Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

101 Jahre Gildenhaus Bielefeld

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Joachim Gauck ©Gildenhaus e.V.

Jubiläumsveranstaltung „101 Jahre Gildenhaus e.V.“

30. September 2021, Bielefeld

Änderungen vorbehalten.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Es ist mir eine Freude, heute mit „ein wenig Verspätung“ den 100. Geburtstag des Gildenhauses mit Ihnen gemeinsam in der Oetker Halle, feiern zu dürfen. Und überhaupt: wie schön ist es doch, dass diese Art von Begegnungen, Feiern und Jubiläumsveranstaltungen wieder möglich sind, wenn auch unter anderen Rahmenbedingungen. In diesem Sinne:

Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum Ihres Gildenhaus Vereins!

Zuletzt durfte ich 2019 in Bielefeld sein und freue mich, dass mich Ihre Einladung erneut in diese schöne Stadt geführt hat, die so bodenständig, angenehm normal und unaufgeregt ist. Immer. Wenn ich hier oder überhaupt in Westfalen bin, freue ich mich über den starken Mittelstand, der zu den stärksten in ganz Deutschland gehört. Und viele dieser „Aushängeschilder Bielefelds“ und der Region engagieren sich im Gildenhaus, leisten Nachwuchsarbeit und haben vor allem seit 100 Jahren ein Ziel: „die Marktwirtschaft zu thematisieren und über ihre vielfältigen Aspekte, Mechanismen und Vorteile zu informieren.“

Die soziale Marktwirtschaft, unsere Wirtschaftsordnung seit den Anfängen der Bundesrepublik mit all ihren Errungenschaften und Herausforderungen möchte ich heute auch zum Thema meiner Festrede machen. Lassen Sie mich dazu auch einen Blick zurückwerfen:

Wenn wir auf die Gründung des Gildenhauses schauen, dann wird schnell klar: Die Geschichte des Vereins ist eng verknüpft mit der Geschichte unseres Landes, auf lokaler Ebene werden die großen Linien unserer Zeit reflektiert.

Am 22. März 1920 schlossen sich Bielefelder Unternehmer zusammen, deren Ziel, die „Förderung von Marktwirtschaft und Unternehmertum“ war. Zugleich betonten sie, dass es Ihnen ein wichtiges Anliegen war, „Verständnis für die Probleme der Unternehmer bei einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht zu entwickeln und gleichzeitig zu signalisieren, dass man die Anliegen der Arbeitnehmer ernst nahm“. Denn: Die 1920er Jahre waren wirtschaftlich turbulent. In jene Zeit fallen die Verheerungen der Großen Depression, die Not der Arbeitslosen, Chaos und Gewalt. Am Ende des Jahrzehnts gab es rund 3.000 Kartelle in der Industrie, Handel und in der Finanzbranche. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsprozesse waren durchaus üblich. Auf Weimar folgte ab 1933 die Kommandowirtschaft der Nationalsozialisten und ein Verein, der für eine freie Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eintrat, passte nicht in das nationalsozialistische System. 1935 wurde der Verein zwangsweise aufgelöst.

1948 gründete sich der Verein neu und folgte den wirtschaftlichen Ordnungsprinzipien die von liberalen Geistern um Walter Eucken in Freiburg entwickelt und die Alfred Müller-Armack so treffend unter dem Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ zusammengefasst hat. Aus heutiger Sicht könnte man meinen, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein leichtes Spiel gewesen sei, eine Mehrheit der Bevölkerung von den Vorzügen einer sozialen Marktwirtschaft zu überzeugen. Dem war allerdings nicht so. Die Mehrzahl stand dem Konzept ablehnend oder zumindest mit großer Skepsis gegenüber. Und noch Anfang der 1950er Jahre beurteilten nur 14 % der Bevölkerung den Kurs Ludwig Erhards positiv und knapp 50% votierten für die Beibehaltung staatlicher Regulierung, etwa die Zuteilung von Lebensmitteln und für staatlich regulierte Preise.

Es dauerte also eine Weile, bis sich die Deutschen mit dem liberalen Wirtschaftssystem angefreundet hatten, das ihnen Teilhabe am Fortschritt und gerechten Anteil an dem, was alle erwirtschafteten, ermöglichte. Über diesen Umstand fanden sie dann auch Vertrauen in die Demokratie. Und ganz gewiss hat die Arbeit des Gildenhauses auf regionaler Ebene seinen Beitrag dazu geleistet, die „Schrecken vor der sozialen Marktwirtschaft“ zu nehmen.

Und nebenbei bemerkt: Historisch gesehen scheint es also längerfristig durchaus Sinn zu machen, an wirtschaftspolitischen Prinzipien festzuhalten, auch wenn sich damit kurzfristig nicht immer Wählerstimmen gewinnen lassen.

Mit der Etablierung des Systems der sozialen Marktwirtschaft wurde auch ein neues Kapitel der Freiheitsgeschichte in Deutschland geschrieben. Denn: die Freiheit wurde als wichtiges Thema in die Gesellschaft eingebracht, auch indem man über die Freiheit der Wirtschaft redete. Der liberale Denker Friedrich August von Hayek hat zweifelsohne Recht, wenn er feststellt, dass die Freiheit in der Gesellschaft mit der Freiheit in der Wirtschaft untrennbar verbunden ist. Wer eine freiheitliche Gesellschaft möchte, möge sich einsetzen für Markt und für Wettbewerb und gegen zu viel Macht in den Händen weniger. Er muss aber auch wissen: Eine freiheitliche Gesellschaft beruht auf Voraussetzungen, die Markt und Wettbewerb allein nicht herstellen können. Und so können wir auch festhalten: wenn wir uns heute in der Welt umschauen und uns mit anderen liberalen Wirtschaftsordnungen vergleichen, dass es sich lohnt mit Hayek um das Adjektiv „sozial“ zu ringen.

So wurde eine Ordnung entworfen, in der - in fundamentalem Gegensatz etwa zur neuen Wirtschaftsordnung in der ostdeutschen Diktatur- der Staat keine dominierende Rolle in der Wirtschaft spielt und so viel wie irgend möglich dem freien Spiel des Wettbewerbs überlässt – sich dabei allerdings das Setzen der Regeln selbst zur Aufgabe macht. Es entstand eine Ordnung, die den Einzelnen weder einer staatlichen Bevormundung unterwirft noch einem Markt, auf dem die Starken so groß werden können, dass sie selbst die Regeln bestimmen. Eine Ordnung, die auf "das Anliegen der sozialen Gerechtigkeit" zielte und – zur Erfüllung dieses Anliegens – auf den höchstmöglichen wirtschaftspolitischen Wirkungsgrad.

Was in den ersten Jahren in der Bundesrepublik nun gelang, war dann auch nicht nur ein Wirtschaftswunder. Wenn wir es genau betrachten, ist es auch so etwas wie ein Demokratiewunder, das hier im Westen Deutschlands gewachsen ist und unser Deutschland prägt. Jede und Jeder rund um die Welt kennt „Wirtschaftswunder“. Für mich ist der Begriff „Demokratiewunder“ für unser Land eine noch schönere Auszeichnung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
auf den Plakaten zum bevorstehenden Tag der Deutschen Einheit in Halle liest man in großen Lettern: „Was eint uns?“. Und ich möchte darauf antworten: Neben der Akzeptanz, die unsere Demokratie, unser Grundgesetz und unsere Rechtsordnung genießen, ist es auch das Vertrauen auf die soziale Marktwirtschaft, was uns Deutsche eint. Bestätigt hat dies erst kürzlich eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat demnach eine gute Meinung von unserem Wirtschaftssystem. Vor zehn Jahren waren es nur 48 Prozent, 2005 sogar nur 25 Prozent. Die Corona-Krise, die auch eine wirtschaftliche Krise ist und war, verfestigt so zugleich die mehrheitliche Zustimmung zur sozialen Marktwirtschaft. Nur eine kleine Minderheit von 8 Prozent glaubt, dass es einem persönlich besser ginge, wenn der Staat stärker in die wirtschaftlichen Abläufe eingreifen würde.

Für Deutschland könnte das glückliche Fazit demnach nun lauten: soziale Marktwirtschaft und Demokratie haben sich durchgesetzt. 

Wer würde dem auch, obgleich die Corona-Krise, die Globalisierung und der Klimawandel uns vor enorme Herausforderungen stellen, widersprechen? Unsere Wirtschaft florierte jahrelang, nun erholt sie sich zunehmend nach den schweren Monaten der Pandemie. Wir verkaufen weiter unsere Waren auf dem ganzen Globus. Und dank des wirtschaftlichen Erfolges genießen wir im Land ein hohes Wohlstandsniveau und auch hohe soziale Standards – es gibt sie nur in wenigen Ländern so wie bei uns. Ich nenne nur beispielhaft das Kurzarbeiter- oder auch das nun weiter ausgebaute Elterngeld.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
erst vor vier Tagen haben wir das Hochamt der Demokratie gefeiert und konnten in freien, gleichen und geheimen Wahlen die Abgeordneten unseres Parlaments wählen. Das Wählen ist ein Akt, der uns daran erinnert, was uns niemals selbstverständlich werden sollte: wir leben in Freiheit in einem Staat, dessen Ordnung uns persönliches Glück und Fortkommen ermöglicht. In dieser Ordnung existiert so etwas wie ein immerwährender Auftrag, die Freiheit mit Chancengerechtigkeit und sozialem Ausgleich zu verbinden. Dabei spielen die Gewerkschaften, die Verbände der Arbeitgeber, die gesetzgebenden Körperschaften, die Parteien und die Bewegungen der Zivilgesellschaft eine je eigene, den Raum der Freiheit gestaltende Rolle Wir sollten uns kurz nach der Wahl und kurz vor unserem Nationalfeiertag auch daran erinnern: dieser demokratische Segen ist uns nicht wie Manna vom Himmel gefallen, sondern er wurde zunächst im Westen Schritt für Schritt etabliert und später im Osten unserer Republik von Menschen errungen, die ihre Angst ablegten und ihr Recht einforderten, als freie Bürger zu leben.

Es wird niemand – zumindest in absehbarer Zeit – die Stabilität unserer Demokratie ernsthaft in Frage stellen können. Noch haben Frustration, Kritik und Wut in Deutschland nicht zu einer mehrheitlichen Ablehnung der Demokratie und einer wesentlichen Unterstützung radikaler Parteien geführt. Oder anders gesagt: Die Erosion traditioneller Parteien ist nicht mit einer Erosion gemäßigter politischer Positionen einhergegangen. Allerdings hat die Gewalt aus extremistischen Milieus heraus deutlich zugenommen. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Verachtung für den westlichen freiheitlich-liberalen Lebensstil sind wie Gift in Teile der Gesellschaft eingedrungen, und die Hemmschwelle dessen, was geäußert wird, ist insgesamt gesunken. Deutschland hat sogar wieder Morde aus politischen Motiven zu beklagen. Und es ist ganz klar: Hier muss sich der Rechtsstaat als handlungsfähig gegen alle erweisen, die unsere Demokratie mit Gewalt bedrohen.

Und dennoch sage ich: Diese, unsere Demokratie ist von sich aus stark. Sie muss nur lernen wehrhafter und effektiver zu sein, als sie es zurzeit ist. Eine Vielzahl von Bürgern wünscht sich einen Wandel – ja, aber innerhalb des Systems.

Nicht wenige sind auch deshalb enttäuscht von der liberal-demokratischen Ordnung, weil sie mehr von ihr erwartet haben, und weil sie ihr immer noch mehr zutrauen als das, was sie augenblicklich leistet. Eben deswegen setzen sie ihre Hoffnungen nicht nur auf zivilgesellschaftliche Aktionen, Bewegungen und Proteste, sondern immer wieder - und gerade vor einigen Tagen - auch auf Wahlen. Mögen Wahlen von manchen auch als unzureichende Partizipationsmöglichkeit kritisiert werden, so zeigt sich doch auch, dass Wahlen zu aktivieren vermögen; sie nähren die Hoffnung auf bessere Ergebnisse für die jeweils präferierte Partei. Sie wecken die Hoffnung auf neue Sieger und Verlierer, auf neue Koalitionen und damit neue politische Prioritäten. Sie wecken die Hoffnung auf beständige Erneuerung.

Unter dem Stichwort „faire Teilhabe und Chancengerechtigkeit“ möchte ich in diesem Sinne heute daran erinnern, dass das große Versprechen in den 1950er Jahren „Wohlstand für alle“ lautete. Und das ist gewachsen aus einer Überzeugung, dass fairer und freier Wettbewerb alle Bürger partizipieren lassen kann am Wohlstandsgewinn. Und das ist ja auch lange Zeit gelungen, wenn wir die westdeutsche Geschichte anschauen.

Und doch lesen und hören wir, dass in den letzten Jahren – gerade mit Blick auf die unteren Einkommen – die faire Teilhabe am Wohlstand nicht mehr in dem wünschenswerten Maß gegeben ist. Letztes Jahr standen die Pfleger, Arzthelferinnen, Kassierer stellvertretend für dieses Bild der essenziellen Berufe, die zu schlecht bezahlt sind. Immer mehr Menschen geben den gern ausgeübten Beruf des Pflegers auf, weil sie sich den Bedingungen nicht mehr aussetzen können oder wollen unter denen sie arbeiten müssen. Mit Blick auf unsere alternde Gesellschaft ein alarmierendes Signal. Hier muss die Politik bessere Rahmenbedingungen schaffen und die Wirtschaft wird über kurz oder lang in vielen Branchen bessere Löhne zahlen müssen. Schon heute gibt es Branchen mit enormen Nachwuchsproblemen und was der demografische Wandel für den Arbeitsmarkt bedeutet, dürfte vielen von Ihnen bereits bekannt sein.

Aber schon heute gilt es der Wahrnehmung entgegenzuwirken, dass es einen Konflikt zwischen Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit gibt.

Die Gefahr ist sehr eindeutig fühlbar: Wer sich abgehängt fühlt, wer meint keine faire Chance auf Teilhabe mehr zu haben, der hat nicht mehr zwangsläufig ein Interesse am Fortbestand der bestehenden Ordnung und bringt dies dann auch bei seiner Wahlentscheidung zum Ausdruck. Wohin eine solche Entwicklung in einer Demokratie führen kann, konnten wir beim Blick über den Atlantik vor ein paar Jahren beobachten. Dann wird das Heil häufig auch in wirtschaftlicher Abschottung und nationalistischer Isolation gesucht. Das kann sich ja nun wirklich niemand wünschen - und leisten kann sich unser Land das auch nicht! Denn wir profitieren wie kaum ein anderes Land vom freien Handel.

Aus unserer eigenen Geschichte, dem Scheitern der Demokratie in der Weimarer Republik und dem Erfolg der jungen Bundesrepublik, wissen wir doch: die freiheitliche Wirtschaftsordnung und die Demokratie legitimieren und bedingen sich gegenseitig – sie können sich aber auch gegenseitig beschädigen.

Und heute sehen wir beim Blick über den Atlantik, welch gravierende Folgen es für eine Gesellschaft hat, wenn ganze Regionen und viele Menschen einen realen Wohlstandsverlust hinnehmen müssen. Ich denke, dass die soziale Marktwirtschaft uns vor einem solchen Auseinanderfallen großer gesellschaftlicher Blöcke schützt. Es gibt wahrlich Menschen, denen weiter Unterstützung zuteilwerden muss – auch in diesem Land. Es gibt auch Gründe zur Unzufriedenheit in bestimmten Bereichen. Aber wenn wir uns den Zustand in den Vereinigten Staaten anschauen und dem gegenüber diesen inneren Frieden und diese innere Stabilität, die trotz allem unser Land prägt, dann wird uns einmal deutlich, von welcher enormen Langzeitwirkung wir sprechen dürfen und in welchem Dank wir geraten müssen gegenüber denen, die dieses Konzept der sozialen Marktwirtschaft erdacht, umgesetzt, verteidigt und ausgebaut haben. Das kann man nicht auf eine Person beziehen, übrigens auch nicht auf eine Partei. Aus den verschiedenen gesellschaftlichen Milieus ist die gemeinsame Überzeugung gewachsen, dass die Wirtschaftsordnung auch der gesamten Gesellschaft dienen muss. Dieses Konzept des sozialen Ausgleichs, wie es die Skandinavier mit uns zusammen etabliert haben, ist manchmal kompliziert. Es ist bürokratisch. Aber es ist ein großer geschichtlicher und historisch bedeutsamer Schritt gewesen, eine Gesamtbevölkerung miteinander zu versöhnen und zusammen zu bringen.

Dabei ist es wichtig, dass wir, selbst in einem Land, das ich eben so hoch gelobt habe, dem fairen Wettbewerb Raum lassen und gleichzeitig uns denen widmen, die eine zweite oder dritte Chance brauchen, oder die gar – weil sie aus anderen Milieus kommen, als aus denen, die hier versammelt sind, mehr Unterstützung brauchen.

Übrigens wenn Wettbewerb existiert, kann er auch gerecht sein - nämlich, wenn er richtig gestaltet ist. Ungerechtigkeit gedeiht meist dort, wo Wettbewerb eingeschränkt wird: durch Protektionismus, durch Korruption oder staatlich verfügte Rücksichtnahme auf Einzelinteressen, dort, wo die Anhänger einer bestimmten Partei bestimmen, wer welche Position erreichen darf, oder wo Reiche und Mächtige die Regeln zu ihren Gunsten verändern und damit willkürlich Lebenschancen zuteilen oder verweigern. Insbesondere die demokratische Gesellschaft muss sich davor schützen, dass es organisierten Gruppierungen gelingt, ihre egoistischen Sonderinteressen auf Kosten der Allgemeinheit durchzusetzen.

Es ist so, auch da müssen wir hingucken, auch gut gemeinte Eingriffe des Staates können dazu führen, dass Menschen auf Dauer aus- statt eingeschlossen werden. Wann etwa ist staatliche Fürsorge geboten, wann führt sie dazu, dass Empfänger keinen Sinn mehr darin erkennen können, sich selbst um ein eigenes Auskommen zu bemühen? Sie wissen, wie intensiv wir im Zuge der Reformen der Agenda 2010 über diesen Punkt debattiert haben. Das müssen wir auch weiter tun und das ist natürlich in wirtschaftlich guten Zeiten einfacher als in schwierigen Zeiten wie zu Beginn des Jahrtausends. Dabei würde ich mir auch mehr Redlichkeit im Blick auf die Erfolge und natürlich auch die nicht zu leugnende Schattenseiten dieser Reform wünschen. Es befremdet mich schon, wenn heute nur noch auf Letzteres geschaut und die Erfolge kaum mehr beachtet werden. Selbstverständlich ist auch diese Reform in einer sich immer schneller wandelnden, globalisierten Welt wiederum reformbedürftig, manches war vielleicht auch von Anfang an weniger gut gelungen und trotzdem gibt es Erfolge, gibt es eine Haltung, an der wir festhalten sollten.

Nach wie vor halte ich eine aktivierende Sozialpolitik für erfolgversprechend. Eine Politik,die wie ein Sprungtuch funktioniert, die Stürze abfedert, für diejenigen, die es brauchen, die aber dazu verhilft, wieder aufzustehen und für sich selbst einzustehen. Man tut Menschen nichts Böses, wenn man von Ihnen etwas erwartet!

Deshalb hat aktivierende Sozialpolitik für mich aber noch eine weitere, unverzichtbare Dimension, die eng mit Chancengerechtigkeit verknüpft ist. Die Entmachtung weniger, mächtiger Akteure durch den Wettbewerb mag eine notwendige Voraussetzung sein, den Vielen Teilhabe zu ermöglichen, aber sie ist keine hinreichende Voraussetzung, denn sie ermächtigt die Vielen noch lange nicht. Auch wenn alle nach den gleichen Spielregeln spielen dürfen, kommt es doch darauf an, mit welcher Ausstattung man auf das Spielfeld tritt. Chancengerechtigkeit hat also Voraussetzungen, die außerhalb des Wettbewerbs liegen. Niemand würde es als gerecht empfinden, wenn wir einen Boxer aus der Klasse Leichtgewicht antreten lassen gegen einen aus dem Schwergewicht und sagen, alle haben die gleichen Chancen. Soll er mal sehen, wie er klarkommt.

Es gibt gewachsene strukturelle Unterschiede, die zu vernachlässigen wirklich übel wäre. Chancengerechtigkeit hat Voraussetzungen, die außerhalb des Wettbewerbs liegen.

Wir sehen das ganz besonders klar beim Thema Bildung: Noch immer entscheidet der soziale Hintergrund über den Bildungserfolg. Kinder, die aus bildungsfernen Elternhäusern kommen, machen fünfmal seltener Abitur als Kinder höher gebildeter Eltern. Das klingt zunächst einmal ganz normal. Es muss auch nicht jeder Abitur machen, das ist gar nicht dass, was ich fordere. Aber wir dürfen uns nicht an so einen Zustand gewöhnen, das wäre ja nun wirklich ein fataler Fehler und ein Vorbeisehen an verborgene Ressourcen, die nur darauf warten, wachgeküsst und gefördert zu werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Freiheit der Sozialen Marktwirtschaft, von der ich zu Beginn sprach, ist stets eine Freiheit in Verantwortung. Und so verbindet die persönliche Handlungsfreiheit des Unternehmers sich immer mit der uneingeschränkten Haftung für die Folgen seines Handelns. Alles andere ist, so habe ich es mal genannt, nur die Freiheit von Pubertierenden, die Freiheit von etwas, die sich von Regeln und Zwängen am liebsten löst, die andere übervorteilt und nur das eigene Ich in den Mittelpunkt stellt.

Die Freiheit, die wir meinen, und nach der wir streben wollen, ist immer die Freiheit zu etwas, zu Gestaltung und zu Mitwirkung am Gemeinwesen. Deshalb gilt für mich: Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung.

Wenn Gewinne privatisiert und Verluste verstaatlicht werden, dann zum Beispiel ist die Grundvoraussetzung für den fairen Wettbewerb und die Soziale Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt. Denn zu einer erwachsenen Verantwortung gehört es, dass wer hohe Risiken eingeht, bereit ist, auch für sein Scheitern einzugestehen. Das kann doch nicht nur für den Kleinanleger und Mittelständler gelten, das muss doch wohl auch für Bank- und Automanager gelten.

Die Freiheit der Sozialen Marktwirtschaft habe ich immer als eine Freiheit verstanden, die sich nicht der grenzlosen Gier und dem Übermut hingibt, sondern in der Verantwortung über den eigenen Bilanzgewinn hinaus wahrgenommen wird.

In unserem Land sehen wir das an vielen Stellen. Es verdienen Privatleute und Unternehmer gutes Geld, das sollen sie auch. Nach Gewinnen zu streben ist auch nicht verwerflich, sondern es ist Voraussetzung für ein Wirtschaftswachstum durch Investitionen und Innovationen.

Was Sie alle in dieser Halle verbindet, ist doch mindestens eins: Sie bemühen sich täglich darum, auch in der Zukunft erfolgreich agieren zu können. Dabei werden Sie Innovationen den Weg bahnen, Sie neue Kontakte knüpfen und neue Geschäftsfelder erschließen. In Deutschland gibt es dafür den Begriff des "Machers": jemand, der aktiv wird, jemand, der etwas anzuschieben imstande ist. Sie sind Macher im besten Sinne, und das imponiert mir. Es ist zudem wichtig, dass die Wirtschaft Ihre Verantwortung erkennt und annimmt, Innovationen auch in Sachen Klimawandel voranzutreiben. Davon gibt es auch schon genügend Beispiele und ich bin überzeugt, dass auch für diese große Herausforderung für uns, für die ganze Welt das ordo-liberale Credo die richtige Antwort ist: Die Politik setzt die Rahmenbedingungen, die für alle gelten, und der Markt liefert die notwendigen Innovationen und technischen Lösungen. Ich bin optimistisch, dass die Unternehmer um Ihre Verantwortung wissen, schließlich gehört der effiziente Einsatz von Ressourcen zum Tagesgeschäft.

Mit großer Freude habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder erleben können, wie oft die Verantwortung über das Eigeninteresse der eigenen Firma hinauswächst. Dass erfolgreiche Unternehmer im Kleinen wie im Großen bereit sind, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Und ein wunderbares Beispiel für starkes Unternehmertum und Verantwortung ist Ihr Verein: Als Bundespräsident habe ich das Ehrenamt immer wieder gelobt, denn es ist wirklich ein Schatz unserer Gesellschaft. Aber denken wir bei Ehrenamt nicht alle mehr an Sportvereine, an Kirchengemeinden, an Umweltgruppen oder Vorlesepaten vielleicht?

Demokratie lebt doch davon, dass aktive Bürger, ob ehrenamtlich oder hauptberuflich, das Vorfindliche realistisch anschauen, sich damit aber nicht zufriedengeben. Die sagen: "Wir packen das an, wir suchen den begrenzten Fortschritt, die etwas bessere Lösung, das, was jetzt gerade möglich ist. Und wir lassen uns dabei von Rückschlägen, von Vorläufigen und Nichtperfekten nicht abschrecken." Wenn wir Perfektion als Maßstab anlegen, werden wir die Arbeit nie beginnen müssen. Denn Perfektion ist nicht zu erreichen. Und so hat es mich wirklich sehr gefreut zu lesen, dass Sie, lieber Herr Dr. Pankoke in einem Interview sagen: „Natürlich ist unser Einfluss als kleiner, regionaler begrenzter Verein eingeschränkt. Aber was wie hier tun können, wollen wir tun.“ Sie packen an. Sie gehen es an.

Das, was Sie da tun, das mag Ihnen vielleicht selbstverständlich erscheinen. Weil Sie es schon immer so gemacht haben oder weil es Ihnen logisch erscheint. Das ist es aber nicht. Es ist nicht selbstverständlich, Freizeit und Nerven zu opfern, um etwas für andere zu bewirken. Ich weiß, es liegt den Ostwestfalen nicht so, aber alle Ehrenamtlichen dürfen ruhig mit erhobenem Haupt vor ihren Mitbürgern stehen. Denn Sie sind nicht nur Unternehmer und übernehmen hierbei Verantwortung, sondern engagieren sich noch dazu und helfen, jungen Menschen und Jugendlichen unser Wirtschaftssystem näher zu bringen, informieren ganz allgemein über wirtschaftliche Themen und wollen, so steht es in Ihrer Zeitungsbeilage: „angesichts des Erstarkens extremer Parteien auf der Rechten und Linken, (…) offensiv für die freiheitliche Wirtschaft eintreten“.

Mich hat man schon einmal einen „reisenden Demokratielehrer“ genannt, das Gildenhaus könnte dann vielleicht der ortsfeste Wirtschaftslehrer aus Ostwestfalen sein? Sie als engagierte Vereinsmitglieder, sie machen Ostwestfalen schöner und gehören damit zur großen Zahl derer, die unser ganzes Land schöner und liebenswerter machen – und deshalb bin ich auch gekommen, nicht „nur“ um Ihnen zu gratulieren, sondern auch um Ihnen Danke zu sagen.

Hier hat sich eine Kultur entwickelt, die für uns fast immer selbstverständlicher wird. Aber bei unseren Reisen in der Welt können wir Zonen und Regionen und ganze Erdteile sehen, wo das keineswegs selbstverständlich ist. Wir sollten diese Kultur der gewachsenen erweiterten Verantwortung hegen und pflegen und ernst nehmen. Sie sollte sich auch auswirken auf das Vertrauensverhältnis zwischen Produzenten und Konsument.

Als Land stehen wir nicht nur mit unserer Wirtschaft, sondern auch mit unserem Gesellschaftsmodell im Wettbewerb mit anderen Nationen. Wir müssen nicht sehr weit schauen, um all die verschiedenen Ausprägungen von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen auch heute zu registrieren: Oligarchie, Plutokratie. Und wenn wir heute von Globalisierung sprechen, sollten wir nicht ausblenden, dass es riesige Wirtschaftsräume gibt, die geprägt sind von staatskapitalistischer Machtausübung, verbunden mit einem durchaus frühkapitalistischen Verhältnis von Unternehmertum.

Eben darum steckt auch heute weit über Deutschland hinaus so viel Sprengkraft in der schlichten Grundeinsicht der Ordoliberalen: Erst die Begrenzung von Macht durch freien, fairen Wettbewerb ermöglicht den Vielen Wohlstand und Teilhabe.

All diese Entwicklungen zeigen deutlich: Weder die soziale Marktwirtschaft noch die Demokratie lassen sich durch Wohlstand alleine legitimieren, sondern sie sind selbst dem Wettbewerb ausgesetzt. Wer also die Freiheit schätzt, der muss sich auch für die Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft einsetzen – in Bielefeld, in Deutschland, in Europa und darüber hinaus.

In diesem Sinne wünsche ich dem Gildenhaus und seinen Vereinsmitgliedern für die nahe und ferne Zukunft weiterhin Kraft, innovative Ideen und die beständige Treue zu den Ideen und der Praxis, die dieses Land zu einem Hort von Freiheit, Recht und Wohlstand gemacht haben.