Kultur-Linken mit einem partikularen Ansatz. Wenn wir eine Linke haben, die nur noch an den Universitäten verstanden wird, dann wird es schwierig.

Der Tagesspiegel: Braucht die Politik für die Menschen in Ostdeutschland eine eigene Ansprache?

Joachim Gauck: Ja, denn der Osten Deutschlands befindet sich in einer anderen Situation als der Westen. Das betrifft nicht die jungen Milieus, die in der Demokratie zur Schule gegangen sind, aber noch immer große Teile der Wählerschaft. Ein langes Leben in politischer Ohnmacht ist nicht durch den kurzen Frühling in der Demokratie zu löschen, es gibt noch eine große Fremdheit mit dem für sie relativ neuen System. Im Osten haben wir, als Mitgift der Diktatur sozusagen, ein stärkeres Schwarz-Weiß-Denken. Das ändert sich leider nur langsam.

Der Tagesspiegel: Heute ist der Tag des Grundgesetzes. Braucht unsere Verfassung ein Update?

Joachim Gauck: Ich rate da zu Zurückhaltung. Ein möglichst kurzer Verfassungstext ist von Vorteil. Wenn die Grundrechte so abgesichert sind wie bei uns, muss man da nicht weiter eingreifen.

Der Tagesspiegel: Sie waren der erste Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde. Am 17. Juni 2021 wird die nun abgewickelt und ins Bundesarchiv überführt. Befürchten Sie einen Schlussstrich in der Aufarbeitung?

Joachim Gauck: Nein, da mache ich mir keine Sorgen. Die Behörde war nie für die Ewigkeit geplant. Mit der Überführung der Akten ins Bundesarchiv gehen auch die Rechte der Individuen und Forscher mit, die Einsicht wünschen. Nicht leben könnte ich damit, wenn die DDR eines Tages als angeblich unerheblicher Teil unserer Geschichte vergessen würde. Leider sehe ich bei einigen Intellektuellen, dass sie auf einem Auge blind oder nur halb sehend sind; dass die Wegnahme grundlegender Rechte durch linke Diktaturen weniger besprochen wird, als wenn es um rechten Totalitarismus geht. Doch beide Diktaturen gehören ins kollektive Gedächtnis unserer Nation.

Das Gespräch führten Stephan-Andreas Casdorff und Paul Starzmann.