Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Interview mit der ZEIT

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Guido Bergmann

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

Interview mit DIE ZEIT

09. Dezember 2021

DIE ZEIT: Herr Bundespräsident, Sie sagten vergangene Woche in der TV-Sendung Maischberger , das Land habe die Wahl zwischen zwei Spaltungen: der nach Geimpften und Ungeimpften – und der Spaltung, die eine Impfpflicht verursachen würde. In der Abwägung wäre Ihnen Letzteres lieber. Wie kommen Sie zu diesem Ergebnis?

Joachim Gauck: Vielleicht ist das Wort Spaltung zu hart gewählt. Gespalten ist dieses Land ja noch nicht. Eine Polarisierung der politischen Milieus wie in Polen oder in den USA gibt es bei uns glücklicherweise nicht. Aber ja: Wenn ich mich entscheiden muss, welche Spaltung ich aus politischen und moralischen Gründen vorziehe, dann ist es zweifellos jene, die für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung einen erkennbaren Nutzen bringt. Das bedeutet, dass eine angemessene Form von Impfpflicht vorzuziehen ist, wenn – wie bisher – die Appelle zum Impfen keine ausreichende Wirkung erzielen.

ZEIT: Mussten Sie mit sich ringen, um zu dieser Haltung zu finden?

Gauck: Sie wissen, dass ich mein Leben dem Thema Freiheit gewidmet habe. Es gibt aber eben verschiedene Formen von Freiheit. Es gibt die Freiheit derer, die sich gerade befreit haben von Unterdrückung – eine wunderbare, schöne Form von Freiheit! Doch darauf folgt eine andere Form der Freiheit, nämlich die, als freier Mensch in einem System mit anderen freien Menschen zusammenzuleben. Deswegen habe ich immer gesagt: Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung.

ZEIT: Auf die Pandemie bezogen ...

Gauck: ... können Sie dann schon ableiten, dass ich beim Impfen rasch an den Punkt gekommen bin, zu sagen: Wenn es nicht genügend Bereitschaft gibt, dass erwachsene Menschen freiwillig zum Impfen gehen, dann sollte man es zur allgemein gültigen Regel erklären. Ich selbst habe keinen Moment gezweifelt und mich impfen lassen. Das sagen doch Ratio und Verantwortungsgefühl. Denn Ungeimpfte gefährden nicht nur sich, sondern auch andere und belasten überproportional unser Gesundheitssystem. Die Freiheit des Individuums findet doch da eine Grenze, wo sie die Freiheit und Unversehrtheit des anderen gefährdet. Auch dem liberalen Denken ist das Prinzip der Bezogenheit aufeinander nicht fremd.

ZEIT: Trotzdem würde eine Impfpflicht polarisieren.

Gauck: Ja, das ist wahr. Nun sehen wir Deutschen in jeder Polarisierung gleich die große Gefahr. Das hängt mit unserem Harmoniebedürfnis zusammen. Das Unheil unserer Geschichte hängt tief in der Seele dieser Nation. Sie liebt den Streit nicht. Dabei ist auch der heftige Meinungsstreit, den wir jetzt haben, eigentlich normal in einer Gesellschaft der Verschiedenen. Gerade wenn die Herausforderungen so enorm sind wie in einer Pandemie.

ZEIT: Würde der Staat mit einer Impfpflicht nicht sein Versagen in der Pandemiebekämpfung kaschieren? Viele Bürger fragen sich: Wo waren flächendeckende und verlockende Impfangebote, in Supermärkten und Apotheken? Hat der Staat alles getan, um seiner Verantwortung gerecht zu werden, ehe er anfing, über eine Impfpflicht nachzudenken?

Gauck: An Impfangeboten und -appellen hat es nun wahrlich nicht gemangelt. Auch wenn es meines Erachtens zu wenig Aufklärung in anderen Sprachen und zu wenige Impfangebote in Gebieten mit hohem Anteil von Migranten gab. In dieser Krise haben wir erneut die Erfahrung gemacht, dass auch in einer offenen, liberalen Gesellschaft Führung notwendig ist. Das Wort klingt für manche nach autoritärem Gehabe. Aber die Wahrheit ist, dass die Bürger in einer freiheitlichen Demokratie Gestaltungsmacht an gewählte Instanzen abgegeben haben – ihre Regierungen. Wenn die Regierungen diese Verantwortung nicht so ausüben, dass sich die Bevölkerung hinlänglich geschützt fühlen kann, wächst der Frust. Das ist der alte Deal seit Thomas Hobbes und dessen Leviathan : Wir geben euch unsere Macht, aber ihr gebt uns Schutz, durch gute Gesetzgebung und Regierungshandeln.

ZEIT: War der Leviathan eher ein Teddybär in den vergangenen Monaten? Gab es zu wenig Schutz?

Gauck: Wir dürfen zumindest den Anspruch haben, klarer und deutlicher geführt zu werden. Die Politik darf sich nie wohlfühlen in einer Zuschauerrolle, im Sinne von: Wir sehen die Verantwortung, aber es kostet zu viel, sie wirklich zu ergreifen.

ZEIT: Wovor fürchten sich die Regierenden denn?

Gauck: Es gab bei allen Parteien der demokratischen Mitte offensichtlich eine gewisse Furcht vor dem Verlust von Stimmen bei der Bundestagswahl. Manche dachten offenbar: Wollen wir die Maßnahmen, die uns die Wissenschaft anrät, jetzt wirklich den Wählern anbieten? Ach, vielleicht geht es auch anders!

ZEIT: Die Zustimmungswerte zu restriktiven Corona-Maßnahmen waren immer hoch. Es wäre ein Leichtes gewesen, einen harten Kurs zu verfolgen.

Gauck: Zum Ende des Sommers ging die Zustimmung zu strengeren Regeln bei der Bevölkerung aber zurück. Und es gab im konservativen und liberalen Milieu die Furcht, dass zu viele Menschen zur AfD abwandern. Die Sorge mag berechtigt sein, nur glaube ich: Führungswillen, Risikobereitschaft, Mut beim Regieren würden zwar womöglich zu mehr Gegnerschaft führen, aber auch zu mehr Klarheit. Klarheit mag Streit schaffen, sie schafft aber auch Vertrauen. Wie effektiv entschiedenes Handeln sein kann und wie positiv es aufgenommen wird, sehen wir am Beispiel von Mario Draghis Corona-Maßnahmen in Italien.

ZEIT: An klaren Aussagen zur Impfpflicht hat es nicht gemangelt. Es werde keine geben, das hatten fast alle Parteien hoch und heilig versprochen.

Gauck: Das war wohl mehr Hoffnung als Klarheit. Oder sagen wir, es war eine Wahlkampf-Klarheit.

ZEIT: Das sind harte Worte.

Gauck: Ich sehe, dass es für mich leicht ist, so zu sprechen, ich stand ja nicht im Wahlkampf. Aber mitunter glauben Politiker, dass erfolgreiche Politik diejenige sei, die die aktuellen Mehrheiten in den Meinungsumfragen abbildet. Letztlich macht es sich nicht bezahlt, wenn Politiker aus Furcht vor der öffentlichen Meinung zurückweichen. Die politischen Strategen müssen sich vielleicht wieder stärker überlegen, wie sie auch für unpopuläre Themen werben. Damit kann man durchaus auch mal scheitern. Aber Glaubwürdigkeit gewinnen durch die Kraft des Arguments.

ZEIT: Wenn man Ihnen zuhört, könnte man auf die Idee kommen, die Corona-Toten, die das Land zu beklagen hat, sind auch die Opfer eines zu lockeren, vielleicht sogar antiautoritären Regierungsstils.

Gauck: Antiautoritär trifft es nicht. Aber insgesamt leben wir in einer Phase des nicht hinlänglich entschlossenen Regierens. Das Vertrauen hat gelitten. Deshalb kann man sich nur wünschen, dass die neue Regierung einen Führungsstil entwickelt, der klare Vorgaben macht, natürlich nach reiflichen Abwägungen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die es braucht, um Entscheidungen zu fällen, sind ja da.

ZEIT: Wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzen keine politische Abwägung. Der Virologe ist für Schulschließungen, der Jugendpsychologe dagegen. Es gibt nicht die eine definitiv richtige politische Maßnahme.

Gauck: Deswegen irren Politiker immer wieder, und sie dürfen irren. Aber man kann diese Irrtümer minimieren und wenigstens weniger Fehler machen als zuvor. Politik hat schließlich auch immer die Aufgabe, Dilemmata zu verwalten.

ZEIT: Finden Sie nicht, dass Politiker auch Rücksicht nehmen sollten auf jene Menschen, die skeptisch sind?

Gauck: Doch, natürlich. Nicht jeder Protest von Impfgegnern ist in gleicher Weise abwegig. Eine Irrationalität aus esoterisch-naturphilosophischen Gründen ist anders zu beantworten als eine verschwörungstheoretische oder menschenfeindliche Irrationalität. Mit den einen ist möglichst lange zu diskutieren, die anderen sind zu blockieren oder auch zu sanktionieren. Und wenn Menschen aus dem liberalen Milieu Angst vor Übermut und Übermacht der Herrschenden entwickeln, kann ich nur zurückfragen: Hatte jemals eine deutsche Regierung der vergangenen Jahrzehnte einen Hang zum Autoritarismus? Gab es irgendeinen Kanzler, der versucht hätte, diese Republik in Richtung einer illiberalen Demokratie zu führen? Null!

ZEIT: Im September sagten Sie, dass wir in einem Land leben, in dem es nicht nur Bildungswillige gebe, sondern auch eine gewisse Zahl von »Bekloppten«. Sie bezogen das auf Corona-Leugner.

Gauck: Das war ein Missgriff im Ton, zudem in begrenztem Kreis auf einer Tagung von Lehrern gesprochen. Das war mein Unmut über diejenigen, die sich unsolidarisch zeigen. Auf die Wortwahl bin ich nicht stolz. Ich merkte aber bei mir selbst, dass Erregung uns manchmal zu einer Sprache verleitet, die bedenklich ist. Und noch einmal: Ich bin jederzeit bereit, mit denen zu diskutieren, die keine Nazis und Verschwörungstheoretiker sind.

ZEIT: Impfgegner gibt es im Osten besonders zahlreich. Hier sind die Impfquoten extrem niedrig, obwohl es in der DDR die Impfpflicht und eine regelrechte Impf-Normalität gab. Wie erklären Sie das?

Gauck: Das ist ja das Eigenartige: Die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, war und ist im Osten stärker als im Westen. Doch bei Corona meldet sich der Widerspruch. Hier verbindet der Teil der Ostdeutschen, der mit dieser freiheitlichen Gesellschaft fremdelt, offensichtlich seinen Frust über das System mit dem Sachthema Impfen. Das ist allerdings keine Frage charakterlicher Mängel.

ZEIT: Sondern?

Gauck: Eine tragische Folge von jahrzehntelanger politischer Ohnmacht. Viele, die in der DDR aufgewachsen sind, konnten nicht das trainieren, was man in einer Zivilgesellschaft trainieren kann: die Verantwortung für sich selbst, das freie Denken, das freie Sprechen. Ein Konsument zu sein, muss man nicht lernen, ein Citoyen zu sein, schon. Das Schöne daran, Verantwortung für andere wahrzunehmen, ist wiederum, dass diese Lebenshaltung Gefühle von Bestätigung und Glück auslöst, die man sonst nicht erleben kann. Gefühle der Ermächtigung auch, die etwa Michael Kretschmer und Manuela Schwesig wie Angela Merkel und auch mich in unsere Positionen gebracht hat. Auch das ist ostdeutsche Lebenswirklichkeit, im Guten. Andererseits gibt es diejenigen, die jetzt so empörend vor dem Haus von Petra Köpping aufmarschiert sind ...

ZEIT: ... der sächsischen Gesundheitsministerin.

Gauck: Das sind hasserfüllte Demokratiegegner, zum Teil begleitet von Menschen, die zornig sind auf die Moderne, weil es ein System ist, das sie überfordert. Sie fürchten jeden Wandel, jedes Risiko und richten die aus Angst geborene Wut pauschal gegen »die da oben«.

ZEIT: »Was ist los mit unserem Land? Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.« Wissen Sie, wer das gesagt hat?

Gauck: Das klingt nach Roman Herzog.

ZEIT: Es ist ein Zitat aus seiner »Ruck«-Rede. Die hat er als Bundespräsident 1997 gehalten.

Gauck: (lacht) Hätte auch von mir sein können. Fast alle Bundespräsidenten werden so reden!

ZEIT: Warum verhallt es?

Gauck: Weil wir nicht mehr ausreichend wagen. Die Tugend des Mutes ist unterbewertet, weil es uns seit Generationen sehr gut geht. Wir leben seit vielen Generationen ohne Krieg, ohne Not und mit beständig wachsendem Wohlstand. Menschheitsgeschichtlich ist das unnormal. Man kann so tun, also wäre dieser Zustand durch Stillhalten zu sichern. Aber wenn wir beispielsweise die Wirtschaft betrachten, spüren wir, dass dies eine Haltung ist, die innovationsfeindlich ist.

ZEIT: Die Anzahl der in Deutschland angemeldeten Patente geht seit Jahrzehnten zurück.

Gauck: Das ist ein Zeichen. Da zeigt sich diese Scheu vor Wagemut. Warum? Diese Nation ist zweimal sehr geprägt worden durch Übermut, unter Wilhelm Zwo und unter Adolf Hitler.

ZEIT: Und jetzt leidet sie unter Untermut?

Gauck: Dieses Land hat ein Defizit, weil es nicht zu glauben vermag, was es schon geschaffen hat: Diese großartige Rechtsstaatlichkeit, das Gros einer rechtstreuen Bevölkerung, der wirtschaftliche Erfolg bei gleichzeitigem Funktionieren eines Sozialstaats, eine wache Zivilgesellschaft. All dieses Gelungene müsste uns dazu führen, Verantwortung weiter zu bejahen und sie auch in neuen Situationen zu wagen. Die Leitkultur der Zurückhaltung war eine Zeit lang gut und richtig. Aber wenn du ihr nicht irgendwann entwächst, verpasst du dein Erwachsenwerden.

ZEIT: Zeigt die Corona-Krise, dass wir in Deutschland schlechter organisiert sind, als wir glauben?

Gauck: Erschreckend, ja. Wir haben eigentlich eine doch weitestgehend korruptionsfreie öffentliche Verwaltung, man muss in der Welt weit gehen, um so etwas zu finden. Und zugleich gibt es auch in der Bürokratie die Neigung, zu sagen: Verantwortung ist gefährlich. Anderswo impfen schon die Apotheker, hier grübeln wir: Oh, ob die Apotheker das denn wirklich können? Oder dürfen?

ZEIT: Viele Menschen sind erschöpft von der Pandemie. Fühlen Sie sich ganz persönlich belastet?

Gauck: Ich habe das unverdiente Glück, mich erst relativ spät zu ängstigen. So konnte ich den Ernst der Lage jederzeit realistisch einschätzen, ohne dass mich Ängste gejagt hätten. Hinzu kommt, dass meine jetzige Lebenssituation mir keine zusätzlichen Bürden auferlegt hat – kein Homeoffice, keine Schulkinder im Haus. Ich bewundere die vielen Menschen, die viele neue Herausforderungen durchstehen müssen und dennoch nicht verzagen. Vielleicht macht uns diese Erfahrung ja widerstandsfähiger gegenüber Bedrohungen und Krisen, die wir möglicherweise noch zu erwarten haben.

ZEIT: Dieses Weihnachten wird ein recht düsteres werden. Den Prognosen zufolge könnte die vierte Welle um Heiligabend ihren Scheitelpunkt erreichen. Intensivstationen könnten überlastet sein. Haben Sie trotzdem die Hoffnung auf ein Weihnachtsfest mit innerer Einkehr? Werden Sie O du fröhliche singen?

Gauck: Das Letztere ist einfach zu beantworten: ja. Werde ich es unbeschwert tun? Nein. Als Christ sage ich: Das Leid ist zum Teil menschengemacht, aber es gehört zu dieser gefallenen Welt, in der Unordnung, Not, Krise, Tod und Krankheit Raum haben. Trotzdem dürfen wir leben, Dankbarkeit empfinden und verwegener hoffen. Es ist kein Grund, sich zu schämen, wenn man ein schönes Weihnachtsfest verleben möchte.

Das Gespräch führten Jochen Bittner und Martin Machowecz.