Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Rede anlässlich der Jahrestagung der Görres-Gesellschaft

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Jahrestagung der Görres-Gesellschaft

26. September 2021, Berlin

„Toleranz: Herausforderungen und Chancen“

Änderungen vorbehalten.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Es freut mich sehr, dass wir heute an diesem besonderen Tag – im schönsten Neudeutsch „hybrid“ – zusammenkommen, um das nachzuholen, was Sie sich als Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft schon vor einem Jahr vorgenommen haben:

Das Nachdenken und Debattieren über die Toleranz und den daraus resultierenden Herausforderungen und Gefahren. Besonders und besonders schön ist der Tag auch deshalb, weil ich eine Ehrung beiwohnen durfte, über die ich mich außerordentlich freue:

Lieber Herr Professor Oberreuter,
ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zur Verleihung des Ehrenringes der Görres-Gesellschaft, die zum Ausdruck bringt, was auch im empfinde: Ein großes Maß an Wertschätzung für Ihr wissenschaftliches und gesellschaftliches Wirken und Ihre klugen Beobachtungen. Und mit Freude habe ich Ihren Worten der Würdigung gelauscht, lieber Herr Professor Maier: Was für ein schönes Geschenk an einem besonderen Sonntag.

Ein besonderer Sonntag der uns auch politisch bewegt und mit Spannung auf den frühen Abend blicken lässt: Heute feiern wir als freie Bürgerinnen und Bürger das, was man als Hochamt der Demokratie bezeichnen könnte: Wir haben das Recht zu wählen.

Für die meisten von Ihnen mag dies ein völlig selbstverständlicher, wenn auch nicht alltäglicher Vorgang sein, vergleichbar dem sonntäglichen Gottesdienst. Für Menschen wie mich, der ich lange in einer Diktatur lebte, ist es immer noch ein Fest der Freude, in allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen die zu bestimmen, die uns regieren sollen. Ich musste 50 Jahre alt werden, um das erste Mal wirklich wählen zu können. Und ich werde nie vergessen, wie das war, als ich dann aus dem Wahllokal herauskam und mir die Tränen nahe waren – vor Freude!

Nun wird uns das Ergebnis – sofern sich die Umfragen bestätigen – noch einige Zeit im Unklaren darüber lassen, wer uns in welcher Konstellation regieren wird. Sicher ist allerdings, dass unser Parlament und die darin repräsentierten politischen Strömungen vielfältiger bleiben. Und sicher ist auch: Dies ist weniger Grund zur Sorge, sondern mehr eine Aufforderung an uns alle aufmerksam und handlungsfähig die Zukunft unseres politischen Systems zu sichern. Auch bei den Wahlen in den Kommunen, den Ländern und heute im Bund sehen wir, dass unsere Gesellschaft vielfältiger, ja pluralistischer geworden ist. Wir sehen aber auch, dass die übergroße Mehrheit von Menschen, das Argument mehr schätzen als das Ressentiment und wir (noch) nicht um unsere liberale Demokratie fürchten müssen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
nicht jeder Tag ist ein Sonntag und erst recht nicht Wahltag, an dem man sich am Grundsätzlichen erfreuen kann. In unserem Alltag und noch einmal verstärkt in den vielen Monaten der Pandemie erleben wir in einem Teil der Gesellschaft eine forcierte Rechthaberei, eine Verrohung von Sprache und Sitten, Hass, der sich auf den Straßen und besonders deutlich im Netz immer ungenierter zeigt. Und noch viel bitterer ist die Erkenntnis, dass die Worte nicht ohne Taten bleiben, ja sogar perfide Mordtaten durch Rechtsextremisten erschüttern das friedliche Miteinander der Menschen in unserem Land. Und die Gefahr durch linke Extremisten oder religiöse Fundamentalisten und Fanatiker ist auch nicht kleiner geworden. Dies und ganz besonders die Morde des NSU, die Mordtaten in Halle und Hanau sowie der Mord an Walter Lübcke und jüngst der brutale Mord in Idar-Oberstein haben Spuren hinterlassen und Gräben durch unsere Gesellschaft gezogen. Viele Menschen fragen sich, was ist los in diesem Land? Was hält uns noch zusammen?

Wir kennen diese weitreichende Besorgnis auch aus den wissenschaftlichen Diskursen und müssen uns wohl zunächst eingestehen, dass wir noch nicht abschließend erkennen können, wie tiefgreifend sich die Struktur unserer Gesellschaft wandelt. Umso bedeutender ist es, sich schon jetzt mit der Frage zu befassen, wie eine Gesellschaft der Singularitäten, so formuliert es Andreas Reckwitz, zu einem Bewusstsein des Miteinanders gelangt?

In den letzten beiden Tagen haben Sie sich bereits in einer beindruckenden Vielfalt und Tiefe mit dem Thema Toleranz in Geschichte und Gegenwart, in Politik, Religion und Gesellschaft befasst. Ich bin mir sicher, dass Sie kontrovers und erhellend zu dieser für eine Demokratie selbstverständlichen Haltung, der Toleranz, debattiert haben. Und vielleicht geht es Ihnen nach den zwei intensiven Tagen des Debattieren und Nachdenkens wie mir: Eine gewisse Ambivalenz beim Umgang mit der Toleranz bleibt bestehen, ist diese uns menschenmögliche Haltung doch schneller eingefordert als tatsächlich gelebt. Sie werden also nachvollziehen können, wenn ich in meinem Vortag weder den immanenten Zwiespalt zwischen der Unabdingbarkeit und den Grenzen der Toleranz auflösen, noch eine abschließende Zusammenfassung der Diskussionen Ihrer Jahrestagung liefern kann. Ich möchte Ihnen aber gerne erläutern, warum mir die Toleranz noch einmal so wichtig geworden ist und welche Chancen ich mit ihr trotz all der Herausforderungen verbinde.

Was wir sehen und spüren ist, dass unsere Gesellschaft in den letzten Jahren durch zahlreiche Entwicklungen erschüttert wird, die schon jeweils für sich genommen reichen würden, um bei den allermeisten Menschen eine tiefe Beunruhigung zu hinterlassen: Gelingt es uns noch den menschengemachten Klimawandel einzudämmen und wie gehen wir schon heute mit den Folgen um? Ist unsere Art des Wirtschaftens nachhaltig und unser Finanzsystem stabil? Welche Folgen hat die Globalisierung? Wie weit verändert die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz meine Lebenswelt? Wie bleibe ich beheimatet in einer Gesellschaft, die immer diverser wird?

All diesen zutiefst politischen Fragen liegen Entwicklungen zugrunde, die im Allgemeinen Verunsicherung, aber im Einzelfall ganz unterschiedliche, teils sehr emotionale Reaktionen zwischen totaler Leugnung und überbordenden Aktionismus hervorrufen.

Ein weiteres Beispiel ist das Aufwachsen einer Partei am rechten Rand, die zu wenig darauf achtete, ob sie mit Demokratiefeinden gemeinsame Sache machte und vor vier Jahren erstmals in den Bundestag gewählt wurde. Müsste eine solche Partei nicht verboten werden, so fragten sich viele derjenigen, die in Sorge um die Demokratie waren? Andere wiederum fürchteten zu frühe Verbote.

Die mittlerweile gut geölten Empörungs- und Wutmechanismen funktionierten in den vergangenen Monaten auch zu gut bei den Befürwortern und Gegner der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Auch hier forderten die Einen schnell generelle Verbote, während sich Andere auf beschämende Art und Weise als moderne Auferstehung von Widerstandskämpferinnen gebärdeten. Und wieder einmal blickt man auf das Land und fragt sich: Wie konnte es passieren, dass zahlreiche Menschen sich so schnell unversöhnlich gegenüber stehen und zum Teil jeglichen Bezug zu Realität verloren haben?

Zunächst einmal müssen wir uns aber noch einmal vor Augen führen: Die große Mehrheit der Bevölkerung verfolgt das Handeln der Regierung zwar durchaus kritisch, trägt die Maßnahmen, wie Umfragen immer wieder belegen, aber stets mehr oder weniger mit.

Es gibt also in der Regel eine durch die mediale Berichterstattung erzeugte Wahrnehmungsverzerrung – die wohl der medialen Funktionslogik und nicht einer bösen Absicht entstammt. Gleichwohl: Polarisierung und Intoleranz gegenüber anderen Meinungen nehmen auch bei uns zu. Wie aber sollen wir nun umgehen, mit denen, die unsere Toleranz herausfordern oder gar überschreiten?

Ein Teil der Antwort ist einfach: Intoleranz gegenüber den Grundprinzipien unserer freiheitlichen Demokratie kann wiederum nur mit Intoleranz begegnet werden. Wer nur Hass schürt und Straftaten begeht, muss konsequent durch die rechtsstaatlichen Institutionen zur Rechenschaft gezogen werden. Die rechtsstaatliche Toleranzgrenze ist klar definiert oder lässt sich zumindest in einem klar definierten, rechtsstaatlichen Verfahren klären.

Aber wo liegt die Grenze der Toleranz, die wir uns als Gesellschaft zumuten sollten, um wiederum den Grundprinzipien unserer liberalen Gesellschaft gerecht zu werden? Und was können wir individuell tolerieren? Wo sind aufgrund unseres Glaubens, unserer moralischen Überzeugungen die uns persönlich gesetzten Grenzen der Toleranz?

Es ist jedenfalls klar: Toleranz ist auch in einer Demokratie keineswegs selbstverständlich und wir müssen ihr eine weit größere Aufmerksamkeit widmen.

So ist mir bei der Beschäftigung mit dem Thema Toleranz auch aufgefallen, dass keine verbindliche Definition existiert und Verschiedene Verschiedenes darunter verstehen. Dann habe ich gemerkt, dass ich durch meine DDR-Biographie ein etwas anderes Verhältnis zu Toleranz und Intoleranz habe als Westdeutsche, denn – zugespitzt formuliert –: Intoleranz erschien mir keineswegs generell negativ und verurteilenswert, sondern teilweise durchaus positiv. Intern – das habe ich selbstverständlich in der Familie und im Freundeskreis gelernt – ist Toleranz geboten, nicht zuletzt aus christlichen Gründen.

Draußen hingegen, im öffentlichen Raum, war Intoleranz angesagt. Jedenfalls wenn man wie meine Familie aus einem Umfeld kam, das freiheitlich dachte. Wir lehnten das System ab, diese Diktatur, die eine „schwarze Pädagogik“ in Rot praktizierte und mit dem gebieterischen Gestus der Herrschenden verlangte:

Sieh die Welt wie wir!

Sprich so, wie wir es für richtig halten!

Handle so, wie wir es wollen!

Bleibe dort, wo wir das Sagen haben!

Als die kommunistische Überwältigungskultur dann endgültig überwunden war und wir Ostdeutschen Teil der europäischen Demokratiegeschichte wurden, habe ich es für selbstverständlich gehalten, gelebter Toleranz zu begegnen. Sie erschien mir so selbstverständlich, dass ich weder über sie groß nachdachte noch die im Alltag sichtbaren Defizite als bedrohlich wahrnehmen konnte.

Aber schon vor den jüngsten krisenhaften Entwicklungen hat sich unsere Gesellschaft im Zuge der fortschreitenden Globalisierung und vertieften europäischen Integration gewandelt, wie es für viele westliche Demokratien typisch ist. Unsere offenen Gesellschaften sind geprägt von einer nie zuvor existierenden Diversität. Ethnische, religiöse, kulturelle und habituelle Unterschiede treten besonders in den urbanen Zentren zutage. Überdeutlich erkennen wir die Bedeutung des Satzes von Michael Walzer: „Toleranz macht Differenz möglich, Differenz macht Toleranz notwendig.“

Nun ist dieses Leben inmitten einer verunsichernden Verschiedenheit nicht etwas, das Bevölkerungen automatisch „können“ bzw. akzeptieren. Bis heute fällt vielen Bürgern im Osten Deutschlands das Zusammenleben mit Wessis oder Zugewanderten, diversen sexuellen Orientierungen oder Muslimen oder Weltbürgern immer noch schwerer als im Westen. Andere und Anderes tolerieren zu lernen, ist ein anstrengender Prozess. Er beansprucht Zeit und hat in der frühesten Kindheit einzusetzen.

Zu Beginn des Lebens, so der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, drängen Kinder noch ganz selbstbezogen und rücksichtslos auf Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Ein Baby wartet nicht ab, bis die Mutter mit ihrer Arbeit fertig ist, sondern es schreit,wenn es hungrig ist. Schritt für Schritt lernen junge Menschen dann aber, die eigenen Bedürfnisse zugunsten eines besonnenen, sozialen Verhaltens zumindest zeitweise zurückzustellen und sich zu gedulden. Ohne die Fähigkeit zu Selbstbeherrschung und Affektkontrolle könnten Menschen keine Konfliktvermeidung einüben und schließlich sogar in eine Spirale der Gewalt geraten. Insofern ist Toleranz immer mit einer kleineren oder größeren Selbstüberwindung verbunden. Sie ist eine zivilisatorische Leistung, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Toleranz fordert, die Andersartigkeit eines Anderen auszuhalten, obwohl mich seine Meinung, sein Verhalten, sein Lebensstil, unter Umständen ganz einfach seine Existenz irritieren, ärgern oder gar wütend machen – auf jeden Fall: stören. Toleranz ist insofern eine Zumutung.

Sie ist – anders, als oft unterstellt – gerade nicht identisch mit Gleichgültigkeit, Desinteresse oder Laissez-faire. Ein oft genanntes Beispiel ist Friedrich II.: Er hielt nichts von traditionellen religiösen Ritualen und bedachte sie nicht selten mit sarkastischen Kommentaren. Dennoch respektierte er die Glaubensfreiheit und erklärte, jeder solle nach seiner Façon selig werden. Seine Toleranz gegenüber den Glaubensgemeinschaften war wahrscheinlich wohl eine Folge aufklärerischen Denkens und politischer Vernunft.

Und hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Kennzeichen der Toleranz. Etwas zu tolerieren bedeutet nicht automatisch, etwas auch wertzuschätzen. Wer etwa im Islam eine gewalttätige und dogmatische Religion sieht, wird als Christ oder Humanist seine eigene ethische oder religiöse Bindung für wertvoller erachten.

Die Gleichberechtigung von Muslimen, Christen, Juden, Atheisten in der Demokratie, die allen die Freiheit der Religionsausübung garantiert, heißt nicht, dass die Inhalte, Ziele und Urteile ihrer Religionen als gleichwertig erachtet werden müssen.

Ich halte es insofern für problematisch, wie Toleranz 1995 von den Mitgliedstaaten der UNESCO definiert wurde. In der Erklärung heißt es: „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt.“ Diese Erklärung halte ich für defizitär.

Toleranz bedeutet keineswegs, dass wir alle Kulturen gleichermaßen zu achten hätten.

Ich will beispielsweise keine Kultur gutheißen, die menschenverachtend, rassistisch, frauenfeindlich oder auf andere Weise politisch intolerant ist. Ich kann zwar noch dulden, was ich aus Gründen der Gleichberechtigung hinzunehmen habe, aber niemand kann mich zwingen, auch noch gutzuheißen, was ich kritisiere oder unter Umständen sogar verachte. Also: Duldung – ja, sie ist erforderlich und menschenmöglich; wertschätzende Anerkennung – nein, sie übersteigt die menschliche Psyche und ist realitätsfern. Toleranz wird deshalb nicht selten auf eine friedliche Koexistenz hinauslaufen: Eine friedliche Kooperation Kontrahenten, da sie nützlicher und realitätsgerechter ist als Aggression oder gar Krieg.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass auch Goethes Verständnis von Toleranz nicht meine Zustimmung finden kann. „Toleranz“ sagte er „sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Ja, vielleicht wird jemand eine Duldung als Beleidigung empfinden. Das lässt sich nicht ausschließen. Aber die wichtige Aufgabe von Toleranz besteht doch gerade darin, dass sie wenigstens Duldung fordert, wenn eine wertschätzende Anerkennung nicht möglich ist. Es wäre beispielsweise eine heillose Überforderung mancher Katholiken, wenn sie die gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch gut heißen sollte, obwohl sie Abtreibung immer als Tötung oder Mord erachten werden.

Allerdings: Toleranz existiert auch als Respekt und Anerkennung. Jeder und jede von Ihnen dürfte diese Form der Toleranz kennen: Als Respekt für eine andere Denk- und Lebensart, die in sich konsistent, authentisch und ehrlich ist – aber eben nicht die meine.

Entweder bin ich unter anderen Umständen aufgewachsen, so dass mir der Lebensstil des Anderen fremd ist. Oder ich setze andere Prioritäten, habe einen anderen Glauben und gelange daher zu anderen Schlussfolgerungen. Dennoch können mir das Denken und die Haltung des Anderen Respekt und Achtung abnötigen, selbst wenn ich ihm nicht bis ins Detail folge. So funktioniert beispielsweise die christliche Ökumene.

Nicht vergessen möchte ich schließlich Toleranz aus Liebe. Wer hat es nicht beobachtet:

Eltern oder Ehepartner sind in der Regel bereit, gegenüber Kindern oder Partnern weit mehr Toleranz zu üben als gegenüber Fremden. Sie zeigen mehr Geduld und ertragen selbst Verhaltensweisen, die bei anderen zum Kontaktabbruch führen würden. Diese Fähigkeit zu einer Toleranz aus Liebe scheint dem Menschen mitgegeben, „biologisch vorbereitet“ wie Mitscherlich sagt, ich wüsste nicht, wie wir sie lernen könnten.

Sie ist einfach ein Geschenk. Und sie hat alle Zeiten überdauert.

Wie stark hingegen Machtverhältnisse und Leitnarrative die Vorstellungen und die Ausprägungen von Toleranz beeinflussen, zeigt ein Blick in die Geschichte.

Solange etwa Kaiser, Könige oder Fürsten nach dem Motto handelten: „Ein Gott, ein Glaube, ein Gesetz, ein König“, war Toleranz einzig und allein von der Gnade der Herrscher abhängig; es handelte sich um Duldung in einem Abhängigkeitsverhältnis. Der Herrscher konnte in einem Akt vertikaler Toleranz den Freiheitsspielraum für Andersgläubige erweitern, ihn aber auch wieder verengen oder beenden.

In der Demokratie, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert mit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Französischen Revolution entwickelte, ist aus der obrigkeitsstaatlichen Toleranz eine horizontale Toleranz formal Gleichberechtigter geworden, die jedem Bürger gleiche Rechte zugesteht:

Schließlich systemübergreifend für alle Menschen in der Menschenrechtscharta nach dem Zweiten Weltkrieg festgehalten.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Verständnis von Toleranz nun noch einmal erweitert. Heute meint Toleranz auch den Schutz von ethnischen, rassischen, sexuellen, „diversen“ und anderen Minderheiten, die Merkmale neben der jeweiligen Norm aufweisen. Diese Erweiterung trägt nicht nur einer gewachsenen Sensibilität gegenüber Diskriminierung Rechnung, sie ist auch Reaktion auf eine zunehmend diverser werdende Welt.

Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft geworden und wir leben mit anderen Ethnien, anderen Religionen, anderen Kulturen, anderen Lebensformen, anderen Hautfarben zusammen. Die Diversität / Pluralität hat in unserem Alltag rasant zugenommen. In dieser Situation sind der Wille und die Bereitschaft der Menschen zur Toleranz besonders herausgefordert. Denn – wir haben es oben ausgeführt – je pluralistischer die Gesellschaft wird, desto größer die Notwendigkeit von Toleranz.

Allerdings zeigt sich, dass sich die Toleranz der Menschen keineswegs automatisch mit zunehmender Vielfalt erweitert. im Gegenteil. Toleranz kann wegen zunehmender Vielfalt sogar schrumpfen. Der große Liberale Ralf Dahrendorf hat diese Entwicklung schon vor über 20 Jahren geahnt und gewarnt, dass der von vielen gewünschte Fortschritt Anderen, weniger flexiblen Menschen nicht selten als Bedrohung erscheint. Er prognostizierte massive Gegentendenzen und hielt es für nicht unwahrscheinlich,

dass Autoritarismus die Zukunft prägt – so wie es in den USA, aber auch in Polen und Ungarn sowie anderen europäischen Staaten tatsächlich zu beobachten ist.

Wir stehen vor einer widersprüchlichen Entwicklung: Je schneller die einen vorangehen, desto mehr beginnen andere zu bremsen. Der Prozess fortschreitender Liberalisierung befördert gleichzeitig einen autoritären Populismus – und damit Intoleranz.

Fragt sich aber: Warum hält die Entwicklung der Toleranz nicht Schritt? Was macht autoritäre Lösungen für einen Teil der Bürger so attraktiv?

Nach umfangreichen Recherchen kam der englische Journalist David Goodhard zu dem Ergebnis, dass sich die Bevölkerung in zwei große Gruppen einteilen lässt: die „Somewheres“ und die „Anywheres“. Bei den „Somewheres“ sehen wir das Bedürfnis, mit ihren Orten, ihren Milieus, ihren Familien verbunden zu bleiben. Sie schätzen die traditionelle Ordnung, sind mehr an Bewahren denn an Verändern interessiert, Sicherheit ist für sie ein übergeordneter Wert. Die 20 bis 25 Prozent, die zu den Anywheres gehören, empfinden anders. Sie wollen vor allem Freiheit und Offenheit. Multikulti etwa ist für sie gelebter Alltag, für Somewheres hingegen gilt das Fremde als Bedrohung.

Und wenn die Anywheres immer neue Toleranz einfordern, fühlen sich die Somewheres überfordert. Aus Angst, die Beheimatung zu verlieren, antworten sie mit Intoleranz und Abschottung und suchen dann häufig Gegenautoritäten, um sich gegen die Fortschrittlichen zu wappnen.

Forschungen aus dem angelsächsischen Raum, die sich speziell den Somewheres widmeten, bestätigen Goodhearts politisch-psychologische Kategorisierung.

Nach Studien (2005 und 2016) in 28 europäischen Ländern und den USA kam die australische Verhaltensökonomin Karen Stenner zu dem Ergebnis, dass 33 Prozent der Europäer und 44 Prozent der US-Amerikaner eine sogenannte autoritäre Disposition aufweisen. Für diese Menschen zählen vor allem „oneness“ und „sameness“: Also eine möglichst hohe gesellschaftliche Einheit und eine möglichst hohe gesellschaftliche Gleichheit. Differenz und Pluralität hingegen werden mit Skepsis, ja mit Angst und Ablehnung beantwortet. Für Stenner ein entscheidenden Faktor für Intoleranz. Im Unterschied zu Theodor Adorno fünfzig Jahre zuvor will Stenner aber nicht von einem „autoritären Charakter“ sprechen. Denn – so ihre Erfahrung: Die autoritäre Disposition ist langlebig, aber sie ist „kein intrinsisches Übel – und: sie kann sich durchaus verändern – langsam. (Wobei äußere Gefahren oder Bedrohungen die Veränderung leicht wieder stoppen können.) Menschen mit autoritärer Disposition auszugrenzen, hält Stenner daher für einen gravierenden politischen Fehler. So würden sie nur den Extremisten in die Arme getrieben.

Einerseits waren die Forschungsergebnisse für mich frustrierend, hatte ich doch geglaubt, dass bei geduldiger und verständlicher Bildung und Aufklärung jeder Mensch gleichermaßen ein positives Verhältnis gegenüber Pluralität und Toleranz und der liberalen Demokratie entwickeln kann. Auf einen schnellen Sinneswandel bei Menschen autoritärer Prägung zu hoffen, musste ich nun als Illusion verwerfen. Andererseits bestätigten mich Stenners Schlussfolgerungen aber auch: Wir dürfen die Toleranz gegenüber Menschen mit einer autoritären Disposition nicht vorschnell aufkündigen - gerade nicht in Zeiten von Wandel und Krise, wenn sich diese Disposition in einem Abwehrreflex verstärkt meldet.

Solange Auffassungen nicht extremistisch sind, den Gesetzen nicht widersprechen und sie keine Gefährdung für die Demokratie bilden, wäre es töricht – wie es augenblicklich nicht selten geschieht –, Menschen in die Distanz zu treiben, indem man sie als extremistisch diskriminiert, wenn sie sich abseits der Mehrheitsmeinung positionieren. Es ist noch kein Rassist, wer Bedenken gegen Einwanderung erhebt. Es ist kein Feind der Demokratie, wer gegen – wohl gemerkt: gut begründete und parlamentarisch legitimierte – Freiheitseinschränkungen der Regierung demonstriert.

Solange die Demokratie selbst nicht in Frage gestellt wird, sollte auf abweichende und unter Umständen auch radikale Meinungen nicht gleich mit Intoleranz, Ausschluss und Verbot reagiert werden. Als freiheitliche Gesellschaft sollten wir uns ein hohes Maß an Toleranz zumuten.

Mir ist bewusst, wie schwer dies ist. Schließlich erfordert es uns persönlich ab, an die Grenzen dessen zu gehen, was wir uns zumuten können: Wir müssen uns eine so weit gefasste Toleranz abfordern, die die Bereitschaft umfasst, in eine substantielle Auseinandersetzung einzutreten. Selbst der Streit, der mit dem politischen Gegner entsteht, kann noch eine Form von Toleranz sein: kämpferische Toleranz. Diese Haltung macht das Gegenüber nicht zum Feind, der vernichtet werden muss. Dem Gegner wird mit Argumenten widersprochen, sollte er selber ernsthafte Argumente anführen, werden diese geprüft und nicht schon deshalb verworfen, weil sie von der falschen Seite kommen.

Selbst wenn ich von der Auffassung des Gegners zutiefst beunruhigt bin, ich sogar in Zorn und Wut verfalle, wird mein Kampf noch ein Quantum Zurückhaltung haben: Ich möchte dich zwar besiegen, aber nicht vernichten, ich akzeptiere dein Recht auf eine abweichende Meinung. Die unangenehme Meinung zu früh als unmoralisch auszugrenzen und Kritik an unserer Demokratie vorschnell für faschistisch, fundamentalistisch oder extremistisch  zu erklären, führt zu früh zu der in anderen Fällen erforderlichen Intoleranz und polarisiert die Gesellschaft unnötig.

Es ist wichtig, sich der Frage zu stellen, ob, wie und wann ich die Moral in die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner einsetze. Selbstredend bleiben ethische Grundüberzeugungen immer Teil der Debatten. Aber wenn wir ausschließlich moralisch argumentieren und auf die Sachargumente verzichten, können wir leicht in einen schwachen, wenig wirksamen Antirassismus, Antifaschismus oder Antipopulismus geraten. Dies führt dann leicht zu einem nicht von Oben kommenden, sonder zu einem Druck aus der Gesellschaft heraus. Schon Alexis de Tocqueville wusste um die Gefahr einer „Tyrannei der Mehrheit“ in einer Demokratie; um die Macht eines moralischen Anspruchs, der das angeblich Richtige vorgibt und auf eine soziale Konformität im Meinen und Empfinden drängt. „In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken“, schrieb Tocqueville, nachdem er das Land fast ein Jahr lang bereist hatte (1831/32).

„Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei, aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt!“

Sehr geehrte Damen und Herren,
gelebte Toleranz fällt schwer und ist selten frei von Widersprüchen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was wir tolerieren müssen, sollten und können. Für den demokratischen Staat ist normativ definiert, was er tolerieren muss und was nicht. Als Gesellschaft sollten wir uns mehr Toleranz zumuten und gleichzeitig entschiedener gegen die Intoleranz vorgehen. Und für uns Bürgerinnen und Bürger stellt sich die Frage immer wieder neu: Was können wir tolerieren und wann ist die Grenze des Zumutbaren überschritten? Viele denken in den Bahnen, die einst etwa Herbert Marcuse formuliert hatte: Toleranz solle nur soweit gehen, wie progressive Inhalte und Ziele intendiert seien, „rückschrittlichen Bewegungen“ solle Toleranz entzogen werden, ehe sie aktiv werden könne. Ich halte es allerdings für richtiger und politisch klüger mit Roberto Bobbio eine Gegenposition zu vertreten: Es ist inakzeptabel „gegen eine repressive eine emanzipatorische Toleranz ins Feld zu führen“. Dies bedeute eine Form der Intoleranz durch eine andere zu ersetzen. „Toleranz muss sich auf alle Menschen erstrecken, ausgenommen die, die das Prinzip der Toleranz leugnen.“

Eine Toleranz ohne Ambivalenz und Widersprüchlichkeit wird es in einer freiheitlichen Demokratie nicht geben. Ja, mitten unter uns existiert das Problem verweigerter oder eingeschränkter Toleranz. Und ja mitten in der demokratischen Gesellschaft gilt es Intoleranz aufzubringen, wo immer Toleranz geleugnet wird. Immer neu wollen also die Grenzen des Tolerablen erkannt und ausgehandelt werden – ein ständiger Lernprozess, der uns Demokraten zugemutet wird.

Aber im Wissen um diese Zumutungen und gestützt auf unsere Erfahrungen, dass wir fähig sind, Toleranz zu leben, bejahen wir die Mühen dieses Lernens.

Denn wir haben die große Chance erkannt, die mit gelebter Toleranz verbunden ist: Toleranz ist eine zivilisatorische Leistung, die Menschen wachsen lässt und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Toleranz ist – um ein betagtes Wort zu benutzen – eine beglückende Tugend.

Aber eben nicht nur dies. Sie ist auch ein Gebot der politischen Vernunft. In einem von Toleranz geprägten weiten Debattenraum entwickeln sich Lösungen, die von Mehrheiten getragen werden und auch den Bedenken von Minderheiten und Skeptikern Rechnung tragen.

In diesem Raum nähern sich Menschen Wahrheiten, die ihnen Zukunft eröffnen, lernen sie Kompromisse zu schließen – und sie lernen die Toleranz zu ergänzen durch entschlossene Intoleranz, immer dann, wenn Freiheit und Toleranz zerstört werden sollen.

Tolerieren und Verteidigen gehören zusammen. Und verteidigen wollen wir die Demokratie nicht einfach nur, weil sie das „Unsrige“ ist. Wir verteidigen nicht nur das uns Vertraute, sondern das, was allen Menschen gleichermaßen zukommt: Würde, Unversehrtheit, Freiheit und Recht. Wir tun es mit Verantwortungsbewusstsein, mit Mut – und mit kämpferischer Toleranz.