Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Rittertag der Provinzial-Sächsischen Genossenschaft des Johanniter-Ordens in Gotha Seitentitel

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©Matthias Frank Schmidt

Joachim Gauck als Redner Rittertag der Provinzial-Sächsischen Genossenschaft des Johanniter-Ordens in Gotha

Rittertag der Provinzial-Sächsischen Genossenschaft des Johanniter-Ordens in Gotha

25. September 2021, Gotha

„Säkular, individualistisch, polarisiert – was hält unsere Gesellschaft zusammen?“

 

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

 

Es freut mich sehr, heute zu Gast beim Rittertag der Provinzial-Sächsischen Genossenschaft des Johanniter-Ordens zu sein. Der Blick in Ihre Gesichter von der Bühne tut gut nach so langen Monaten der Einschränkungen.

Ich bin so gerne zu Ihnen gekommen, weil ich den Johannitern seit vielen Jahren sehr verbunden bin. Einige von Ihnen wissen  vielleicht: Ich habe Ihre Dienste am Nächsten gerade in Ostdeutschland immer wieder und immer gerne unterstützt.

Lassen Sie mich daher zunächst allen, die unter dem Johanniter-Kreuz so außergewöhnliche ehren- und hauptamtliche Arbeit leisten, Dank sagen. Sie erbringen durch Ihr diakonisches Wirken einen wirklich wertvollen Dienst an unserer Gesellschaft. Der Dank ist auch deshalb angebracht, weil so viele von uns spüren, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit ist. Und auch zu diesem Zusammenhalt tragen ja die Johanniter bei.

Mit dieser Würdigung sind wir auch schon in medias res - beim Thema meiner Rede. Schon heute erkennen wir, dass Corona die Verunsicherung und auch die Zukunftsängste, die in unserer Gesellschaft existieren, noch verstärkt hat und sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger fragen: Was hält unsere Gesellschaft eigentlich noch zusammen. Die zunehmende Polarisierung ist geradezu ablesbar geworden auf den Plakaten der Demonstrierenden in den letzten Monaten. Die immer kruderen Thesen und Verschwörungsmärchen selbst-ernannter „Querdenker“ müssen wir zum Glück nicht der Allgemeinheit zuschreiben. Gleichwohl sind auch sie Ausdruck zunehmender Ängste   in weiten Teilen der Gesellschaft nicht nur vor den Auswirkungen der Pandemie, sondern bei genauer Betrachtung auch vor einem umfassenden forcierten Wandel, der unsere Epoche prägt.

Ängste angesichts großer Umwälzungen kennen wir aus der Geschichte, wenn wir auf andere Fortschrittswellen schauen, die die Menschheit erfassten - denken wir etwa an die Kopernikanische Wende oder die Industrielle Revolution. Und heute sehen wir uns gleich einer ganzen Reihe von revolutionierenden Veränderungen globalen Ausmaßes gegenüber: Klimakrise, Digitalisierung, KI, Globalisierung, Migration, Biotechnologie.    Wir alle kennen die Schlagworte. Und zunehmend werden neben den Schlagworten die tatsächlichen Veränderungen auch im Alltag greifbarer für jede und jeden von uns. Schon vor Jahren stellte der Soziologe Zygmunt Bauman fest, wir stehen "vor Herausforderungen, die in der Geschichte ohne Beispiel sind".

Ich möchte heute mit Ihnen erörtern, was es gesamtgesellschaftlich braucht, um diese disruptiven Zeiten erfolgreich zu meistern. Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen. Spürbare Veränderungen gibt es nun auch mit Blick auf unsere Gesellschaft. Wir müssen konstatieren, dass unsere Gesellschaft heute immer pluraler, immer vielfältiger wird –  und  daraus folgt immer mehr auch ein berechtigter Anspruch auf demokratische Teilhabe und Repräsentanz. Ich nenne nur die Bereiche von Religionen, Ethnien, von Geschlechteridentitäten und Rollenverständnissen in Familie und Arbeitswelt. So haben wir uns in den letzten Jahrzehnten an die Herausbildung verschiedenster Lebensformen gewöhnt: unterschiedliche Formen von Lebenspartnerschaften werden hier inzwischen akzeptiert, ebenso wie die Diversität im Bereich der Geschlechterorientierung. Religiöse Diversität existiert neben nicht diskriminiertem Agnostizismus und kulturelle Vielfalt gilt  als selbstverständlich.

Die Vorstellung einer völlig homogenen Gesellschaft gehörte immer schon ins Reich der Phantasie, weil es natürlich immer Unterschiede gab: zwischen Mann und Frau, arm und reich, Bildungsniveaus, Einheimischen und Zugewanderten usw. Aber in den Nationalstaaten hatten sich früher doch Lebensgefühle und Narrative herausgebildet, die Menschen miteinander verbunden haben, auch wenn sie sich persönlich gar nicht kannten. Die Unterschiede traten zurück, das Gemeinsame überwog – etwa dieselbe Hautfarbe, dieselbe(n) Religion(en), dieselben Sitten; aufgrund der Ähnlichkeiten erkennen dann die Menschen im Anderen sich selbst und fühlen sich der Gemeinschaft auf eine nicht hinterfragte, selbstverständliche Art zugehörig. In diese als relativ homogen empfundene Welt wuchs man einfach hinein, ihr gehörte man ganz direkt an, sie wurde selbstverständlicher Teil der eigenen Identität. Es war eine Welt der gefühlt Gleichen.

So haben unsere Vorfahren und die Älteren unter uns ihren alten Nationalstaat in Erinnerung. Diese Wahrnehmung hat sich heute gründlich geändert. Dafür sind psychologische wie faktische Veränderungen verantwortlich. Allein die Deutsche Einheit hat die gefühlte Homogenität beeinflusst. Durch Zuwanderung ist die Gesellschaft schließlich auch im Osten heterogener geworden. Heute bilden Kinder mit Migrationshintergrund in den Großstädten die Mehrheit in den Grundschulklassen, einige Sprecher und Moderatoren im Fernsehen haben Wurzeln nicht nur in Italien, sondern in der Türkei, dem Iran und dem Irak. Ende 2019 ist ein Politiker türkischer Herkunft Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt geworden. Vor ihm waren andere Frauen und Männer mit ausländischen Familiennamen Mitglieder in Parlamenten und Regierungen dieser Republik geworden.

Heute sind die Muttersprachen und Religionen verschieden, ebenso auch die Emotionen angesichts derselben Ereignisse. Die Pluralisierung hat die ethnische und religiöse Zusammensetzung der Nation verändert, traditionelle Milieus etwa im Bürgertum oder auch unter den gläubigen Christen sind einem tiefgreifenden Wandel unterzogen, der nicht nur auf äußere, sondern in erster Linie auf innere Einflüsse zurückzuführen ist: Die Unzufriedenheit mit der Institution Kirche ist heute der zweitwichtigste Grund für Kirchenaustritte. Wir leben zwar zusammen in einer Nation, aber nicht mehr in einer Welt der gefühlt Gleichen.

Aus der in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Vielfalt hat sich in den westlichen Demokratien schrittweise eine deutlichere Artikulation der jeweiligen gruppenbezogenen Interessen, Prägungen und Glaubensinhalte ergeben. Je freier und liberaler die Gesellschaft war, desto ausgeprägter. Ein gesellschaftlicher Druck zu Homogenität, wie er zuvor stärker Wirkung entfalten konnte, ist den liberalen Demokratien wesensfremd – ihr Kennzeichen ist der Pluralismus. Die Behauptung einer hegemonialen Kultur lässt sich in einer Gesellschaft, in der Unterschiedliches zunehmend gleichberechtigt nebeneinandersteht, nur schwer durchsetzen. Und wir sehen, dass insbesondere für Menschen, die sich ihrer Identität nicht sicher sind oder ihre Identitäten nicht oder nur eingeschränkt leben konnten, die Existenz in einer freien und pluralen Gesellschaft ein lebensverändernder Gewinn ist. Für die Gesellschaft insgesamt gilt natürlich: Es braucht gemeinsame Bezugspunkte für alle, so wie wir sie mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dem Grundgesetz in Deutschland haben.  
Warum aber entstehen in Gesellschaften, die in Folge einer aufklärerischen Politik einen so grundsätzlichen Gewinn errungen haben, retardierende oder gar gegenläufige Bewegungen? Lassen Sie mich diese Entwicklung einmal beispielhaft am Beispiel des demographischen Wandels demonstrieren. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Staaten haben sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs eher homogene Nationen in eher heterogene Nationen verwandelt. In Großbritannien beispielsweise lag die Zahl der Einwohner aus einer ethnischen Minderheit in den 1950er Jahren bei wenigen Zehntausend; heute sind es acht Millionen. Das ethnisch recht homogene (West)Deutschland begrüßte 1964 den Millionsten "Gastarbeiter"; bis 2017 stieg die Zahl der Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund in Gesamtdeutschland auf gut 19 Millionen. Damit bildeten sie mit etwa 23 Prozent einen stärkeren Anteil an der Bevölkerung als die Ostdeutschen mit aktuell ca. 14 Millionen. In relativ kurzer Zeit also hat sich ein markanter Wandel vollzogen, in den die Ostdeutschen allerdings erst seit 1990 einbezogen sind.

Wir wissen aus der Psychologie wie aus soziologischen Studien, dass Fremde und Fremdes erst einmal Befremden auslösen kann: Pluralität ruft, wenn sie Unbekanntes umfasst, auch Skepsis und Misstrauen hervor - zumindest bei jenen, die nicht daran gewöhnt sind. Und so lässt sich denn auch eine Verbindung herstellen zwischen der starken Fluchtbewegung der Jahre 2015/16 und einer durchgehenden Zunahme von Abwehr gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden in allen europäischen Ländern. Populisten konnten mit Fremdenangst und offen ausländerfeindlichen Parolen erhebliche Punkte sammeln und ihre bis dahin größten Wahlerfolge einfahren, in Deutschland schafften sie mit teils zweistelligen Wahlergebnissen den Sprung in Bundes- und Landesparlamente. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk sprach von einer "Rebellion gegen den Pluralismus".

Was an diesem Beispiel erkennbar wird, gilt allgemein. Regelmäßig erscheint in den Gesellschaften der Moderne ein Teil der Öffentlichkeit als Moderne-kritisch. Der Wandel ist für sie Bedrohung. Oft herrscht das Missverständnis, das Neue käme zum Alten einfach hinzu, eine plurale Gesellschaft sei mithin eine Addition von Verschiedenen. Als Addition von Verschiedenen aber würden sich genau jene Parallelgesellschaften herausbilden, die wir – wie ich denke: zu recht – ablehnen und zu verhindern trachten. Denn dann würde eine Gesellschaft völlig erodieren. Eine plurale Gesellschaft kann sich aber auch nicht dadurch auszeichnen, dass die Neuen und Schwachen sich den Alten und Starken einfach unterordnen. Das wäre Assimilation und bedeutete deren Selbstaufgabe. Wer in eine neue Gesellschaft eintritt, bringt alte Identitäten mit, die er zumindest zeitweilig beibehält und die auch auf andere ausstrahlen. Deshalb, sagt die Philosophin Isolde Charim, verändert die Pluralisierung uns alle. "Man kann heute nicht mehr dieselbe Art Deutscher oder Österreicher sein wie früher. (...) Keiner kann heute seine Kultur noch so leben, als ob es keine Kultur daneben gäbe (...) Heute gibt es keine Zugehörigkeit, die ihre Selbstverständlichkeit nicht gegen andere Selbstverständlichkeiten behaupten muss."

Dies zu begreifen empfinden viele Menschen allerdings als Zumutung, zumal sich die Ängste aufgrund von Migration vielfach verbinden mit der Verunsicherung, die durch mehrere (o.g.) Faktoren gleichzeitig ausgelöst wird. Für den Durchschnittsbürger stellt sich diese  Umgestaltung und damit verbundene Pluralisierung von Arbeitswelt, Informationswelt und sozialen Beziehungen als Gewinn heraus, wenn er zu jenen Bevölkerungsteilen gehört, die über Fremdsprachen verfügen, die in der neuen IT-Welt zu Hause sind, die sich schnell umorientieren und etwas Neues beginnen können. Bei vielen anderen aber sind die Angst vor dem sozialen Abstieg und eine diffuse Skepsis gegenüber der Zukunft eingekehrt, selbst wenn es ihnen augenblicklich noch gut geht. Noch andere – wie etwa die Arbeiter in Amerikas Rust Belt oder die Gelbwesten in Frankreich – sind bereits von den  negativen Seiten der Globalisierung und Digitalisierung erfasst. Es gibt also zweifellos Verlierer durch die Moderne, die sich ungestüm ihren Weg bahnt und große Teile trotz vieler neuer Möglichkeiten ratlos und verschüchtert zurücklässt.

Meine Damen und Herren,
je pluralistischer die Gesellschaft wird, desto größer die Notwendigkeit von Toleranz. Allerdings zeigt sich, dass sich die Toleranz der Menschen keineswegs automatisch mit zunehmender Vielfalt erweitert. Im Gegenteil. Toleranz kann wegen zunehmender Vielfalt sogar schrumpfen. Der große Liberale Ralf Dahrendorf hat diese Entwicklung schon  vor über 20 Jahren geahnt und gewarnt, dass der von vielen gewünschte Fortschritt anderen, weniger flexiblen Menschen nicht selten als Bedrohung erscheint. Er prognostizierte massive Gegentendenzen und hielt es für nicht unwahrscheinlich, dass Autoritarismus die Zukunft prägt - so wie es in den USA, aber auch in Polen und Ungarn sowie anderen europäischen Staaten tatsächlich zu beobachten war oder ist.

Wir stehen vor einer widersprüchlichen Entwicklung: Je schneller die einen vorangehen, desto mehr beginnen andere zu bremsen. Der Prozess fortschreitender Liberalisierung befördert gleichzeitig einen autoritären Populismus – und damit Intoleranz. Fragt sich aber: Warum hält die Entwicklung der Toleranz nicht Schritt? Was macht autoritäre Lösungen für einen Teil der Bürger so attraktiv?
Nach umfangreichen Recherchen kam der englische Journalist David Goodhard zu dem Ergebnis, dass sich die Bevölkerung in zwei große Gruppen einteilen lässt: die „Somewheres“ und die „Anywheres“. Bei den „Somewheres“ sehen wir das Bedürfnis, mit ihren Orten, ihren Milieus, ihren Familien verbunden zu bleiben. Sie schätzen die traditionelle Ordnung, sind mehr an Bewahren denn an Verändern interessiert, Sicherheit  ist für sie ein übergeordneter Wert. Die 20 bis 25 Prozent, die zu den Anywheres gehören, empfinden anders. Sie wollen vor allem Freiheit und Offenheit. Überspitzt könnte man sagen: Multikulti etwa ist für sie gelebter Alltag, den Somewheres hingegen gilt fremdes Treiben als Bedrohung. Und wenn die Anywheres immer neue Toleranz einfordern (für Homoehe, für Moscheebau, für Zuwanderung), fühlen sich die Somewheres überfordert. Aus Angst, die Beheimatung zu verlieren, antworten sie mit Intoleranz und Abschottung und suchen dann häufig Gegenautoritäten, um sich gegen die Fortschrittlichen zu wappnen. Forschungen aus dem angelsächsischen Raum, die sich  speziell den Somewheres widmeten, bestätigen Goodhearts politisch-psychologische Kategorisierung. Nach Studien (2005 und 2016) in 28 europäischen Ländern und den USA kam die australische Verhaltensökonomin Karen Stenner zu dem Ergebnis, dass 33 Prozent der Europäer und 44 Prozent der US-Amerikaner eine sogenannte autoritäre Disposition aufweisen. Für diese Menschen zählen vor allem „oneness“ und „sameness“: also eine möglichst hohe gesellschaftliche Einheit und eine möglichst hohe gesellschaftliche Gleichheit.

Differenz und Pluralität hingegen werden mit Skepsis, ja mit Angst und Ablehnung  beantwortet. Für Stenner ein entscheidenden Faktor für Intoleranz. Im Unterschied zu Theodor Adorno fünfzig Jahre zuvor will Stenner aber nicht von einem „autoritären Charakter“ sprechen. Denn – so ihre Erfahrung: Die autoritäre Disposition ist langlebig, aber sie ist „kein intrinsisches Übel – und: sie kann sich durchaus verändern – langsam. (Wobei äußere Gefahren oder Bedrohungen die Veränderung leicht wieder stoppen können.) Menschen mit autoritärer Disposition auszugrenzen, hält Stenner daher für einen gravierenden politischen Fehler. So würden sie nur den Extremisten in die Arme getrieben.
Hier empfiehlt sich ein Verweis auf Alexander Mitscherlich. Auch für ihn lag es auf der Hand, dass ein Mensch umso toleranter/offener sein kann, je weniger er das „Wagnis selbständigen Denkens“ fürchtet. Er setzt sich in Diskussionen größeren Risiken aus, vertraut mehr seinen Argumenten und Haltungen, ist gegebenenfalls aber auch bereit, seine Meinung zu korrigieren. Menschen mit schwachem Ich hingegen fürchten die Toleranz als existentielle Verunsicherung, vielleicht sogar als „Gefahr der Selbstauflösung, des Verlustes des eigenen Selbst“. Dann besteht die Gefahr, dass sie unter die Fittiche charismatischer Politiker oder religiöser  Führer flüchten und sich mit intoleranten und dogmatischen Glaubenssicherheiten identifizieren, um die Angst vor Selbstzweifeln und Unglauben zu verdrängen.

Einerseits waren die Forschungsergebnisse für mich frustrierend, hatte ich doch geglaubt, dass bei geduldiger und verständlicher Bildung und Aufklärung jeder Mensch gleichermaßen ein positives Verhältnis gegenüber Pluralität und Toleranz und der liberalen Demokratie entwickeln kann. Auf einen schnellen Sinneswandel bei Menschen autoritärer Prägung zu hoffen, musste ich nun als Illusion verwerfen. Andererseits bestätigten mich Stenners Schlussfolgerungen aber auch:  Wir dürfen die Toleranz gegenüber Menschen mit einer autoritären Disposition nicht vorschnell aufkündigen - gerade nicht in Zeiten von Wandel und Krise, wenn sich diese Disposition in einem Abwehrreflex verstärkt meldet.
Solange Auffassungen nicht extremistisch sind, den Gesetzen nicht widersprechen und sie keine Gefährdung für die Demokratie bilden, wäre es töricht - wie es augenblicklich nicht selten geschieht - Menschen in die Distanz zu treiben, indem man sie als rechts im Sinne von rechtsradikal diskriminiert, wenn sie sich rechts der Mitte positionieren. Es ist noch kein Rassist, wer Bedenken gegen  Einwanderung erhebt. Es ist auch noch kein Nationalist oder gar Faschist, wer eine positive Beziehung zu seiner Heimat pflegt. Solange diese Haltungen nicht nationalistisch aufgeladen werden und die Demokratie in Frage gestellt wird, sollte auf abweichende und unter Umständen auch radikale Meinungen nicht gleich mit Intoleranz, Ausschluss und Verbot reagiert werden. Denken Sie etwa an die radikale Studentenbewegung von 1968. Zugleich möchte ich nicht missverstanden werden: Wir brauchen gerade in Zeiten, in denen politische Morde unsere Gesellschaft erschüttern und das friedliche Miteinander bedrohen, eine klare intolerante Haltung  gegenüber der nicht-demokratischen Rechten.
Es gilt, sich beständig bewusst zu machen: Die Anhänger verschiedener politischer Optionen gehören als Gesellschaft zusammen, solange die Demokratie unser gemeinsames Bezugssystem bleibt. Ich befürworte eine so weit gefasste Toleranz, wenn man zugleich bereit ist, in eine substantielle Auseinandersetzung einzutreten. Selbst der Streit, der mit dem politischen Gegner entsteht, kann noch eine Form von Toleranz sein: kämpferische Toleranz. Diese Haltung macht das Gegenüber nicht zum Feind, der vernichtet werden muss. Dem Gegner wird mit Argumenten widersprochen, sollte er selber  ernsthafte Argumente anführen, werden diese geprüft und nicht schon deshalb verworfen, weil sie von der falschen Seite kommen. Selbst wenn ich von der Auffassung des Gegners zutiefst beunruhigt bin, ich sogar in Zorn und Wut verfalle, darf mein Kampf noch ein Quantum Zurückhaltung haben: ich möchte dich zwar besiegen, aber nicht vernichten, ich akzeptiere dein Recht auf eine abweichende Meinung. Die unangenehme Meinung zu früh als unmoralisch auszugrenzen und Kritik an unserer Demokratie vorschnell für faschistisch zu erklären, führt zu früh zu der in anderen Fällen erforderlichen Intoleranz und spaltet die Gesellschaft unnötig früh.

Meine Damen und Herren,
wir stehen unmittelbar vor einer wichtigen Bundestagswahl. Die Bedeutung ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass die seit 16 Jahren regierende Amtsinhaberin nicht mehr antritt. Der Wahlkampf ist für viele vielleicht enttäuschend verlaufen, aber er hat zugleich deutlich gemacht, dass unser Land vor großen Fragen steht, die von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind. Ich möchte hier nicht auf einzelne Politikbereiche eingehen. Sicher scheint mir doch: Die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie muss erhalten bleiben, auch wenn die vielfältigen innen- und außenpolitischen Herausforderungen – die nicht zuletzt transportiert über soziale Medien die Öffentlichkeit beschäftigen - zunehmen. Die traditionellen Volksparteien, die fast ein Jahrhundert Bestand hatten, verlieren an Unterstützung. Alte Bindungen von Abgeordneten an ihre Wählermilieus gingen verloren, weil sich die Milieus verändert haben. Noch ist unklar, ob es in Deutschland zu ähnlichen strukturellen Veränderungen der Parteienlandschaft kommt, wie etwa in Frankreich, Italien oder Spanien. Sie müssen auch nicht zwangsläufig zu einer Schwächung der liberalen Demokratie führen. Im günstigsten Fall können sie zu neuen Bindungen führen, Repräsentanzlücken  schließen und damit das System festigen. Klar ist aber auch: Die Fragilität nimmt zu.

Auch das Antlitz der Demokratie wandelt sich stark: Im digitalen Zeitalter hat sie ein anderes, ein moderneres Gesicht als im Industriezeitalter. Das Internet hat die Demokratie auf eine bisher nicht bekannte Weise demokratisiert, indem es eine direkte, unmittelbare Kommunikation schuf und nun alle mitreden können. Die Diskurs-Hegemonie der politischen Klasse ist aufgebrochen, Online-Aktivisten können unter Umständen mehr Einfluss entwickeln als etablierte Politiker. Andererseits hat das Internet die Demokratie  auch erheblich belastet, weil zivilisatorische Standards nicht beachtet wurden und Fake News, Desinformation, Intoleranz, Hass und Ressentiment alle vermittelnden Instanzen umgehen können. Ohne Internet hätten Verschwörungstheoretiker rund um den Globus niemals so breite Bekanntheit erlangt. Ohne Internet könnten Kreml- und Peking-freundliche „Troll-Farmen“ die Welt nicht millionenfach und gezielt mit Falschmeldungen überschwemmen, weil sie sich zunutze machen, was Forscher des MIT (Massachusetts Institute of Technology) nun bestätigt haben: Unwahrheiten verbreiten sich über Social Media-Plattformen deutlich schneller und weiter als Fakten.

Die Anfälligkeit für Fehlwahrnehmungen liegt schon in der menschlichen DNA begründet. Wir Menschen erleben echte Freude - einen messbaren Dopaminschub - wenn wir Informationen verarbeiten, die unsere Überzeugungen unterstützen. Geprüfte Informationen erhalten so durch ein Reich der Fiktionen verführerische Konkurrenz. Fakten und wissenschaftliche begründete Argumente sind dann nur noch eine von mehreren Interpretationsmöglichkeiten und eine sachliche, evidenzbasierte Debatte wird systematisch untergraben. In der Zeit der Pandemie sind wir alle Zeuge dieser Entwicklung geworden - bis hin zu Erfahrungen im Bekannten- und Freundeskreis. Sich dennoch mit Wissen und Fakten in öffentliche Debatten einzubringen, erfordert Kraft, Ausdauer und wohl auch Gelassenheit und nicht zuletzt Freude am wissenschaftlichen Diskurs.

Wir wissen es alle: Das Internet an sich ist nicht das Problem – bietet es doch großartige Möglichkeiten, sich zugunsten der liberalen Demokratie und auch der Wissenschaft zu verbinden und zu verbünden. Die Abläufe in den sozialen Medien in der aktuellen Form begünstigen aber allzu häufig nicht einen konstruktiven Diskurs, der für die  Demokratie so konstitutiv ist. Ich neige nicht zu Horrorszenarien, aber wir sollten die Gefahren, die aus in einem noch weitgehend unregulierten digitalen Raum für unsere Demokratie erwachsen, nicht unterschätzen. Gleichzeitig sollten wir allerdings auch die Möglichkeiten nicht verpassen, die sich durch eine digitale Vernetzung ergeben. Und da gibt es offenkundig Gründe für gesteigerte Bemühungen der politisch Verantwortlichen. Denn Deutschland ist nicht ausreichend digital-affin und verließ sich zu lange auf altbewährte Strukturen - gerade auch in der öffentlichen Verwaltung. Auch hier hat die Pandemie deutlich offen gelegt, was in den letzten  Jahren verschlafen wurde.

Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Demokratie erlaubt der Mehrheit politisches Handeln, aber sie gibt ihr nicht freie Hand im Sinne einer absoluten Hegemonie. Sie garantiert Minderheitenrechte, selbst dann wenn sich die Mehrheit ganz sicher ist, doch Recht zu haben. Einen einheitlichen "Volkswillen" gibt es in unserer liberalen Demokratie nicht. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel beschrieb in den 1950er Jahren die modernen westlichen Gesellschaften: nicht homogen, sondern heterogen. In ihnen existieren verschiedene, miteinander konkurrierende Gruppen, angefangen von Gewerkschaften, Vereinen und Parteien bis zu – würden wir heute sagen - Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen, ethnischen, sexuellen, religiösen Interessengruppen. Pluralismus, wie er hier als Grundlage einer liberalen Demokratie gesehen wird, ist gezeichnet von Diskurs und auch von Streit. Dem Staat kommt dabei die Aufgabe zu – ich zitiere Fraenkel – „im Rahmen der bestehenden differenzierten Gesellschaft zwischen den organisierten Gruppeninteressen einen Ausgleich zustande zu bringen, der zur Begründung eines reflektierten consensus zu führen geeignet ist.“ In der Spätmoderne feiern wir das  Singuläre,  das Individuelle, wie der Soziologe Andreas Reckwitz herausgearbeitet hat. Ich habe davon schon gesprochen: Unsere Gesellschaft hat sich mit Blick auf die Lebensstile, die Lebensmodelle ganz klar pluralisiert. Umso mehr brauchen wir für die Gestaltung der Demokratie das Gemeinsame, das Verbindende: Die Verbindung von Partikularinteressen und Gemeinschaft und einen allgemein akzeptierten Wertekodex, der in politischen Kontroversen als Richtschnur gilt. Nur so kann in der pluralisierten Welt von heute der Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt bleiben. Nur so kann das entstehen, was ich die Einheit in der Vielfalt nenne.

Damit das Miteinander der Verschiedenen gelingt, brauchen wir den Dialog und das Engagement von möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern, die politische Funktionsträger nicht stellvertretend für sich und anderen agieren lassen, sondern die sie stützen und tragen. Zu einer redlichen Debatte gehört übrigens, neben der Toleranz aller Beteiligten, auch die kritische Selbstreflexion. Der öffentliche Diskurs, Sie wissen es alle, er ist nie perfekt. Er ist es auch in den vergangenen Jahrzehnten nie gewesen.

„Eine gewisse Polarisierung ist normal, ja sogar gesund für eine Demokratie. Aber extreme Polarisierung kann sie zerstören.“ Zu diesem Schluss kommen Daniel Ziblatt und Steven Levitsky in einem aktuellen Aufsatz mit Blick auf die Situation in den USA. Sie verweisen darauf, dass „wer einen Sieg der anderen Seite als Katastrophe oder als völlig inakzeptabel ansieht, neigt dazu, außergewöhnliche Mittel zu rechtfertigen, um das zu verhindern: Gewalt, Wahlbetrug, Putsch.“ Der demokratische Diskurs kommt nicht ohne Normen aus.

Im Bundestagswahlkampf ist deutlich geworden: Eine Vielzahl von Bürgern wünscht sich einen Wandel – ja, aber innerhalb des Systems. Nicht wenige sind auch enttäuscht von der liberal-demokratischen Ordnung, weil sie mehr von ihr erwartet haben, und weil  sie  ihr immer noch mehr zutrauen als das, was sie augenblicklich leistet. Eben deswegen setzen sie ihre Hoffnungen nicht nur auf zivilgesellschaftliche Aktionen, Bewegungen und Proteste, sondern immer wieder - und gerade augenblicklich - auch auf Wahlen. Mögen Wahlen von manchen auch als unzureichende Partizipationsmöglichkeit kritisiert werden, so zeigt sich doch auch, dass Wahlen zu aktivieren vermögen; sie nähren die Hoffnung auf bessere Ergebnisse für die jeweils präferierte Partei. Sie wecken die Hoffnung auf neue Sieger und Verlierer, auf neue Koalitionen und damit neue politische Prioritäten. Sie wecken die Hoffnung auf  beständige Erneuerung.

Um solche Hoffnungen nicht zu enttäuschen, sollte Politik entschiedener und effektiver werden. Getragen von Politikern, die es riskieren, mit ihren Vorstellungen nicht von allen gemocht zu werden, die aber mit starken Argumenten für ihre Zukunftsvorstellungen werben und sich den Herausforderungen der nächsten Zeit offensiver stellen. Die Herausforderungen sind heute schon gewaltig. Dies spüren wir insbesondere mit Blick auf die Bewältigung der Klimakrise und beim Umgang mit dem Megathema Digitalisierung und der Zukunft der Europäischen Union in einer immer unübersichtlicher werdenden Weltordnung.

Die Demokratie muss besonders in Zeiten des forcierten Wandels gute Ergebnisse liefern, damit sie die ohnehin großen Fliehkräfte der Gesellschaft nicht noch verstärkt. Natürlich ist die Demokratie die Gesellschaftsform, in der möglichst viele Bürger auf die eine oder andere Weise partizipieren. Aber ohne dass die Kraft und der Wille zur Kursbestimmung in der gewählten Führung deutlich erkennbar werden, ist die Demokratie wie eine Mannschaft ohne Kapitän.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich weiß, dass den Bürgern Zumutungen nicht erspart bleiben werden und dass Viele durch den tiefgreifenden Wandel unserer  Gesellschaft verunsichert sind. Ich weiß, dass es nicht allen Teilen der Bevölkerung leicht fällt, sich dem Fortschritt zu stellen und dabei die Risiken nicht zu fürchten. Ich weiß um die anthropologische Konstante der Furcht vor der eigenen Autonomie, der eigenen Verantwortung, letztlich der Furcht vor der Freiheit. Aber ich weiß natürlich auch: Es existiert ebenfalls jene andere anthropologische Konstante: die unauslöschliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Freiheit und lebenswertem Leben. Und deswegen lernen es Menschen immer wieder, die in ihnen angelegte Fähigkeit zur Eigenverantwortung und zur Bezogenheit aufeinander wachzurufen und  sich solidarisch miteinander zu verbinden. Das gilt in besonderer Weise für Sie als Johanniter. Aus dieser Fähigkeit sind unsere Demokratie und unsere robuste Zivilgesellschaft erwachsen, aufgrund dieser Fähigkeit hat sich unsere Demokratie immer wieder verändert. Demokratie ist also nicht, Demokratie ist immer im Werden begriffen. Sorgen wir also miteinander dafür, dass dieses Werden unter uns lebendig bleibt!