Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält anlässlich des Leibniztages der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 5. Juni 2021 die Festansprache

©Judith Affolter

Joachim Gauck spricht beim Leibniztag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Festrede beim Leibniztag der BBAW

05. Juni 2021, Berlin

Änderung vorbehalten.

Es gilt das gesprochene Wort.

Es freut mich sehr, dass der Leibniztag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in diesem Jahr stattfinden und ich zu Ihnen sprechen kann. Schon der Anblick von wenigen Gästen hier im Konzertsaal ist eine Freude und ich deute ihn als hoffnungsvolle Botschaft dafür, dass nun die Begegnung von Angesicht zu Angesicht, die Teilnahme an Kulturveranstaltungen oder der Restaurantbesuch mit Freunden wieder zur Normalität wird. Wir Menschen sind schließlich soziale Wesen, die erzwungene Distanz schlug uns unweigerlich aufs Gemüt. Seit über einem Jahr verlangten uns - teils immer noch - die massiven Einschränkungen im Alltag wie in der Berufswelt Enormes ab. Ganze Branchen müssen zudem trotz staatlicher Unterstützung um ihre Existenz fürchten, die soziale Benachteiligung verschärft sich, all die Langzeitfolgen lassen sich noch nicht annähernd ermessen. Schon heute erkennen wir, dass die Pandemie die Verunsicherung und auch die Zukunftsängste, die in unserer Gesellschaft existieren, noch verstärkt.

Dies ist geradezu ablesbar geworden auf den Plakaten der Demonstrierenden in den letzten Monaten. Die immer kruderen Thesen und Verschwörungsmärchen selbst-ernannter „Querdenker“ sollten wir nicht einfach der Allgemeinheit zuschreiben.

Gleichwohl sind auch sie Ausdruck zunehmender Ängste in weiten Teilen der Gesellschaft nicht nur vor den Auswirkungen der Pandemie, sondern bei genauer Betrachtung auch vor einem umfassenden forcierten Wandel, der unsere Epoche prägt.

Ängste angesichts großer Umwälzungen kennen wir aus der Geschichte, wenn wir auf andere Fortschrittswellen schauen, die die Menschheit erfassten - denken wir etwa an die Kopernikanische Wende oder die Industrielle Revolution. Und heute sehen wir uns gleich einer ganzen Reihe von revolutionierenden Veränderungen globalen Ausmaßes gegenüber: Entgrenzung, Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Migration. Schon vor Jahren stellte der Soziologe Zygmunt Bauman fest, wir stehen "vor Herausforderungen, die in der Geschichte ohne Beispiel sind".

Die daraus erwachsene Angst lässt einen Teil der Verunsicherten populistischen Parolen gegen „das Establishment“ oder „das System“ folgen. In Polen, Ungarn, Brasilien und in Amerika unter Trump haben sich Rechtspopulisten durchgesetzt, in verschiedenen Ländern Lateinamerikas siegten in der Vergangenheit Linkspopulisten. Hier wie dort hoffen ihre Wähler auf starke Anführer, die ihnen trotz komplexer Lage beruhigende, einfache Lösungen vorschlagen. Es fehlt an Geduld, die es in einer tiefgreifenden Übergangssituation zu bewahren gilt, wenn das Alte verschwindet, das Neue aber erst allmählich geboren wird. Und es fehlt an Vertrauen, dass sich die Demokratie der mehrfachen Herausforderung gewachsen zeigen wird.

Die Strahlkraft der Demokratie hat seit 1989 teilweise stark abgenommen. Die meisten von Ihnen erinnern sich sicher an die damalige Euphorie: Die freie Welt hatte über den Totalitarismus gesiegt. Doch anders, als imaginiert, befanden wir uns mit der liberalen Demokratie keineswegs am „Ende der Geschichte“. Auch im internationalen Raum geriet die Demokratie auf die abschüssige Bahn. Erstmals in diesem Jahrhundert finden sich unter den Ländern mit mehr als einer Million Einwohnern weniger Demokratien als nichtdemokratische Regime.

Zudem zeigt die Entwicklung auf anderen Kontinenten, dass wirtschaftlicher Aufstieg und technischer Fortschritt keineswegs mehr automatisch an das – wie der Historiker Heinrich August Winkler sagt – „normative Projekt des Westens“ geknüpft sind.

Die kommunistische Führung hat China mit einer Mischung aus Autoritarismus und Kapitalismus einen bemerkenswerten Entwicklungsschub beschert. Auf geopolitischer Ebene tritt das Land Schritt für Schritt in Konkurrenz zur Supermacht Amerika. Und Europa, einst der Ausgangsort für Aufklärung und weltweite technische Erneuerungen, droht von China und anderen aufstrebenden teils semi-demokratischen, technokratischen asiatischen Ländern überholt und zu einer Mittelmacht herabgedrückt zu werden. So scheint es einigen jedenfalls.

Gehört anderen Modellen also die Zukunft? Ist die liberale Demokratie in Gefahr – quasi ein historisches Auslaufmodell? Oder gehört sie wieder einmal auf den Prüfstand, um den aktuellen Herausforderungen gestärkt begegnen zu können?

Es soll nicht zur Beschwichtigung dienen, aber erwähnen möchte ich es hier trotzdem: Über die Krise der Demokratie haben Politiker, Journalisten und Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten gesprochen. Aber was macht eine Krise aus und hatten sie alle dasselbe im Sinn gehabt? Wer heute - wie die Masse der Bevölkerung - unter Demokratie ein System versteht, das soziale und wirtschaftliche Gleichheit gewährleisten soll, wird bei ansteigender Arbeitslosigkeit, bei Finanz- und Wirtschaftskrisen oder sinkenden Zukunftschancen Alarm schlagen. Wer in ihr vor allem das institutionelle Gefüge des Rechtsstaats sieht, wird von Krise sprechen, wenn sich Korruption ausbreitet, die Unabhängigkeit der Gerichte in Gefahr gerät oder wenn sich bedrohliche Schattenwelten von organisierter Kriminalität bilden.

Das Reden über die Krisen der Demokratie dürfte insofern selbst ein konstitutives Element der Demokratie sein, fast so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal. Denn kein anderes System stellt sich in gleicher Weise systematisch und permanent in Frage. Das ist eine große Stärke für die Demokratie, aber wir müssen diesen Zustand der Unfertigkeit auch aushalten.

Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, dass die Fragilität des demokratischen Systems den meisten Zeitgenossen lange Zeit gar nicht wirklich bewusst gewesen ist.

Unser Land hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine beispiellose Erfolgsgeschichte erlebt - Demokratiewunder, Wirtschaftswunder, Westbindung, Wiedervereinigung, europäische Integration, Sicherheit und Wohlstand – politische und wirtschaftliche Stabilität. Doch neuerdings sehen wir Empörungs- und Wutwellen eines Teils der Bevölkerung. Eine uneingeschränkte Akzeptanz unserer Demokratie gibt es nicht mehr. Zwar dominiert noch nicht Ablehnung, bei einigen Gruppen jedoch herrscht deutliche Entfremdung. Zwar haben wir im Unterschied zur Vergangenheit nicht mit Militärputschen zu rechnen, auch sind wir weit entfernt von den Zuständen in der Weimarer Republik. Aber die Unterhöhlung oder gar Zerstörung der Demokratie kann auch leise und schrittweise erfolgen.

Es mag auch daran liegen, dass traditionelle Parteien, die fast ein Jahrhundert Bestand hatten, an Unterstützung verlieren. Alte Bindungen von Abgeordneten an ihre Wählermilieus gingen verloren, weil sich die Milieus verändert haben. Noch ist unklar, ob es in Deutschland zu ähnlichen strukturellen Veränderungen der Parteienlandschaft kommt, wie etwa in Frankreich, Italien oder Spanien. Sie müssen auch nicht zwangsläufig zu einer Schwächung der liberalen Demokratie führen. Im günstigsten Fall können sie zu neuen Bindungen führen, Repräsentanzlücken schließen und damit das System festigen. Klar ist aber auch: Die Fragilität nimmt zu.

Zusätzlich wandelt sich auch das Antlitz der Demokratie. Im digitalen Zeitalter hat sie ein anderes, ein moderneres Gesicht als im Industriezeitalter. Das Internet hat die Demokratie auf eine bisher nicht bekannte Weise demokratisiert, indem es eine direkte, unmittelbare Kommunikation schuf und nun alle mitreden können. Die Diskurs-Hegemonie der politischen Klasse ist aufgebrochen, Online-Aktivisten können unter Umständen mehr Einfluss entwickeln als etablierte Politiker.

Andererseits hat das Internet die Demokratie gleichzeitig aber auch erheblich belastet, weil zivilisatorische Standards nicht beachtet wurden und Fake News, Desinformation, Intoleranz, Hass und Ressentiment alle vermittelnden Instanzen umgehen können. Ohne Internet hätten Verschwörungstheoretiker niemals so breite Bekanntheit erlangt und Gelbwesten nicht so schnell Straßen blockiert.

Ohne Internet könnten Kreml- und Peking-freundliche „Troll-Farmen“ die Welt nicht millionenfach und gezielt mit Falschmeldungen überschwemmen, weil sie sich zunutze machen, was Forscher des MIT (Massachusetts Institute of Technology) nun bestätigt haben: Unwahrheiten verbreiten sich über Social Media-Plattformen deutlich schneller und weiter als Fakten. Diese Anfälligkeit für Fehlwahrnehmungen liegt schon in der menschlichen DNA begründet. Wir Menschen erleben echte Freude - einen messbaren Dopaminschub - wenn wir Informationen verarbeiten, die unsere Überzeugungen unterstützen. Geprüfte Informationen erhalten so durch ein Reich der Fiktionen verführerische Konkurrenz. Fakten und wissenschaftliche begründete Argumente sind dann nur noch eine von mehreren Interpretationsmöglichkeiten und eine sachliche, evidenzbasierte Debatte wird systematisch untergraben. Sich dennoch mit Wissen und Fakten in öffentliche Debatten einzubringen, erfordert Kraft, Ausdauer und wohl auch Gelassenheit und nicht zuletzt Freude am wissenschaftlichen Diskurs, so wie Sie es, verehrte Frau Dr. Nguyen-Kim und Herr Prof. Drosten, immer wieder vorleben. Dafür gilt Ihnen mein Dank und meine Anerkennung und es freut mich sehr, dass dies heute mit der Verleihung der Leibniz-Medaille gewürdigt wird. Herzlichen Glückwunsch!

Wir wissen es alle: Das Internet an sich ist nicht das Problem – bietet es doch großartige Möglichkeiten, sich zugunsten der liberalen Demokratie und auch der Wissenschaft zu verbinden und zu verbünden. Die Abläufe in den sozialen Medien in der aktuellen Form begünstigen aber allzu häufig nicht einen konstruktiven Diskurs, der für die Demokratie so konstitutiv ist. Nein, ich neige nicht zu Horrorszenarien, aber wir sollten die Gefahren, die aus in einem noch weitgehend unregulierten digitalen Raum für unsere Demokratie erwachsen, nicht unterschätzen. Gleichzeitig sollten wir allerdings auch die Möglichkeiten nicht verpassen, die sich durch eine digitale Vernetzung ergeben. Und da gibt es offenkundig Gründe für gesteigerte Bemühungen der politisch Verantwortlichen. Denn Deutschland ist nicht ausreichend digital-affin und verließ sich zu lange auf altbewährte Strukturen - gerade auch in der öffentlichen Verwaltung. Hier hat die Pandemie noch einmal deutlich offen gelegt, was in den letzten Jahren verschlafen wurde. Umso entschiedener müssen die digitale Lösungen nun sinnvoll eingesetzt werden, um Verwaltungen zu entschlacken und effizienter zu machen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

was für mich noch eine Besonderheit der aktuellen Krise der liberalen Demokratie ausmacht, ist mit einer Erfahrung verbunden, die weit über die politische Ebene hinausgeht. Was mich und viele Menschen auf der ganzen Welt verstört und verunsichert hat, war die Trump-Wahl in Amerika, wo doch dort die Wiege der Demokratie zu finden ist. Amerikas checks and balances, so hörte ich immer wieder, seien stark genug, um ein autoritäres System zu verhindern. So, als verschafften sie der Demokratie eine geradezu automatische Resilienz. Aber ist eine derartige institutionelle Stabilität der Demokratie wirklich eine dauerhaft verlässliche Größe? Diese Frage und diese Beobachtungen führen uns zu dem eigentlich schon bekannten, aber gleichwohl erschreckenden Befund: Demokratien können sich auch zurück entwickeln.

Der amerikanischer Politikwissenschaftler Adam Przeworski verweist darauf, dass Demokratien über keine institutionellen Mechanismen verfügen, die sie „davor schützen, von einer rechtmäßig gewählten Regierung, die sich an die konstitutionellen Regeln hält, untergraben zu werden“. Denn die Zerstörung der Demokratie kann unbemerkt eingeleitet werden mit Maßnahmen, die noch nicht gegen die verfassungsmäßigen Regeln und gegen Gesetze verstoßen, die als einzelne nicht alarmierend wirken, und dennoch die freiheitliche Demokratie immer ein wenig mehr untergraben und den Regierenden schließlich eine unantastbare Vormachtstellung sichern.

Wie das gelingt? Zum Beispiel,

  • indem das Wahlrecht oder die Wahlbezirke so modifiziert werden, dass ein Machtwechsel durch Wahlen erschwert oder gar verunmöglicht wird.
  • Oder indem sich Regierungen oder regierungsnahe Unternehmen nahezu dominierenden Einfluss in der Medienwelt verschaffen.
  • Oder indem Gremien und sogar oberste Gerichte mit den Anhängern der Regierungspartei besetzt werden.

Verfügt die Regierungspartei dann erst einmal über die parlamentarische Mehrheit, weil sie das Wahlvolk beispielsweise mit finanziellen Vergünstigungen lockt oder durch Feindbilder eint, kann sie ganz legal und offen diskriminierende Gesetze durchsetzen, wie es etwa in Ungarn geschieht. Und auch in Polen beobachten wir, wie sich der Illiberalismus Schritt um Schritt ausbreitet. Folgt manche europäische Demokratie gar der Türkei oder auch Russland und endet als Autokratie mit einem vermeintlich starken Führer?

Das Problem einer derartigen schrittweisen Aushöhlung der Demokratie besteht genau darin, dass es so schwerfällt, den Wandel klar zu erkennen und die Menschen dagegen zu mobilisieren. Die einzelnen Anlässe erscheinen zu klein, gravierende oder gar systemverändernde Folgen oft nicht vorstellbar. Nur wenn es der Opposition gelingt, die langfristigen Folgen bestimmter Schritte vorauszusehen und dies der Öffentlichkeit überzeugend zu vermitteln, besteht die Chance für einen erfolgreichen Widerstand. Kommt er zu spät, verabschiedet sich zuerst der Liberalismus und am Ende kann die Demokratie sterben.

Aber was folgt daraus? Nur wer sensibel für die Gefahren ist, kann sich diesen frühzeitig und kraftvoll entgegenstellen. Es gilt, den liberalen Geist dieser unserer Demokratie zu verteidigen, wo immer er bedroht wird. Es gilt, die Grundrechte des Bürgers zu sichern, wie sie in unserer Verfassung niedergelegt sind: die Freiheit des Einzelnen, dem ein größtmöglicher Raum zugestanden wird, um sich zu verwirklichen. Denn das macht den Kern der liberalen Demokratie aus: Sie ist eine politische Ordnung, die das Individuum vor äußeren Eingriffen und vor Gewalt, auch vor möglicher Gewalt von Seiten des Staates schützt. Nach den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ist diese unauslöschliche Verknüpfung von Liberalismus und Demokratie, prägend geworden.

Es gibt gerade in unserem Land aus historischen Gründen ein verbreitetes Misstrauen gegenüber Regierungen, die sich für Situationen des Notstands außergewöhnliche Befugnisse zusichern wollen – und teilweise sicher auch müssen, um Gefahren effektiv begegnen zu können.

Denn auch in demokratischen Staaten gibt es immer wieder Situationen, in denen die Sicherheit einer Gesellschaft so bedroht ist, dass ein Eingreifen des Staates erforderlich ist. Dann kann es legitim sein, die Freiheitsrechte eins Individuums partiell einzuschränken, um etwa sein konkurrierendes Grundrecht „auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ zu schützen.

Für alle wachsamen Verfechter der liberalen Demokratie gilt es in solchen Situationen zu prüfen: Sind die Notstandsmaßnahmen der jeweiligen Lage angemessen oder sind sie eine unverhältnismäßige Einschränkung persönlicher Freiheiten? Sind sie zeitlich begrenzt? Behalten die Volksvertretungen ihre Befugnisse? Bahnt sich eine Politik an, die etwa die Pandemie nur zum Anlass nimmt, eine Verschiebung politischer Macht durchzusetzen? In Deutschland bestand diese Gefahr zu keinem Zeitpunkt, aber sogar bei manchen EU-Partner müssten die Antwort schon differenzierter ausfallen.

Diese Fragen und die Dilemmata der konkurrierenden Grundrechte, das Abwägen von Freiheitsrechten gegen Sicherheit sind nicht neu – vergleichbare Diskussionen gab es etwa beim Kampf gegen den Terrorismus. Dass wir heute und zukünftig viel kontroverser und teils auch heftiger diskutieren, liegt auch daran, dass die Auswirkungen für Jede und Jeden viel konkreter sind. Doch wenn es auch manchmal schwerfällt: Politischer Streit ist unabdingbar, mögen auch große Teile der Bevölkerung ihn für überflüssig halten, er bleibt – belastend oder nicht – ein Wesensmerkmal der liberalen Demokratie.

Sehr geehrte Damen und Herren,

für mich und ganz besonders für alle, die politische Ohnmacht erlebt haben, bleibt Liberalismus zentral mit der Sicherung von Freiheitsrechten verbunden. Das macht seinen Geist aus, der seit der amerikanischen Verfassung aus der Demokratie mehr macht als Wahlen, Gewaltenteilung und Rechtsstaat. Anfangs eilten die freiheitlichen, humanistischen Ideen der Realität zwar voraus, nicht alle Menschen waren gleichberechtigt, wahlberechtigt, gleich geachtet. Inzwischen stehen die Menschen- und Bürgerrechte einem jeden Menschen jedoch ungeachtet seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Religion oder Klassenzugehörigkeit zu.

Wer diese Rechte missachtet, kann in Demokratien juristisch belangt werden, und was nicht justiziabel ist, trifft in unserem Land auf deutliche Kritik.

Dieser Liberalismus ist meines Erachtens weitgehend eingegangen in die politische DNA unseres Staates. Toleranz, Respekt, die Fähigkeit zum Kompromiss und die Achtung der Rechte von Minderheiten bilden einen grundlegenden „programmatischen Bestand“ der Demokratie. Die liberale Idee zeigt sich auch in der sozialen Marktwirtschaft, in der der Markt sozial eingehegt wird und keineswegs alles entscheidet, und in den internationalen Beziehungen, wo das Recht des Stärkeren nicht die Beziehungen zum Schwächeren dominieren soll. Sie durchwebt die Werte und Haltungen aller Parteien und Bewegungen, die sich die Verteidigung von Freiheit gegen staatliche Willkür oder auch gegen eine – wie John Stuart Mill sie nannte – „Tyrannei der Mehrheit“ verschrieben haben.

Eine ganz zentrale Rolle für die liberale Demokratie spielt dabei der Pluralismus. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel beschrieb in den 1950er Jahren die modernen westlichen Gesellschaften: nicht homogen, sondern heterogen. In ihnen existieren verschiedene, miteinander konkurrierende Gruppen, angefangen von Gewerkschaften, Vereinen und Parteien bis zu – würden wir heute sagen - Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen, ethnischen, sexuellen, religiösen Interessengruppen. Pluralismus, wie er hier als Grundlage einer liberalen Demokratie gesehen wird, ist gezeichnet von Diskurs und auch von Streit. Dem Staat kommt dabei die Aufgabe zu – ich zitiere Fraenkel – „im Rahmen der bestehenden differenzierten Gesellschaft zwischen den organisierten Gruppeninteressen einen Ausgleich zustande zu bringen, der zur Begründung eines reflektierten consensus zu führen geeignet ist.“

In der Spätmoderne feiern wir das Singuläre, das Individuelle, wie der Soziologe Andreas Reckwitz herausgearbeitet hat. Doch nachdem Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft geworden ist und auch multiethnische und multikulturelle Gruppen sichtbarer in unserem Alltag mitbestimmen, brauchen wir für die Gestaltung der Demokratie umso mehr auch das Gemeinsame, das Verbindende: Die Verbindung von Partikularinteressen und Gemeinschaft und einen allgemein akzeptierten Wertekodex, der in politischen Kontroversen als Richtschnur gilt. Nur so kann in der pluralisierten Welt von heute der Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt bleiben. Nur so kann das entstehen, was ich die Einheit in der Vielfalt nenne.

Mit Sorge schaue ich daher auf eine Verengung des Diskursraumes, wie sie in den letzten Jahren auch in Deutschland immer mehr zugenommen hat. Und mit Sorge schaue ich auf jüngste Entwicklungen, in der Differenzen zwischen einzelnen Gruppen betont und Gräben in der Gesellschaft vertieft werden. Die sogenannte Identitätspolitik, die sich das berechtigte Ziel auf die Fahnen geschrieben hat, die Diskriminierung von ethnischen,  religiösen und sexuellen Minderheiten aufzuheben, hat ihrerseits das Individuum zum Gefangenen eines ethnischen, religiösen oder sexuellen Kollektivs gemacht. Und die Heftigkeit und Unerbittlichkeit, in der die Debatten teilweise geführt werden, widersprechen nicht nur dem Prinzip von Toleranz und Liberalismus, sie erschweren auch Solidarität und gemeinsames Handeln.

Sehr geehrte Damen und Herren,

gleichwohl bin ich davon überzeugt, dass Deutschlands liberale Demokratie stabil ist. Denn noch haben Frustration, Kritik und Wut in Deutschland nicht zu einer mehrheitlichen Ablehnung der Demokratie und einer wesentlichen Unterstützung radikaler Parteien geführt. Oder anders gesagt: Die Erosion traditioneller Parteien ist nicht mit einer Erosion gemäßigter politischer Positionen einhergegangen.

Rechts- und Linksradikale sowie Islamisten bedrohen den demokratischen Grundkonsens in unserem Land, Extremisten und Fanatiker säen Hass und verbreiten das zersetzende Gift von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus, sie verachten unseren freiheitlich-liberalen Lebensstil und schrecken vor Morden aus ideologischen Gründen nicht zurück. Aber sie bleiben ohne Aussicht darauf unsere liberale Demokratie substantiell zu gefährden. Hier muss und wird sich der Rechtsstaat als handlungsfähig gegen alle erweisen, die unsere Demokratie mit Gewalt bedrohen. Und die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wird sich widersetzen, in dem sie weder dem Hass noch den populistischen Verführern folgen werden.

Eine Vielzahl von Bürgern wünscht sich einen Wandel – ja, aber innerhalb des Systems. Nicht wenige sind auch deshalb enttäuscht von der liberal-demokratischen Ordnung, weil sie mehr von ihr erwartet haben, und weil sie ihr immer noch mehr zutrauen als das, was sie augenblicklich leistet. Eben deswegen setzen sie ihre Hoffnungen nicht nur auf zivilgesellschaftliche Aktionen, Bewegungen und Proteste, sondern immer wieder - und gerade augenblicklich - auch auf Wahlen. Mögen Wahlen von manchen auch als unzureichende Partizipationsmöglichkeit kritisiert werden, so zeigt sich doch auch, dass Wahlen zu aktivieren vermögen; sie nähren die Hoffnung auf bessere Ergebnisse für die jeweils präferierte Partei. Sie wecken die Hoffnung auf neue Sieger und Verlierer, auf neue Koalitionen und damit neue politische Prioritäten. Sie wecken die Hoffnung auf beständige Erneuerung.

Um solche Hoffnungen nicht zu enttäuschen, sollte Politik entschiedener und effektiver sein. Getragen von Politikern, die es riskieren, mit ihren Vorstellungen nicht von allen gemocht zu werden, die aber mit starken Argumenten für ihre Zukunftsvorstellungen werben und sich den Herausforderungen der nächsten Zeit offensiver stellen. Natürlich ist die Demokratie die Gesellschaftsform, in der möglichst viele Bürger auf die eine oder andere Weise partizipieren. Aber ohne dass die Kraft und der Wille zur Kursbestimmung in der gewählten Führung deutlich erkennbar werden, ist die Demokratie wie eine Mannschaft ohne Kapitän.

Ich weiß, dass den Bürgern Zumutungen nicht erspart bleiben werden und dass Viele die Demokratie immer wieder in Frage stellen. Ich weiß, dass es  nicht allen Teilen der Bevölkerung leicht fällt, sich dem Wandel und Fortschritt zu stellen und dabei die Risiken nicht zu fürchten. Ich weiß um die anthropologische Konstante der Furcht vor der eigenen Autonomie, der eigenen Verantwortung, letztlich der Furcht vor der Freiheit. Aber ich weiß natürlich auch: Es existiert ebenfalls jene andere anthropologische Konstante: die unauslöschliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Freiheit und lebenswertem Leben. Und deswegen lernen es Menschen immer wieder, die in ihnen angelegte Fähigkeit zu Eigenverantwortung wachzurufen. Aus dieser Fähigkeit ist unsere Demokratie erwachsen, aufgrund dieser Fähigkeit hat sich unsere Demokratie immer wieder verändert. Demokratie ist also nicht, Demokratie wird. Sorgen wir also miteinander dafür, dass dieses Werden unter uns lebendig bleibt!