Festveranstaltung "100+1 Jahre VHS Oldenburg"
03. Juni 2021, Oldenburg
Die Volkshochschule Oldenburg (Niedersachsen) feierte am 3. Juni 2021 ihr Jubiläum "100+1 Jahre". Bundespräsident a.D. Joachim Gauck würdigte die Bedeutung der Volkshochschulen für die Erwachsenbildung, aber auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stärkung der Demokratie in Deutschland. Er betonte, dass "Bildung der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben, die Chance auf Teilhabe und die Wahrung der Demokratie in unserem Land" sei.
Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Es ist mir eine große Freude heute bei Ihnen in Oldenburg zu sein! Und zwar nicht nur digital, sondern mit einigen von Ihnen auch live hier im Oldenburgischen Staatstheater, neudeutsch also „hybrid“. Es tut gut, dass wir uns wieder mehr und mehr persönlich begegnen können.
Wir feiern heute die Volkshochschule Oldenburg und damit auch den Leitgedanken der „Bildung für alle“, für den die Volkshochschulen stehen. Auch deshalb bin ich sehr gerne zu Ihnen gekommen.
Wie so Vieles musste auch dieser Festakt aufgrund der Corona-Pandemie verschoben werden. Umso herzlicher gratuliere ich der Volkshochschule Oldenburg zum Jubiläum „100+1 Jahre“.
Was hier im Frühjahr 1920 begann, ist heute genauso wichtig wie notwendig: Damals wie heute ist Bildung der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben, die Chance auf Teilhabe und die Wahrung der Demokratie in unserem Land.
„Lebenslanges Lernen für alle“, unter diesem Motto feierten bereits im September 2019 über 420 Volkshochschulen und VHS-Außenstellen dieses lange Jubiläumsjahr „100 Jahre VHS“.
Es ist mittlerweile eine Binse, dass wir in Zeiten des Wandels leben. Aber über die Frage, was der Wandel uns konkret abverlangen wird, lässt sich noch vortrefflich diskutieren. Klar ist wohl nur, dass trotz vieler Ungewissheiten das Verharren im Altbewährten keine vernünftige Strategie sein kann. Es kann aber für Institutionen durchaus hilfreich sein, sich in Zeiten des Wandels auf die eigenen Wurzeln und den Wesenskern zu besinnen. Denn nur wer sich seiner Identität gewiss ist, kann gesellschaftliche Veränderungen selbstbewusst mitgestalten.
„Die VHS“ ist die bekannteste Einrichtung für Erwachsenenbildung in Deutschland und bietet Bildung für alle Menschen in unserem Land. Wer auf die letzten hundert Jahre zurückblickt, stellt fest, dass diese besonderen Einrichtungen untrennbar mit der Entstehung und Entwicklung unserer Demokratie verbunden sind.
Lassen Sie mich deshalb, bevor ich mich den aktuellen Herausforderungen zuwende, eine Erinnerung aufrufen an einen Mann, der für die Geschichte der Erwachsenenbildung von besonderer Bedeutung ist. Ich denke an den liberalen Gewerkschaftsführer und Pionier der Volkshochschulen: Max Hirsch.
Es war dieser liberale Gewerkschaftsführer und Pionier der Volkshochschulen, der mit der Gründung der Humboldt-Akademie bereits 1878 in Berlin „höhere, wissenschaftliche Bildung“ verbreiten wollte, und zwar in „allen Volkskreisen“. Als auf Basis dieser liberalen und sozialen Ideale die Republik gegründet wurde, galten die Forderungen von Max Hirsch nach einer „Bildung für alle“ bereits als notwendige Voraussetzung dafür, dass die Demokratie mit Leben gefüllt werden kann. Volkshochschulen waren das Versprechen an alle Bürger, dass durch Bildung gesellschaftliche Beteiligung, Mitverantwortung und Mitgestaltung möglich sind. Offen für alle, vielfältig und bürgerschaftlich engagiert – das waren die Prinzipien der Erwachsenenbildung, für die Max Hirsch ein Leben lang stand.
Als Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels gilt die Volkshochschulbewegung, die nach dem 1. Weltkrieg und nach der Novemberrevolution durch ganz Deutschland ging. 1919 wurden die ersten Volkshochschulen in Deutschland gegründet. Und seitdem haben die Volkshochschulen die deutsche Gesellschaft maßgeblich mitgeprägt.
Bildungsverständnis und Lehrmethodik wurden revolutioniert: Die Bildung muss in die Mitte der Gesellschaft und darf nicht, wie bisher, nur einem kleinen Teil der Bevölkerung vorbehalten sein. Schon damals leitete die Erkenntnis: Bildung in der Breite der Bevölkerung ist essentiell für die Resilienz von Freiheit und für Demokratie. Mündige Bürgerinnen und Bürger sind das Ziel. Und dieses Ziel gilt bis heute.
Es sagt eine Menge aus, dass die Ideen, die zur Gründung der Volkshochschulen führten, die Zeit des Nationalsozialismus überdauert haben. War die VHS doch ausdrücklich mit dem Ziel "Bildung als Stärkung der Demokratie" gegründet worden, so widersprach der Ansatz der Nationalsozialisten diesem Ziel in jeder Hinsicht. Denn ihnen ging es um Propaganda, nicht um Wissen und Aufklärung.
Auch Pädagogen widersetzen sich dem NS-System. Adolf Reichwein zum Beispiel, Direktor der Volkshochschule in Jena und später Professor der pädagogischen Hochschule in Halle an der Saale. Er engagierte sich im Widerstand gegen das Hitlerregime (Kreisauer Kreis) und wurde am 4. Juli 1944 von der Gestapo verhaftet und schließlich im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee erhängt.
Nach der nationalsozialistischen Diktatur ging es für die Volkshochschulen vor allem darum, westliche und universelle Werte zu vermitteln und die Idee eines vereinten Europas zu verbreiten. Und auch nach der Friedlichen Revolution im Osten Deutschlands waren es Volkshochschulen, an denen Demokratie gelernt wurde.
Heute und in absehbarer Zeit müssen die Volkshochschulen keinen politischen Umbruch, keine Demokratisierung wesentlicher Bevölkerungsteile mehr gestalten. Gleichwohl stehen sie nun schon seit einigen Jahren vor der Herausforderung, ganz unterschiedliche Formen des gesellschaftlichen Wandels frühzeitig zu erkennen und konstruktiv zu begleiten.
An Volkshochschulen können Bürgerinnen und Bürger ihr Recht auf Bildung einlösen. Damit kommt unsere Gesellschaft ihrem Anspruch auf Chancengerechtigkeit einen Schritt näher. Volkshochschulen sind gesellschaftlich engagiert. Sie haben mit breit gefächerten Lernprogrammen nicht nur Aufstiegsmöglichkeiten für den Einzelnen im Blick, sondern vermitteln auch soziales und politisches Verantwortungsbewusstsein. Sie sind fest verankert in ihrer Stadt – wie hier in Oldenburg – in ihrer Gemeinde oder ihrem Landkreis. Sie stiften Begegnungen zwischen Bürgern und stärken das gesellschaftliche Miteinander.
Die Integration von Menschen aus anderen Kulturen wird die Volkshochschulen noch viele Jahre beschäftigen, denn diese Aufgabe geht über den Spracherwerb, die Vermittlung unseres Rechtssystems und grundlegender Werte und Prinzipien hinaus. Ein niederschwelliges Angebot für Menschen mit Migrationshintergrund und die Möglichkeit zur Begegnung zwischen alten und neuen Bürgerinnen und Bürgern werden auch in Zukunft Zusammenhalt stiften.
Lassen Sie mich etwas konkreter auf eine zentrale Herausforderung eingehen, die uns auch gesamtgesellschaftlich immer mehr beschäftigt: Die Digitale Revolution erfasst alle Bereiche unseres Lebens. Wir diskutieren über die Chancen und Herausforderungen zum Glück nicht mehr nur unter Fachleuten, sondern in der ganzen Gesellschaft. Nur so kann es gelingen, die Vorteile zu nutzen, und zwar für alle. Und nur so kann es gelingen, auch die Nachteile zu erkennen, die mit einer schrankenlosen Kommunikation verbunden sind, die oft in Anonymität abläuft.
Die Pandemie hat das Ausmaß der Defizite der Digitalisierung eindrücklich deutlich gemacht. Deshalb ist es gut und richtig, dass Sie Ihre Angebote erweitern, um Menschen eine Chance zu bieten, mit den neuen Entwicklungen Schritt zu halten. Es ist wichtig, dass Sie Medienkompetenz vermitteln. Denn wir alle müssen lernen, im Strom der digitalen Informationen den Überblick zu behalten und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Wir müssen es schaffen, zu mündigen Nutzern der digitalen Welt zu werden. Dies ist und bleibt ein Mega-Thema der Weiterbildung.
Die Digitalisierung ist aber nicht nur ein Gegenstand der Weiterbildung, sondern sie bringt auch etwas anderes hervor, nämlich neue Formen des Lernens. Zahlreiche digitale Lernangebote sind entstanden, die den Unterricht vor Ort teilweise ergänzen, teilweise sogar ersetzen. Vieles ist da noch in der Erprobungsphase, anderes wird schon erfolgreich genutzt. Neue Anbieter haben die Bildungsbranche belebt, Wettbewerb hat Prozesse der Erneuerung in Gang gesetzt.
Der Einsatz von digitalen Geräten verändert die Rollen der Lehrenden wie Lernenden. Das erfordert auch ein Umdenken von allen Beteiligten. Digitale Angebote erleichtern das lebenslange Lernen, weil sie sich gut in den Alltag einfügen lassen. Berufstätige können, wenn sie denn wollen, auf dem Weg zur Arbeit lernen, oder nach Feierabend, wenn die Kinder im Bett sind. Mit ihnen lassen sich aber auch Menschen erreichen und zum Lernen motivieren, die das klassische Kursangebot bislang nicht nutzen konnten oder wollten. Menschen, die etwa auf dem Lande wohnen und keine Bildungseinrichtung in ihrer Nähe haben, können dank digitaler Medien auf Lernangebote zugreifen. Und für viele junge Leute ist lebensbegleitendes Lernen ohnehin nur noch mit Tablet oder Smartphone überhaupt vorstellbar. Das Ziel der Anstrengungen ist klar: Möglichst viele Menschen sollen profitieren, auch solche, denen das Lernen schwerfällt oder die aus bildungsfernen Milieus stammen.
Eng verbunden mit dem digitalen Wandel ist die schleichende Veränderung unseres demokratischen Miteinanders, der die Volkshochschulen wieder ganz neu als Lernorte der Demokratie herausfordert. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat herausgearbeitet, dass unsere Gesellschaft eine Tendenz zur Individualisierung entwickelt hat. Wir feiern das Singuläre. Diversität und Pluralismus prägen unseren öffentlichen Diskurs, aber auch Vereinzelung und die Abgrenzung zwischen verschiedenen Gruppen. Gerade deshalb bin ich der Auffassung: Wir brauchen auch das Verbindende, einen demokratischen Grundkonsens, der – wie ich es gern nenne – eine Bezogenheit ermöglicht, die über das Individuum hinausgeht. Diese gesellschaftliche Bindekraft entsteht auch an den Volkshochschulen, wo sich Menschen begegnen, die sich sonst nicht begegnen würden. Auch an den Volkshochschulen entsteht durch das Erleben und das Erlernen von Bildung die Diskursfähigkeit, die unsere Demokratie lebendig werden lässt. Ihre Arbeit ist von hohem Wert für unser Gemeinwesen.
Besonders wenn Fakten in Frage gestellt werden, braucht es unabhängige, bürgernahe und für alle offene Institutionen, die sich dem entschlossen entgegen stellen. Aktuell sehen wir, dass Wissenschaftsleugnung und -skepsis gesellschaftlichen Aufwind verzeichnen. Unerwartet stehen die Volkshochschulen so wieder vor der Aufgabe, die Max Hirsch 1878 formulierte: „Die wahrhaft wissenschaftliche Bildung in allen Volkskreisen zu verbreiten“. Das ist ein unschätzbarer Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt!
Unter der Überschrift „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wird auch in Volkshochschulen die Bekämpfung des Klimawandels thematisiert, ein weiteres Mega-Thema unserer Zeit. Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat es noch einmal deutlich gemacht: Wir brauchen das Bewusstsein, dass unser Handeln Auswirkungen auch für künftige Generationen hat, um Veränderungen anzustoßen und drängende globale Probleme anzugehen. Neben den ökologischen und ökonomischen Herausforderungen sind soziale Aspekte, wie Chancengerechtigkeit oder die Frage nach Lebensqualität, von entscheidender Bedeutung. Wie die Digitalisierung wird der Klimawandel uns auf absehbare Zeit politisch und gesellschaftlich fordern. Umso wichtiger ist es, dass wir ein gemeinsames Verständnis der Herausforderungen erlangen.
Neues dazu zu lernen – das wird in unserer sich immer schneller entwickelnden Wissensgesellschaft immer wichtiger. Wer am Ball bleiben will, kommt heute ohne Fort- und Weiterbildung nicht mehr aus. Aber die VHS bietet auch zweite Chancen, um verpasste Bildungsabschlüsse nachzuholen.
In Deutschland gibt es etwa 900 Volkshochschulen. Um die Angebote zu ermöglichen arbeiten Pädagogen, Verwaltungsmitarbeiter und Honorarkräfte sowie knapp 190.000 freie Mitarbeiter als Kursleiter und Dozenten. Finanziert werden die VHS aus den Teilnahmegebühren, öffentlichen Zuschüssen von Kommunen und Ländern und durch Einnahmen aus Drittmitteln. An dieser Stelle gilt es festzuhalten: Bildung ist nicht zum Nulltarif zu haben. Gerade die Corona-Pandemie hat uns daran erinnert, wie kostbar funktionierende Bildungseinrichtungen sind - und dazu zählen eben auch die Volkshochschulen.
Die kommunale Trägerschaft ist eigentlich die Regel. Die VHS Oldenburg zeichnet eine Besonderheit aus: Denn der Träger ist bislang ein privater Verein. Um die Weichen für die Zukunft zu stellen, streben Sie eine stärkere formelle Einbindung der Kommune an. Und dafür wünsche ich allen Kooperationspartnern viel Erfolg!
Denn mit Ihren 120 festen Mitarbeitern und 740 Honorarkräften leisten Sie einen wichtigen Beitrag zur Bildungslandschaft in und um Oldenburg. Durch das Setzen von aktuellen Schwerpunktthemen – wie etwa zur Frage „Was bedeutet Heimat?“ oder aktuell zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen – zeigen Sie, dass Sie das Ohr am Puls der Zeit haben.
Volkshochschulen zeigen, wie viele Gesichter lebenslanges Lernen heute hat. Und sie zeigen, dass es nicht auf den sogenannten „lückenlosen Lebenslauf" ankommt, sondern darauf, was jemand im Laufe des Lebens dazulernt, auch auf Umwegen, auch in Phasen der Selbstvergewisserung: Weil sie überall vor Ort präsent sind, weil sie kommunal verankert sind und sich gerne in die Pflicht nehmen lassen, wenn es darum geht, das Gemeinwesen zu stärken, weil sie sich als offen für alle verstehen und dafür sorgen, dass sich Menschen mit Respekt begegnen.
Auf den Wandel haben Sie hier in Oldenburg und die Volkshochschulen insgesamt nicht mit Erstarrung reagiert. Es lohnt sich, die Volkshochschulen unter diesem Gesichtspunkt neu zu entdecken. Denn unsere Bürgergesellschaft braucht solche Institutionen, jetzt und in Zukunft. Ich möchte Sie deshalb ermutigen: Haben Sie auch künftig Ihr Ohr am Puls der Zeit, probieren Sie Neues aus und stellen Sie sich auch schwierigen Debatten. Und bleiben Sie dabei, wie Sie waren und wie Sie sind: offen für alle, vielfältig und bürgerschaftlich engagiert.
Ein Videomitschnitt der gesamten Veranstaltung ist über Youtube abrufbar: