Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

ZEIT Gastbeitrag

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Portrait von Joachim Gauck

©Jesco Denzel/Steffen Kugler

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Gastbeitrag in DIE ZEIT

31. März 2021

»Menschen, die die Freiheit, Demokratie und Menschenrechte lieben, fragen nicht danach, ob jemand schwarz ist oder weiß«

Weißsein privilegiert also. Ganz automatisch – per Schicksal. Ein Zeitgeist, aus anglo-amerikanischen Gefilden stammend, will es so. Über die Entstehung und das Anwachsen dieses von Amerika ausgehenden Narrativs ist viel geschrieben und gestritten worden. Inzwischen hat sich die Kritik an dem dominanten weißen Blick sogar bis in die vorkoloniale Zeit ausgedehnt, das Bild der Antike soll revidiert werden. Zuvor schon standen die Philosophen der Aufklärung auf dem Prüfstand.

Ich bin Bürger eines Landes, in dessen Geschichte Nationalismus, Rassismus und auch Kolonialismus tiefe Spuren hinterlassen haben. Trotzdem lässt das pauschale Urteil, Weißsein privilegiere, bei mir Zweifel an seiner historischen Berechtigung aufkommen und ruft spontan einen aus tieferen Schichten stammenden emotionalen Protest hervor. Beginnen wir mit der Sprache. Spielt sie doch eine nicht unwesentliche Rolle bei den augenblicklichen Diskussionen um weiße Dominanz.

Im allgemeinen Sprachgebrauch meinen Privilegien Vorrechte – wie etwa die eigene Gerichtsbarkeit und das eigene Erbrecht, und zwar für den Adel im Feudalstaat. Privilegien sind danach Sonderrechte für eine Minderheit; sobald Rechte wie etwa das Wahlrecht allen zuerkannt werden, werden sie vom Privileg zum Allgemeingut, zur Norm. Nach diesem Verständnis verfügen Weiße in unserer Demokratie über keinerlei Sonderrechte, die ihnen der Gerechtigkeit halber entzogen werden sollten. Vielmehr geht es darum, die faktischen Ungleichheiten aufzuheben, die Nichtweiße trifft, obwohl sie, von der Verfassung gestützt, dieselben Rechte haben. Denn es ist offensichtlich, dass Weiße in einer weißen Mehrheitsgesellschaft selbst ohne rechtliche Privilegien zahlreiche Vorteile haben, Vorteile, die ihnen in der Regel gar nicht bewusst sind. Wir agieren als Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft weitgehend reibungslos als Gleiche unter Gleichen und haben häufig die größeren Chancen im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben.

Ein Nichtweißer dagegen stößt, weil er einer sofort erkennbaren Minderheit angehört, nicht nur auf Neugier. Die andere Hautfarbe ruft auch Skepsis, Vorurteile, Ausgrenzung, teilweise sogar Rassismus, Hass und – wie wir gerade in letzter Zeit erleben mussten – mörderische Gewalt hervor. Ich kann die Wut verstehen, die angesichts derartiger Diskriminierung und Gewalt wächst. Es macht auch mich selbst wütend, und es ist für mich mehr als verständlich, wenn Nichtweiße neben der legalen Gleichheit auch soziale Gleichheit einklagen und – wie Norbert Elias es nannte – »menschliche Gleichwertigkeit«. Gleichzeitig reizt mich die Critical Whiteness aber auch zum Widerspruch, weil ich fürchte, das Pendel könnte wie in Amerika zu weit in die andere Richtung ausschlagen. Auch in Deutschland stoßen wir schon auf Pauschalisierungen, als sei Weißsein ungeachtet der konkreten Situation fest gebunden an die Rolle eines Kolonisators oder Herrschers. Auch schwingt, wenn jemand von weißen Privilegien redet, immer eine Schuldzuweisung mit, als seien Weiße ganz ungeachtet ihres individuellen Verhaltens mit einer Art kollektiver Schuld versehen – manche fühlen sich geradezu an die Erbsünde erinnert. Der komplizierten Geschichte der Menschheit wird damit eine scheinbare Eindeutigkeit aufgedrückt, die zu einer holzschnittartigen Verengung führt.

Die Geschichte ist in Deutschland und Europa zweifelsohne zumeist eurozentrisch oder doch transatlantisch-»westlich« beschrieben worden. Selbst da gab und gibt es nicht nur die eine weiße Sichtweise. Vor allem aber sind geschichtliche Erkenntnisse immer wieder ergänzt, relativiert oder auch korrigiert worden – und das wird auch heute und in Zukunft so sein. Zweifellos werden eingefahrene Blickverengungen aufzugeben sein, wenn – wie in den vergangenen Jahren bereits begonnen – Themen wie die Kolonialgeschichte stärker in unser Geschichtsbild integriert werden und wenn wir uns mit ganz anderen Blickwinkeln und Deutungsmustern auseinandersetzen. An den Universitäten sind zahllose Arbeiten über Critical Whiteness, Rassismus, Postkolonialismus oder Identitätspolitik erschienen. Intellektuelle aus Asien und Afrika schalten sich verstärkt in die Deutung historischer Ereignisse und aktueller Konfliktlagen ein. Museen diskutieren über die Rückgabe von Kunst, die entweder von westlichen Staaten geraubt oder über Dritte erworben wurde. Das alles ist wichtig und erkenntnisfördernd. Die Auffassung aber, der Blick auf die Kolonialzeit und den transatlantischen Sklavenhandel sei eine epochale Zäsur, nach der alle bisherigen historischen Deutungsmuster im Hinblick auf einen alles entscheidenden Gegensatz zwischen Weißen und Nichtweißen umzuschreiben seien, halte ich für äußerst bedenklich. Denn sie lädt zu einer selektiven Wahrnehmung von Geschichte ein, statt dazu beizutragen, das ganze Bild in den Blick zu nehmen.

Schauen wir etwa auf die Geschichte der Sklaverei, sehen wir, dass sie sich durch die Geschichte der Menschheit seit dem Altertum zieht – und sich weder Sklavenhalter noch Sklaven eindeutig nach Hautfarben sortieren lassen. Die Sklavenhalter waren nicht immer Weiße, sondern auch Chinesen, Balinesen, Azteken, Maya, Afrikaner. Und der arabische Sklavenhandel mit Afrikanern hat eine weit längere Geschichte als der transatlantische. Umgekehrt waren die Sklaven nicht nur schwarz, sondern oft auch weiß: etwa die Angehörigen besiegter Nachbarvölker im antiken Griechenland und Rom oder später, zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, die Weißen, die vom Osmanischen Reich massenhaft versklavt von muslimischen Piraten an den Küsten Italiens, Spaniens und Portugals geraubt und als Sklaven verkauft wurden – unter ihnen der spätere spanische Nationaldichter Cervantes, der fünf Jahre als Sklave in Algier verbrachte, bevor er von dem Trinitarierorden freigekauft wurde. Sklaverei war in diesen Jahrhunderten primär keine Frage der »Rasse«, sondern eine Folge von Macht und Machtverschiebungen.

Und was das letzte, das lange 20. Jahrhundert betrifft: Ganz sicher waren Kolonialismus und Entkolonialisierung wichtige Elemente der Globalgeschichte dieses Jahrhunderts. Aber am nachhaltigsten wurde das Jahrhundert von den zwei Weltkriegen und den totalitären Herrschaftssystemen geprägt, für die die Namen von Hitler, Stalin und Mao Zedong stehen. Ich denke an viele, viele Millionen, die ihr Leben als Soldaten oder Zivilisten im Krieg verloren, an viele Millionen, die umgebracht wurden, weil sie der falschen »Rasse« oder der falschen Ethnie oder Religion angehörten, die ins Gefängnis oder ins Lager kamen, wenn sie die falsche Meinung vertraten, die ermordet oder ausgehungert wurden, wenn sie der falschen Klasse angehörten, und die vertrieben wurden, weil sie für die Verbrechen ihrer Führer büßen sollten. Dutzende von Millionen haben in Gulags, Konzentrationslagern und in verbrecherischen Kriegen ihr Leben gelassen – in Europa und der Sowjetunion fast alles Weiße als Opfer weißer Gewaltherrscher. Für die übergroße Mehrheit auch der weißen Menschen ist die Geschichte eine Geschichte von Inferiorität, Ohnmacht und von eingeschränkten Lebensmöglichkeiten. Für eine Minderheit ist sie Suprematie und Herrschaftsgeschichte. Jene Aktivisten der critical whiteness, die einen Gegensatz zwischen Weißen und People of Color zu einem Hauptwiderspruch machen, verzerren das Bild vom gelebten Leben. Sie marginalisieren Unterdrückung – nicht nur die Unterdrückung von Weißen durch Weiße, sondern auch die Unterdrückung von Nichtweißen durch Nichtweiße – wie in verschiedenen afrikanischen Staaten und in Asien. In diesem Zusammenhang darf an China und Kambodscha erinnert werden, wo Millionen zu Opfern kommunistischen Terrors wurden, oder an Indonesien, wo umgekehrt Hunderttausende Kommunisten einem Massaker von Militär und Milizen zum Opfer fielen.

Zwangsläufig, obwohl sicher nicht beabsichtigt, werden so die weltweiten Bewegungen für Empowerment, Menschenrechte und Menschenwürde geschwächt. Zudem behindert der verengte Blick die Erkenntnis, dass sich Täter und Opfer in der Geschichte selten nach Hautfarbe trennen lassen. Es gibt nicht den »bösen Weißen« und den »edlen Wilden«. Es hat vielfach Bündnisse und Kooperationen beziehungsweise Kollaborationen zwischen schwarzen und weißen Menschen gegeben – aufseiten der Unterdrücker wie aufseiten der Unterdrückten: zwischen schwarzen und weißen Sklavenhändlern einerseits und zwischen schwarzen und weißen Gegnern von Sklaverei, Rassismus und Kolonialismus andererseits.

Der transatlantische Sklavenhandel und die Sklaverei in der Karibik und den Südstaaten der USA wurden zwar von Weißen eingeführt und profitreich betrieben, aber bekämpft und schließlich beseitigt wurden sie ebenfalls fast überall von Weißen – von Abolitionisten etwa unter den Pietisten und evangelischen Missionaren in Großbritannien, für die Sklaverei unvereinbar war mit dem Verständnis des Menschen als Kind Gottes. »Unsere Kinder sollten Geschichte in all ihren Aspekten lernen und nicht, dass sie allein daraus bestand, wie Weiße in der ganzen Welt auf dem Hals von Schwarzen standen«, erklärte denn auch der schwarze amerikanische Literaturprofessor John McWhorter unlängst in einem Spiegel-Interview. Ich möchte auf keinen Fall eine Hierarchie der Opfer aufstellen. Was ich allerdings möchte, ist, dass Vernichtung, Unterdrückung und Diskriminierung nicht weniger Aufmerksamkeit zuteil werden, wenn sie nicht aus rassistischen, sondern aus politischen oder ökonomischen Gründen erfolgen – und wenn die Opfer weiß sind.

Oder sind Opfer weniger wert, wenn sie weiß sind? Menschen wie Maria Kolesnikowa und Hunderte andere in weißrussischen Gefängnissen? Oder Alexej Nawalny im russischen Straflager? Wogegen ich mich ebenfalls sperre, ist, dass Vernichtung, Unterdrückung und Diskriminierung weniger Aufmerksamkeit zuteil wird, wenn die Unterdrücker nicht weiß, sondern schwarz oder People of Color sind. Verdienen nicht auch sie unsere Verurteilung: Die chinesische Führung wegen der jahrelangen Unterdrückung der Uiguren? Die Verfolger der Rohingya in Myanmar? Oder Boko Haram, jene Dschihadisten, denen in Nigeria Zehntausende Menschen zum Opfer gefallen sind? Es sollte sich von selbst verstehen, dass man den Rassismus und die Menschenfeindlichkeit im eigenen Land nicht kleinreden darf, indem man mit dem Finger auf andere zeigt. Es dürfte aber genauso klar sein, dass man Verfolgung und Menschenfeindlichkeit in nichtweißen Ländern nicht ignorieren darf, wenn man seine Glaubwürdigkeit als Demokrat auf dem Boden des Humanismus nicht verlieren will. Wer nur die Solidarität mit Menschen pflegt, die nicht weiß sind, und wer Unterdrückung übersieht, wenn sie von Nichtweißen verübt wird, stellt ethnische oder »rassische« Zugehörigkeit über die allgemeingültigen Menschenrechte. Er betreibt trotz steter Ablehnung des Begriffs Rasse eine letztlich rassisch grundierte Menschenrechtspolitik.

Zu Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Väter der amerikanischen Verfassung wie Thomas Jefferson selbst Sklaven besessen haben. Auch die in der Französischen Revolution verkündeten Menschenrechte galten anfangs keineswegs für alle Menschen. Aber gleichzeitig schufen beide Revolutionen die Voraussetzungen dafür, dass die Aufhebung von rechtlichen Einschränkungen überhaupt erst möglich wurde. Nun setzte sich als neues Ideal durch, dass alle Bürger die gleichen Rechte besitzen. Und ebendieses Denkmuster hat in den letzten zweihundert Jahren immer mehr Menschen in Europa, den USA und anderen Regionen der Welt angetrieben, ihre Gleichberechtigung zu erstreiten – auch unzählige Nichtweiße. Etwa in der Sklavenrevolution ab 1791, die die französische Sklavenhalter-Kolonie Saint-Domingue in die erste unabhängige Schwarzen-Republik der Welt namens Haiti verwandelte. Oder in den Emanzipationsbestrebungen der Entkolonialisierung, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine starke Dynamik entwickelten, aber lange zuvor begonnen hatten.

Die Menschenrechte beziehen ihre Bedeutung also nicht daraus, dass die westlichen Demokratien sie anderen aufzuzwingen versuchen. Es sind vielmehr die Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen der Unterdrückten überall in der Welt, die ihnen ihre zentrale Bedeutung verleihen. Die Sehnsucht nach Menschenrechten und nach dem »Recht, Rechte zu haben« (Hannah Arendt), hat sich als universell erwiesen. Wenn heute Nichtweiße auch in den demokratischen Staaten fordern, dass Weiße mehr Sensibilität entwickeln bei rassistischer Diskriminierung, wenn sie mehr Wissen einfordern über die koloniale Vergangenheit, wenn sie mehr Gleichberechtigung und mehr Partizipation einklagen, dann kann ich das gut verstehen und bin selbstverständlich mit ihnen solidarisch. Eine weiße Vorherrschaft wie zu Zeiten des transatlantischen Sklavenhandels, der diskriminierenden Jim-Crow-Gesetze der amerikanischen Südstaaten oder wie noch im Amerika der Rassentrennung bis in die 1960er-Jahre gehört glücklicherweise der Vergangenheit an. In den meisten Demokratien ist die rechtliche Gleichstellung aller Bürger gesetzlich abgesichert, einschließlich von Antidiskriminierungsgesetzen. Das ist zweifellos ein Erfolg. Aber immer wieder besteht die Gefahr, dass die Mehrheitsgesellschaft die Augen davor verschließt, dass sich Abwertung und Ausgrenzung auch in der Gegenwart offen oder subtil fortsetzen.

Die schöne Hoffnung, Rassismus sei gänzlich auszulöschen, wird nicht in Erfüllung gehen. Die Vorstellung einer »chemisch gereinigten«, rassismusfreien Gesellschaft ist eine schöne, aber nie erreichbare Wunschvorstellung. Denn ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen uns der Tatsache stellen, dass es sich bei der Skepsis gegenüber allem Fremden offensichtlich um eine anthropologische Konstante handelt. Und die Gefahr, Fremde abzuwerten, um sich selbst aufzuwerten und Vorteile zu erhalten oder zu erweitern, wächst gerade in Zeiten wie diesen, in Zeiten der Verunsicherung, wenn sich die Mehrheitsgesellschaft in ihrem Status oder ihrem Selbstverständnis bedroht fühlt und ihre als natürlich empfundene Ordnung ins Wanken gerät. Daraus folgt für jeden Demokraten gerade heute dem Rassismus entgegenzutreten, wo auch immer er sich zeigt.

Die Unterschiede auszuhalten (...), ohne die Abweichungen des anderen zum Vorwand für Abwertungen zu nehmen – allein darin sah Toni Morrison denn auch die Möglichkeit eines achtsamen Miteinanders der Verschiedenen. Das ist eine Aufforderung an uns alle, Weiße und Nichtweiße. Wir sollten uns dabei an historische Bündnisse erinnern, an Bündnisse allgemeiner Solidarität, wie sie Martin Luther King in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und die südafrikanische Antiapartheidbewegung um Nelson Mandela geschmiedet haben. Menschen, die die Freiheit, Demokratie und Menschenrechte lieben, fragen nicht danach, ob jemand schwarz ist oder weiß. Denn nicht Herkunft und eine daraus abgeleitete »Identität« entscheiden, sondern Haltung. Und die ist unabhängig von der Hautfarbe.

Erschienen in: DIE ZEIT Nr. 14/2021, 31. März 2021