Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Norddeutscher Lehrertag in Rostock

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Joachim Gauck als Redner beim Norddeutschen Lehrertag 2021

©Verband Bildung und Erziehung (VBE) Mecklenburg-Vorpommern

Joachim Gauck als Redner beim Norddeutschen Lehrertag 2021

13. Norddeutscher Lehrertag

11. September 2021, Rostock


„Die Verantwortung von Schulen auf dem Weg zu einer pluralistischen Gesellschaft“
 

Änderungen vorbehalten
Es gilt das gesprochene Wort

Es ist mir eine große Freude heute zu Gast beim Norddeutschen Lehrertag zu sein. Und zwar nicht nur digital, sondern live hier in der Stadthalle Rostock. Ich habe meine Teilnahme für diese Veranstaltung gerne zugesagt, weil Sie – die Lehrerinnen und Lehrer – seit Beginn der Pandemie ganz besonders gefordert waren und es bis heute sind. Als Lehrende - als Wissensvermittler, als Wegbereiter des sozialen Zusammenhalts und als Bezugspersonen vieler Kinder und junger Erwachsener - müssen Sie Ihre Rolle nun schon lange in einer dynamischen Pandemielage immer wieder neu justieren.
 

Sie müssen seit über 1,5 Jahren improvisieren, neue digitale Angebote erproben und Kommunikationswege weiterentwickeln. Und dabei sollen Sie stets ansprechbar für die unterschiedlichen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern, aber auch von Eltern bleiben. Oft werden Ihnen Aufgaben übertragen, die über den Unterricht weit hinausreichen, damit Kinder und Jugendliche trotz Corona nicht zurückfallen. Das Motto Ihrer Veranstaltung ist daher treffend gewählt: Es geht um Vielfalt und es geht um Halt in einem vielfältigen Umfeld.

Ich weiß, dass das neue Schuljahr für Sie alle auch mit Sorgen begonnen hat. Corona ist noch nicht vollständig überwunden: Das gilt einerseits für uns hier in Deutschland, mit Blick auf die Impfquoten aber auch weltweit. Die Impfquote unter den Lehrkräften ist erfreulich hoch. Aber der Präsenzunterricht ist bei einer sich wieder verschärfenden Corona-Lage eben nicht allein mit Lüften und Testen zu bewerkstelligen. Es wird schnell klar: Die Hauptlast bei allen Maßnahmen zur Offenhaltung der Schulen wird von den Beschäftigten an den Schulen getragen.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle daher zunächst einmal von Herzen meinen Dank aussprechen. Sie können sicher sein: Ihre Leistung, die Belastungen, denen Sie ausgesetzt sind, Ihre Flexibilität – all das wird gesehen. Unzählige Menschen, vor allem die Eltern und die Schülerinnen und Schüler, in diesem Land sind dankbar, dass sie sich auf Sie verlassen können.

Meine Damen und Herren,
schon vor der Pandemie war es eine Binse, dass wir in Zeiten des beschleunigten Wandels leben. Das sehen wir mit Blick auf das Klima, technologische Veränderungen oder die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung. Aber über die Frage, was der Wandel uns konkret abverlangen wird und wie wir ihm am sinnvollsten begegnen, lässt sich noch vortrefflich diskutieren.

Klar ist wohl nur, dass trotz vieler Ungewissheiten das Verharren im Altbewährten keine vernünftige Strategie sein kann. Nur wer sich seiner Identität gewiss ist, kann gesellschaftliche Veränderungen selbstbewusst mitgestalten und – wie Sie es so treffend formulieren – Halt geben. Das gilt auch für die Institutionen der Bildung in unserem Land. Mit der Bildung verhält es sich so ähnlich wie mit dem Fußball. Zu den 80 Millionen Bundestrainern gesellen sich fast ebenso viele Bildungsexperten. Und das ist ja ganz verständlich, denn wir alle machen unsere eigenen Erfahrungen mit Bildung. In der Schule werden oft Freundschaften fürs Leben geknüpft. Wer im Beruf angekommen ist, der besucht Weiterbildungen und Seminare und nimmt so wieder die Rolle eines Schülers ein. So vieles im weiteren Leben hängt von gelingender Bildung ab.

Trotz einiger Defizite, die uns in internationalen Vergleichsstudien immer wieder vor Augen geführt werden, dürfen wir nicht vergessen, dass wir in Deutschland über ein außerordentlich leistungsfähiges Bildungssystem verfügen, dessen Qualität und Vielfalt – ich denke dabei auch an die berufliche Bildung, nicht nur an die Vorbereitung zur akademischen – weltweit hohes Ansehen genießt. Das lässt sich dann auch aussprechen, ohne die Mängel und Missstände zu beschönigen.
Rein quantitativ hat es nie so viel Wissen und so viel Bildung gegeben in Deutschland. Das verdanken wir natürlich auch äußeren Umständen, der langen Zeit des Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität unseres Landes etwa. Viel ist auch in der Bildungspolitik erreicht worden. Der Bildungsstand der deutschen Bevölkerung verbessert sich, genauso die Chancen, sich zu bilden und weiterzubilden. Eines jedoch hat sich bislang nicht ausreichend verbessert: Seit Jahrzehnten diskutieren wir in Deutschland über Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. Es ist die große Konstante der deutschen Bildungspolitik: Noch immer hängt Bildungserfolg in Deutschland stark – ja wir könnten sagen: zu stark! – von der sozialen Herkunft ab.

An Brennpunktschulen gehen die Lehrerinnen und Lehrer und alle Mitarbeiter von der Frage aus: Was können wir bestmöglich für den einzelnen Schüler tun? Ihre Einstellung lautet: Wir setzen bei der konkreten Situation eines jeden einzelnen Schülers an. Die Lehrkräfte sind es, die mit den Kindern jene Verlässlichkeit einüben, die sie von zu Hause in vielen Fällen nicht kennen und doch Grundlage allen Lernens ist. Ob Bildungsferne, Drogenabhängigkeit, Jugendkriminalität, soziale Schwierigkeiten im Elternhaus: Für jeden Einzelnen braucht es ein funktionierendes Netzwerk von Hilfeleistenden. Dazu gehören vielleicht das Jugendamt, die Jugendgerichtshelfer, die Schulleiterin, die Lehrerinnen und Lehrer oder der Sozialarbeiter der Schule. Erfolge sind möglich, aber sie brauchen einen langen Atem und wahrlich einen großen Einsatz. Und sie brauchen genau auf den Schüler zugeschnittene Unterstützungsmaßnahmen – vielleicht, nein, ganz gewiss brauchen viele einen zweiten und auch einen dritten Anlauf.

Zu Recht erwarten wir daher von unseren Bildungseinrichtungen, dass sie allen Schülerinnen und Schülern gleiche Ausgangsbedingungen garantieren. Aber gleiche Rechte können ungleiche Begabungen und Fähigkeiten nicht wettmachen. Sie können auch ungleiche soziale Voraussetzungen und mentale, kulturelle Prägungen nicht gänzlich ausgleichen. Wichtig ist es daher, formale Gleichheit durch spezifische Förderung zu ergänzen, damit Menschen das erreichen können, was ihre Fähigkeiten erlauben. Das ist der zentrale Anspruch, hinter den unsere Gesellschaft, besonders unsere moderne vielfältige Gesellschaft, nicht zurückfallen darf: Bei gleichen Begabungen muss es gleiche Aufstiegsmöglichkeiten geben.

Und es wäre bitter, wenn wir in einigen Jahren feststellen müssten, dass die vielen Monate, in denen die Schulen geschlossen waren, die vielfältigen Bemühungen für mehr Chancengerechtigkeit weit zurückgeworfen, wenn nicht sogar zunichte gemacht haben. Es ist gut, dass die Politik und auch die Bundesregierung diese Sorge anspricht und mit Förderprogrammen entgegenwirken möchte, aber dies allein wird nicht ausreichen. Wieder einmal wird es auf das Netzwerk Schule vor Ort ankommen. Dort müssen Rückstände erkannt und individuell aufgeholt werden. Nun bin ich wahrlich kein Pessimist, aber ich fürchte, liebe Lehrerinnen und Lehrer, Sie werden noch einen langen Atem brauchen, bis auch an den Schulen die Auswirkungen der Pandemie überwunden sind.
Was außerhalb der Schule geschieht, prägt das Lernen und das Leben an der Schule entscheidend mit – das galt schon vor der Pandemie. Und deshalb liegt es auf der Hand, dass wir die Schulen nicht mit Erwartungen überfrachten dürfen. Schule kann nicht der Reparaturbetrieb einer ganzen Gesellschaft sein, es ist oft ausgesprochen und immer noch wahr, sie kann nicht all das kompensieren, was von Seiten der Eltern in den ersten Lebensjahren eines Kindes versäumt wurde. Aus der Forschung wissen wir, dass nicht die materielle Armut selbst, sondern deren Begleitumstände die gesellschaftlichen Chancen von Kindern mindern – zum Beispiel ein geringer Bildungsgrad, aber auch mangelnde Fürsorge oder auch fehlender Aufstiegswille im Elternhaus.

Entscheidend ist also, dass Kinder in einem positiven, von emotionaler Sicherheit geprägten Umfeld aufwachsen – Mütter, hoffentlich mit Vätern, Geschwister, Freunde – sie müssen als Vorbilder einem Kind zur Verfügung stehen, kurz, es muss in einer sozialen und kulturellen Umgebung aufwachsen, die ihm Halt gibt. Auch Kinder und Jugendliche selbst müssen ihre Chancen ergreifen und bereit sein, Hilfe anzunehmen. Hier kommt das individuelle "Wollen" ins Spiel. Es braucht eben auch die Bereitschaft, sich anzustrengen. Wer diese Botschaft nicht mehr vermittelt, der macht einen schweren Fehler. Kinder und Jugendliche können es nur so erfahren, wenn sie bereit werden, diese Anstrengung und dieses "Wollen" zu leben. Sie können nur so Glückserfahrungen machen, die ohne Anstrengung überhaupt völlig unmöglich sind. Ja, es gehört einfach zum Leben dazu. Vor lauter Menschenfreundlichkeit haben wir uns aber oft abgewöhnt, Forderungen zu stellen und Erwartungen auszusprechen, die Anstrengungen kosten. Aber das ist überhaupt nicht menschenfreundlich, das ist lebensfremd.

Weit verbreitet ist auch die Vorstellung, eine gelingende Arbeitsbiographie könne nur die Folge einer gelungenen Schulbiographie sein. Doch wenn wir deutlich hinschauen, wird klar, dass keinesfalls jeder im Leben scheitern muss, der einmal in der Schule gescheitert ist. Es lohnt sich, einige alte Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen. Vielleicht wird es sogar unausweichlich sein, unsere Gesellschaft und mit ihr unser Bildungssystem massiv zu verändern. In schwieriger Lage also brauchen wir viele helfende Hände.

Wir erkennen, dass sie notwendig sind, und zwar nicht nur in der Schule, sondern auch darum herum. Nicht allein den Lehrerinnen und Lehrern darf aufgebürdet werden, Schüler zu Leistung zu motivieren und zum Durchhalten zu bewegen. Zumal sie den Anspruch, jedem einzelnen Schüler gerecht zu werden, oft nur dann einlösen können, wenn sie mehr Zeit und mehr Zuwendung aufbringen, als es ihre Dienstpflicht eigentlich vorsieht. Wir übersehen dabei oft, dass sie sich überfordern, um Mängel ganz unterschiedlicher Art auszugleichen. Viele von Ihnen gehen beständig an ihre physischen und psychischen Grenzen, um Ihren Lehrerberuf weiter ausüben zu können. Lehrerinnen und Lehrer sind auch Ziel von Häme und Kritik. Dabei leisten Sie in unserem Land Tag für Tag – zumal seit Beginn der Pandemie – beinahe Unglaubliches.
 

Sehr geehrte Damen und Herren,
lassen Sie mich daher etwas konkreter auf eine zentrale Herausforderung eingehen, die uns auch gesamtgesellschaftlich immer mehr beschäftigt: Die Digitale Revolution erfasst alle Bereiche unseres Lebens. Wir diskutieren über die Chancen und Herausforderungen zum Glück nicht mehr nur unter Fachleuten, sondern in der ganzen Gesellschaft. Nur so kann es gelingen, die Vorteile zu nutzen, und zwar für alle. Und nur so kann es gelingen, auch die Nachteile zu erkennen, die mit einer schrankenlosen Kommunikation verbunden sind, die oft in Anonymität abläuft. Die Pandemie hat das Ausmaß der Defizite der Digitalisierung eindrücklich deutlich gemacht. Bei der digitalen Ausstattung vieler Schulen fehlen deutliche Fortschritte, vom schnellen Internet sind immer noch viele Schulen ausgeschlossen. Diese Situation, da sind wir uns einig, darf nicht so bleiben. Denn Bildungseinrichtungen müssen ihre Angebote auch deshalb erweitern, um Kindern und Jugendlichen eine Chance zu bieten, an neuen Entwicklungen teilzuhaben und Medienkompetenz aufzubauen.

Wir alle müssen lernen, im Strom der digitalen Informationen den Überblick zu behalten und Wichtiges von Unwichtigem und noch bedeutender Fiktion und Fakten zu unterscheiden. Wir müssen es schaffen, zu mündigen Nutzern der digitalen Welt zu werden. Dies ist und bleibt ein Mega-Thema auch der schulischen Bildung.
Der digitale Wandel muss in allen Schulen zu vergleichbaren Standards führen genauso wie zu einer Angleichung der technischen Voraussetzungen, der Ausstattung und der Weiterbildung der Lehrkräfte in Sachen Digitalisierung. Denn die Digitalisierung bringt auch neue Formen des Lernens hervor. Zahlreiche digitale Lernangebote sind entstanden, die den Unterricht vor Ort teilweise ergänzen, teilweise sogar ersetzen.

Vieles ist noch in der Erprobungsphase, anderes wird schon erfolgreich genutzt. Der Einsatz von digitalen Geräten verändert die Rollen der Lehrenden wie Lernenden. Das erfordert auch ein Umdenken von allen Beteiligten. Das Ziel der Anstrengungen ist klar: Alle Schülerinnen und Schüler sollen profitieren, auch solche, denen das Lernen schwerfällt oder die aus bildungsfernen Milieus stammen. Das gilt besonders in Zeiten, in denen viele Menschen Zuflucht suchen in unserem Land.
Umso mehr müssen wir uns anstrengen in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Nicht nur brauchen sie die nötigen sprachlichen und interkulturellen Kompetenzen – sie brauchen auch das nötige Fachwissen zur Vermittlung dessen, was unsere freiheitlich-demokratische Ordnung ausmacht. Die Schule ist eben auch eine Welt und ein Raum, der Werte vermitteln muss. Nur dann kann Bildung die Integrationswirkung entfalten, die ihr zugedacht ist.

Lassen Sie mich am Ende meiner Worte noch einmal auf die aktuelle Krise zu sprechen kommen. Denn die Corona-Krise bietet wie alle Krisen nämlich auch Chancen. An den Schulen wird die Zukunft unseres Landes greifbar. Dort findet sie schon heute statt. Umso wichtiger ist es, dass wir umsteuern und Schulen schon heute zukunftsfest machen. Zum Beispiel durch gute Arbeitsbedingungen für alle, die dort arbeiten und durch die Vermittlung von Wissen und Werten einen Beitrag zu einer funktionierenden Gesellschaft leisten. Und gute Lernbedingungen für Kinder und junge Menschen, deren Vielfalt durch Inklusion und gemeinsames Lernen als Chance begriffen wird. Auch müssen die Schulen vielerorts baulich auf den neuesten Stand gebracht werden.  Lehrerin oder Lehrer zu sein, meine Damen und Herren, das ist doch einer der wichtigsten, einer der schönsten, aber auch der schwierigsten Berufe.
Ich bin dankbar für Ihr großes Engagement, liebe Lehrerinnen und Lehrer, dankbar für Ihren Idealismus, für Ihre Geduld und für Ihre Tatkraft.