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Rede anlässlich der 11. Sacharow Konferenz

10. Dezember 2021, Kopenhagen

Änderung vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

„Die menschliche Gesellschaft braucht geistige Freiheit – die Freiheit, Informationen zu bekommen und zu verbreiten, die Freiheit unvoreingenommener und furchtloser Diskussionen, die Freiheit vom autoritären Druck und Vorurteilen. Diese dreifache Freiheit der Meinungsäußerung ist die einzige Garantie dagegen, dass die Bevölkerung von Massenmythen befallen wird, die sich in den Händen von heimtückischen Heuchlern und Demagogen leicht zu einer blutigen Diktatur wandeln können.“

Diese Gedanken formulierte Andrej Sacharow 1968 in einem Memorandum „über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ zu einer Zeit also, in der Deutschland, in der Europa noch durch einen Eisernen Vorhang getrennt und die Welt größtenteils in zwei verfeindete Blöcke aufgeteilt war.
Sacharows Appell hat nichts an Aktualität verloren und wir erkennen (wieder neu) wie wichtig es ist, für die Freiheit der Meinungsäußerung einzutreten. Er selbst ist bis heute unvergessen. Ich denke auch, weil sein eigenes Leben von einer Kraft zeugt, die aus einem wachen Gewissen erwachsen war. Er fügte sich als hochqualifizierter und vom Regime anerkannter Physiker nicht mehr dem Konformitätsdruck und trug bewusst die Konsequenzen. Nachdem er das zerstörerische Potential seiner Forschung erkannt hatte, lehnte er weitere Versuche und die Nutzen, den andere aus seinem wissenschaftlichen Wirken zogen, ebenso ab, wie den Ruhm als „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“. Er wollte nicht als „Held der Arbeit“ gefeiert werden und streifte die kommunistischen Überzeugungen ab. Er verurteilte die Niederschlagung des Prager Frühlings, warb für internationale Abrüstung, die Kontrolle von Kernwaffen und setzte sich gegen die
Verfolgung Andersdenkender in seinem Land ein. Die freie Welt ehrte den mutigen Dissidenten 1975 mit dem Friedensnobelpreis. Der Kreml hingegen schickte ihn 1980 als „Staatsfeind“ in die Verbannung nach Gorki. Als er von dort zurückkehren konnte, gründete er die Menschenrechtsorganisation „Memorial“.
Das alles liegt Jahrzehnte zurück. Inzwischen ist das sowjetische Lager zerfallen, die mittelosteuropäischen Staaten haben sich für die Demokratie entschieden und sind Teil der Europäischen Union geworden. In Russland hingegen erleben wir einen Rückfall zu Praktiken aus der Sowjetzeit. Denunziert als „ausländischer Agent“ soll mit „Memorial“ eine Institution verboten werden, die sich große Verdienst bei der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen erworben hat, eine Organisation, die Millionen Opfern der Sowjetdiktatur ihre Würde zurückgibt und deren Angehörigen ein ehrendes Gedenken ermöglicht.
Mundtot gemacht werden soll auch der russische Oppositionelle Andrej Nawalny, dem das Europäische Parlament in diesem Jahr den Sacharowpreis für seinen Mut im Kampf für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte verleiht. Wie einst Sacharow in Oslo kann nun
Nawalny nicht persönlich in Straßburg anwesend sein. Das Regime, das ihn erst feige ermorden wollte, hat ihn in einem Straflager weggesperrt, wo er eine willkürlich verhängte Strafe verbüßen muss.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
heute nun ehren wir Andrej Sacharow, indem wir unvoreingenommen und frei von autoritärem Druck über die Notwendigkeit der freien Meinungsäußerung und die Gefahr autoritären Herrschaftsstreben diskutieren. Aber zunächst möchte ich noch zum Ausdruck bringen, dass es mir eine große Freude ist, heute bei Ihnen zu sein und zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich bin Ihnen, Frau Yankelevich, sehr dankbar, dass Sie diese Einladung an mich ausgesprochen haben. Dankbar bin ich auch dem New Democracy Fund unter Ihrer Leitung, Frau Mordhorst, dafür, dass Sie
diesem Kongress in Kooperation mit dem Andrei Sakharov Research Center for Democratic Development ein so prominentes Forum bieten. Und schließlich möchte ich Ihnen, Herr Minister Kofod, danken und Ihnen meine Unterstützung für die beispielgebenden Idee zusichern: Ja, wir brauchen - gestützt auf die breiten Schultern von ganz unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen - den Austausch mit den östlichen Nachbarn Europas. Wir müssen den Kontakt intensivieren und die
demokratischen Entwicklungen in diesen Ländern stärken.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich war acht Jahre alt, als vor 73 Jahren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Und ich war 11 Jahre alt, als ich in der DDR staatliche Repression erlebte. Mein Vater wurde 1951 ohne jeden Grund von der sowjetischen Geheimpolizei entführt und zusammen mit anderen Unschuldigen in einem Geheimverfahren zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Ich erfuhr, was es bedeutet, wenn ein geliebter Mensch aus der Familie verschwindet und – nach Jahren der
Ungewissheit – dann schließlich zurückkehrt, schwer gezeichnet an Körper und Seele. Dabei hatte meine Familie noch Glück. Denn Abertausende in ganz Mittelosteuropa haben das kommunistische Unrechtssystem nicht überlebt. Wer eine solche Ohnmacht jemals gespürt hat, der möchte sie nie wieder zulassen und nirgendwo sehen, nicht in der eigenen Familie und nirgendwo sonst. Der erfolgreichste Anwalt für die Menschenrechte ist in uns – es ist ein tiefes inneres Wissen um die Würde und die Rechte eines jeden Menschen. Doch offensichtlich bedarf es manchmal erst grausamster Verfehlungen, um diesem Wissen politisch Gültigkeit zu verschaffen. Die Idee der Menschenrechte ist jahrhundertealt und seit über 200 Jahren in
den amerikanischen und französischen Verfassungstexten verankert. Aber erst der große Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs mit Massenmord und Holocaust führte 1948 jene internationale Allianz zusammen, die sich auf einen gemeinsamen Katalog der Menschenrechte verständigen konnte.
Der Schweizer Jurist und Menschenrechtsaktivist Walter Kälin hat die Deklaration einst als „Kopernikanische Wende im Völkerrecht“ bezeichnet. Ich glaube, dass diese Bezeichnung uns auch heute bewusst machen kann, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Ausdruck eines veränderten Weltbildes in der Moderne ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte die Weltgemeinschaft eine neue geistig-politische, aber auch
moralische Grundlage. Es war unabdingbar geworden, das Individuum und seine unveräußerlichen Rechte zu schützen – unabhängig von seiner Ethnie, Religion, Hautfarbe oder seinem Geschlecht.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war zwar zunächst „nur“ eine
Absichtserklärung, kein bindendes Gesetz, jedoch war sie eines der größten Versprechen, das seit Menschengedenken formuliert worden ist. Und es dauerte nicht lange, bis sie in vielen Staaten in nationales Recht überging. Gleichheit und Freiheit, bürgerliche, politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte: Für so vieles von dem, was wir heute in großer Differenzierung vorfinden, wurde 1948 das Fundament geschaffen. Die
Geschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist für mich deshalb auch eine Geschichte der politischen Willenskraft des Menschen.
Wir haben es in Mittel- und Osteuropa im vergangenen Jahrhundert immer wieder erlebt: Es waren die Menschenrechte und nach 1975 die Schlussakte von Helsinki, auf die sich die Mutigen berufen konnten, wenn sie sich gegen ihre Unterdrücker, gegen Gewalt und Willkür wehrten. Aber wenn wir auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken und eine Bestandsaufnahme über
die Entwicklung und Verbreitung der Menschenrechte wagen, dann muss die Bilanz ernüchternd ausfallen. In zahlreichen Staaten auf nahezu allen Kontinenten wurden und werden die Menschenrechte ignoriert, relativiert und den Interessen der Machthaber, Clanchefs, Warlords oder Parteiführer untergeordnet. Aus vielen Teilen der Welt wird berichtet, wie Menschen aus dem Land getrieben werden, weil sie der vermeintlich „falschen“ Ethnie, Religion oder Partei angehören, oder weil sie wegen ihrer politischen
Einstellung, ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden und auf ihre Meinungsfreiheit nicht verzichten wollen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, dass es ein aktuelles, angeblich fortschrittliches Narrativ gibt, das die Universalität der Menschenrechte in Frage stellt und diese gar als "westlichen Imperialismus" diskreditiert. Aktivisten, besonders im angelsächsischen Kulturkreis, haben teilweise einen regelrechten antiwestlichen Furor entwickelt. Dabei wird gern übersehen, dass die Menschenrechtserklärung keineswegs ein rein westliches Konstrukt waren, sondern ein Kompromiss von 52 Staaten
unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägungen. Und unter den Staaten, die der Erklärung zustimmten, waren fast alle Erdteile oder "Regionalgruppen", wie die Vereinten Nationen heute sagen würden, vertreten: Ägypten, China, Kuba, Äthiopien, Frankreich, Iran, Pakistan, Syrien, Türkei, die USA und Venezuela, um nur einige zu nennen.

Wer den Universalismus der Menschenrechte verneint, der leugnet, dass die Wurzeln der Menschenrechte in den unterschiedlichsten Kulturen unserer Erde liegen. Und er ist blind dafür, dass die Unterdrückten in jedem Land der Erde die Sprache der Menschenrechte sehr gut verstehen. Überall dort sind die Menschenrechte Unzähligen Hoffnung und Sehnsucht. Hoffnung und die Sehnsucht, sich ihres machtversessenen Diktators zu entledigen, haben
wir auch bei den vielen Frauen und Männer auf den Straßen und Plätzen in Belarus im Sommer 2020 gesehen. Umso erschütterter schauen wir auf die gewaltsame Unterdrückung dieser friedlichen Demokratiebewegung und das Schicksal der mutigen Frauen: Die Führerin der belarussische Opposition und Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichonowskaja konnte noch ins litauische Exil fliehen. Ihre Mitstreiterin Maria Kalesnikowa hingegen wurde verhaftet, weil sie in Belarus bleiben wollte, und sich weigerte ins Ausland zu gehen. Seitdem sitzt sie wie mehrere hundert andere Oppositionelle im Gefängnis.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich kenne aufgrund eigener Erfahrung die Sehnsucht, die sich im Menschen einnistet, der sich den Ideen von Freiheit und Selbstbestimmung geöffnet hat. Deshalb brauchen wir die dreifache Form der Meinungsäußerung, die Andrej Sacharow einst gefordert hat. Denn wenn wir uns nicht unzensiert informieren können, wenn wir nicht furchtlos diskutieren können und wenn wir nicht frei sind von autoritärer Repression, dann verkümmern wir. Dann ist auch eine Gesellschaft der Verschiedenen, in der alle geeint sind durch gleiche Rechte, nur noch Erinnerung oder ein ferner Traum. Deshalb machen wir uns heute erneut klar: Gemeinsam und im Geist Andrej Sacharows haben wir immer wieder um das höchste Gut zu ringen: die Würde des Menschen. Und wir wissen, dass der Wandel zum Besseren möglich ist, denn wir haben schon Siege der Freiheit gesehen! Und außerdem: Überall auf der Welt werden wir Verbündete finden, denn wir alle "sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der
Brüderlichkeit begegnen". So steht es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.