Digitale 2. Vorlesung anlässlich der Johannes Gutenberg-Stiftungsvorlesung
22. Juni 2021
„Die offene Gesellschaft und die Grenzen der Toleranz“
Änderung vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Warum möchte ich über Toleranz in einer Reihe sprechen, die sich der Bedrohung der Demokratie widmet? Ganz einfach: Weil Toleranz eine Grundbedingung der Demokratie ist und Demokratie ohne Toleranz nicht existieren kann.Deshalb soll heute die Rede sein von jener menschenmöglichen Haltung, die als Tugend gerühmt, schnell eingefordert, oft schwer zu leben, aber zum Überleben unseres Gesellschaftssystems unerlässlich ist.
Vor 30 Jahren, als sich die Welt des Ostens so drastisch und erfreulich änderte und die Demokratie nach langen Jahrzehnten endlich auch meine Lebensform wurde, hätte ich allerdings nicht gedacht, dass ich über Toleranz neu und überhaupt nachzudenken hätte. Toleranz erschien mir in der Demokratie selbstverständlich. Den Defiziten, die im Alltag zweifellos auch sichtbar waren, widmete ich keine besondere Aufmerksamkeit, Intoleranz schien keine politische Gefährdung. Doch dann erlebte ich in den letzten Jahren diese oft beschriebene (Un)Kultur einer forcierten Rechthaberei, eine Verrohung von Sprache und Sitten, Hass, der sich auf den Straßen und besonders im Netz immer ungenierter zeigte. Sogar Mordtaten rechtsextremistischer Verbrecher oder islamistischer Terroristen erschütterten das friedliche Miteinander der Menschen. Nach den Morden des NSU, dem Mord an Walter Lübcke, nach Hanau, Halle, Berlin und Dresden frage ich mich wie wohl die Mehrheit der Menschen: Was ist geschehen in diesem Land, woher kommen so viel Intoleranz und Hass?
Und noch etwas beunruhigte mich und viele Bürger: das Aufwachsen einer Partei am rechten Rand, die zu wenig darauf achtet, ob sie mit Demokratiefeinden gemeinsame Sache macht. Müsste eine solche Partei, die in Teilen vom Verfassungsschutz beobachtet wird, nicht verboten werden? Kann man denn tolerieren, was man ablehnt?
Jedenfalls ist mir seit einigen Jahren klar, dass Toleranz auch in einer Demokratie keineswegs selbstverständlich ist und wir ihr eine weit größere Aufmerksamkeit widmen müssen.
Das führte zu dem Buch „Toleranz – einfach schwer“, das ich zusammen mit Helga Hirsch 2019 im Herder-Verlag herausbrachte, und auf das ich mich bei meinen Ausführungen im Wesentlichen beziehe.
Als erstes ist mir bei der Beschäftigung mit dem Thema Toleranz aufgefallen, dass keine verbindliche Definition existiert und Verschiedene Verschiedenes darunter verstehen. Als zweites habe ich gemerkt, dass ich durch meine DDR-Biographie ein etwas anderes Verhältnis zu Toleranz und Intoleranz habe als Westdeutsche, denn – zugespitzt formuliert -: Intoleranz erschien mir keineswegs generell negativ und verurteilenswert, sondern teilweise durchaus positiv. Intern – das habe ich selbstverständlich in der Familie und im Freundeskreis gelernt - ist Toleranz geboten, nicht zuletzt aus christlichen Gründen.
Draußen hingegen, im öffentlichen Raum, war Intoleranz angesagt. Jedenfalls wenn man wie meine Familie aus einem Umfeld kam, das freiheitlich dachte. Wir lehnten das System ab, diese Diktatur, die eine „schwarze Pädagogik“ in Rot praktizierte und mit dem gebieterischen Gestus der Herrschenden verlangte:
Sieh die Welt wie wir!
Sprich so, wie wir es für richtig halten!
Handle so, wie wir es wollen!
Ein derart intoleranter Überwältigungsgestus wurde von den Freiheitsliebenden natürlicherweise mit Intoleranz beantwortet. Als die kommunistische Überwältigungskultur dann aber überwunden war und wir Ostdeutschen Teil der europäischen Demokratiegeschichte wurden, mussten wir den Umgang mit Toleranz im öffentlichen Raum also erst lernen: Lernen, die Differenz / Pluralität / Diversität nicht zu unterdrücken oder durch eine Pseudo-Harmonie zu überdecken, sondern zu berücksichtigen und auszuhalten. „Toleranz macht Differenz möglich“, las ich beim amerikanischen Intellektuellen Michael Walzer, aber „Differenz macht Toleranz (auch) notwendig“. Wir mussten also lernen, mit Andersdenkenden zu diskutieren und nach politischen Kompromissen zu suchen, und den politischen Gegner nicht sofort als Feind zu betrachten, von dem man sich fernhält oder den man nur bekämpft. Schließlich mussten wir lernen, uns innerlich nicht abzuschotten, die neue gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt nicht nur als bedrohlich wahrzunehmen, sondern in der Offenheit die Chance für Entwicklung zu sehen.
Nicht allen ist dies in gleicher Weise gelungen. Wir waren an den Umgang mit der Diversität unterschiedlicher politischer Programme ja nicht gewöhnt, eine Debattenkultur war nicht eingeübt worden – Pluralismus war in den sozialistischen Staaten nicht erwünscht. Wir waren zudem eine fast gänzlich homogene Gesellschaft – kaum jemand hatte Kontakt zu „Anderen“, etwa zu den abgeschotteten vietnamesischen Arbeitern. Wir kannten auch keinen offenen Umgang mit Homosexuellen, Kultur und öffentliches Leben waren nicht von Vielfalt und Offenheit, sondern von Enge und Dirigismus geprägt. So begann für die meisten erst mit der Freiheit und noch stärker nach der Einheit die faktische Einübung in eine umfassendere Toleranz.
Das Leben inmitten einer verunsichernden Verschiedenheit ist allerdings nicht etwas, das Bevölkerungen automatisch „können“. Bis heute fällt vielen Bürgern im Osten Deutschlands das Zusammenleben mit Wessis oder Syrern, diversen sexuellen Orientierungen oder Muslimen oder Weltbürgern immer noch schwerer als im Westen. Andere und Anderes tolerieren zu lernen, ist ein anstrengender Prozess. Er beansprucht Zeit und hat in der frühesten Kindheit einzusetzen.
Zu Beginn des Lebens, so der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, drängen Kinder noch ganz selbstbezogen und rücksichtslos auf Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Ein Baby wartet nicht ab, bis die Mutter mit ihrer Arbeit fertig ist, sondern es schreit, wenn es hungrig ist. Schritt für Schritt lernen junge Menschen dann aber, die eigenen Bedürfnisse zugunsten eines besonnenen, sozialen Verhaltens zumindest zeitweise zurückzustellen und sich zu gedulden. Ohne die Fähigkeit zu Selbstbeherrschung und Affektkontrolle könnten Menschen keine Konfliktvermeidung einüben und schließlich sogar in eine Spirale der Gewalt geraten. Insofern ist Toleranz immer mit einer kleineren oder größeren Selbstüberwindung verbunden. Sie ist eine zivilisatorische Leistung, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Toleranz fordert, die Andersartigkeit eines Anderen auszuhalten, obwohl mich seine Meinung, sein Verhalten, sein Lebensstil, unter Umständen ganz einfach seine Existenz irritieren, ärgern oder gar wütend machen – auf jeden Fall: stören. Toleranz ist insofern eine Zumutung.
Sie ist – anders, als oft unterstellt – gerade nicht identisch mit Gleichgültigkeit, Desinteresse oder Laissez-faire. Ein oft genanntes Beispiel ist Friedrich II.: Er hielt nichts von traditionellen religiösen Ritualen und bedachte sie nicht selten mit sarkastischen Kommentaren. Dennoch respektierte er die Glaubensfreiheit und erklärte, jeder solle nach seiner Facon selig werden. Seine Toleranz gegenüber den Glaubensgemeinschaften war wahrscheinlich wohl eine Folge aufklärerischen Denkens und politischer Vernunft.
Und hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Kennzeichen der Toleranz. Etwas zu tolerieren bedeutet nicht automatisch, etwas auch wertzuschätzen. Wer etwa im Islam eine gewalttätige und dogmatische Religion sieht, wird als Christ oder Humanist seine eigene ethische oder religiöse Bindung für wertvoller erachten. Die Gleichberechtigung von Muslimen, Christen, Juden, Atheisten in der Demokratie, die allen die Freiheit der Religionsausübung garantiert, heißt nicht, dass die Inhalte, Ziele und Urteile ihrer Religionen als gleichwertig erachtet werden müssen.
Ich halte es insofern für problematisch, wie Toleranz 1995 von den Mitgliedstaaten der UNESCO definiert wurde. In der Erklärung heißt es: „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt.“ Nein, sage ich dazu.
Toleranz bedeutet keineswegs, dass wir alle Kulturen gleichermaßen zu achten hätten. Ich will beispielsweise keine Kultur gutheißen, die menschenverachtend, rassistisch, frauenfeindlich oder auf andere Weise politisch intolerant ist. Ich kann zwar noch dulden, was ich aus Gründen der Gleichberechtigung hinzunehmen habe, aber niemand kann mich zwingen, auch noch gutzuheißen, was ich kritisiere oder unter Umständen sogar verachte. Also: Duldung – ja, sie ist erforderlich und menschenmöglich; wertschätzende Anerkennung – nein, sie übersteigt die menschliche Psyche und ist realitätsfern.
Toleranz wird deshalb nicht selten auf eine friedliche Koexistenz hinauslaufen: eine friedliche Kooperation Kontrahenten, da sie nützlicher und realitätsgerechter ist als Aggression oder gar Krieg. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass auch Goethes Verständnis von Toleranz nicht meine Zustimmung finden kann. „Toleranz – sagte er – sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Ja, vielleicht wird jemand eine Duldung als Beleidigung empfinden. Das lässt sich nicht ausschließen. Aber die wichtige Aufgabe von Toleranz besteht doch gerade darin, dass sie wenigstens Duldung fordert, wenn eine wertschätzende Anerkennung nicht möglich ist. Es wäre beispielsweise eine heillose Überforderung eines Katholiken, wenn er die gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch gut heißen sollte, obwohl er Abtreibung immer als Tötung oder Mord erachten wird.
Allerdings: Toleranz existiert auch als Respekt und Anerkennung. Jeder und jede von Ihnen dürfte diese Form der Toleranz kennen: Als Respekt für eine andere Denk- und Lebensart, die in sich konsistent, authentisch und ehrlich ist – aber eben nicht die meine. Entweder bin ich unter anderen Umständen aufgewachsen, so dass mir der Lebensstil des Anderen fremd ist. Oder ich setze andere Prioritäten, habe einen anderen Glauben und gelange daher zu anderen Schlussfolgerungen. Dennoch können mir das Denken und die Haltung des Anderen Respekt und Achtung abnötigen, selbst wenn ich ihm nicht bis ins Detail folge. So funktioniert beispielsweise die christliche Ökumene.
Nicht vergessen möchte ich schließlich Toleranz aus Liebe. Wer hat es nicht beobachtet: Eltern oder Ehepartner sind in der Regel bereit, gegenüber Kindern oder Partnern weit mehr Toleranz zu üben als gegenüber Fremden. Sie zeigen mehr Geduld und ertragen selbst Verhaltensweisen, die bei anderen zum Kontaktabbruch führen würden. Diese Fähigkeit zu einer Toleranz aus Liebe scheint dem Menschen mitgegeben, „biologisch vorbereitet“ wie Mitscherlich sagt, ich wüsste nicht, wie wir sie lernen könnten. Sie ist einfach ein Geschenk. Und sie hat alle Zeiten überdauert.
Wie stark hingegen Machtverhältnisse und Leitnarrative die Vorstellungen und die Ausprägungen von Toleranz beeinflussen, zeigt ein Blick in die Geschichte. Solange etwa Kaiser, Könige oder Fürsten nach dem Motto handelten: „Ein Gott, ein Glaube, ein Gesetz, ein König“, war Toleranz einzig und allein von der Gnade der Herrscher abhängig; es handelte sich um Duldung in einem Abhängigkeitsverhältnis. Der Herrscher konnte in einem Akt vertikaler Toleranz den Freiheitsspielraum für Andersgläubige erweitern, ihn aber auch wieder verengen oder beenden.
In der Demokratie, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert mit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Französischen Revolution entwickelte, ist aus der obrigkeitsstaatlichen Toleranz eine horizontale Toleranz formal Gleichberechtigter geworden, die jedem Bürger gleiche Rechte zugesteht: Schließlich systemübergreifend für alle Menschen in der Menschenrechtscharta nach dem Zweiten Weltkrieg festgehalten.
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Verständnis von Toleranz nun noch einmal erweitert. Heute meint Toleranz auch den Schutz von ethnischen, rassischen, sexuellen, „diversen“ und anderen Minderheiten, die Merkmale neben der jeweiligen Norm aufweisen. Diese Erweiterung trägt nicht nur einer gewachsenen Sensibilität gegenüber Diskriminierung Rechnung, sie ist auch Reaktion auf eine zunehmend diverser werdende Welt. Deutschland ist beispielsweise eine Einwanderungsgesellschaft geworden, wir leben mit anderen Ethnien, anderen Religionen, anderen Kulturen, anderen Lebensformen, anderen Hautfarben zusammen. Die Diversität / Pluralität hat in unserem Alltag rasant zugenommen. In dieser Situation sind der Wille und die Bereitschaft der Menschen zur Toleranz besonders herausgefordert.
Denn - wir haben es oben ausgeführt - je pluralistischer die Gesellschaft wird, desto größer die Notwendigkeit von Toleranz. Allerdings zeigt sich, dass sich die Toleranz der Menschen keineswegs automatisch mit zunehmender Vielfalt erweitert. Im Gegenteil. Toleranz kann wegen zunehmender Vielfalt sogar schrumpfen. Der große Liberale Ralf Dahrendorf hat diese Entwicklung schon vor über 20 Jahren geahnt und gewarnt, dass der von vielen gewünschte Fortschritt anderen, weniger flexiblen Menschen nicht selten als Bedrohung erscheint. Er prognostizierte massive Gegentendenzen und hielt es für nicht unwahrscheinlich, dass Autoritarismus die Zukunft prägt - so wie es in den USA, aber auch in Polen und Ungarn sowie anderen europäischen Staaten tatsächlich zu beobachten war oder ist.
Wir stehen vor einer widersprüchlichen Entwicklung: Je schneller die einen vorangehen, desto mehr beginnen andere zu bremsen. Der Prozess fortschreitender Liberalisierung befördert gleichzeitig einen autoritären Populismus – und damit Intoleranz.
Fragt sich aber: Warum hält die Entwicklung der Toleranz nicht Schritt? Was macht autoritäre Lösungen für einen Teil der Bürger so attraktiv?
Nach umfangreichen Recherchen kam der englische Journalist David Goodhard zu dem Ergebnis, dass sich die Bevölkerung in zwei große Gruppen einteilen lässt: die „Somewheres“ und die „Anywheres“. Bei den „Somewheres“ sehen wir das Bedürfnis, mit ihren Orten, ihren Milieus, ihren Familien verbunden zu bleiben. Sie schätzen die traditionelle Ordnung, sind mehr an Bewahren denn an Verändern interessiert, Sicherheit ist für sie ein übergeordneter Wert.
Die 20 bis 25 Prozent, die zu den Anywheres gehören, empfinden anders. Sie wollen vor allem Freiheit und Offenheit. Multikulti etwa ist für sie gelebter Alltag, den Somewheres hingegen gilt fremdes Treiben als Bedrohung. Und wenn die Anywheres immer neue Toleranz einfordern (für Homoehe, für Moscheebau, für Einwanderung), fühlen sich die Somewheres überfordert.
Aus Angst, die Beheimatung zu verlieren, antworten sie mit Intoleranz und Abschottung und suchen dann häufig Gegenautoritäten, um sich gegen die Fortschrittlichen zu wappnen.
Forschungen aus dem angelsächsischen Raum, die sich speziell den Somewheres widmeten, bestätigen Goodhearts politisch-psychologische Kategorisierung. Nach Studien (2005 und 2016) in 28 europäischen Ländern und den USA kam die australische Verhaltensökonomin Karen Stenner zu dem Ergebnis, dass 33 Prozent der Europäer und 44 Prozent der US-Amerikaner eine sogenannte autoritäre Disposition aufweisen. Für diese Menschen zählen vor allem „oneness“ und „sameness“: also eine möglichst hohe gesellschaftliche Einheit und eine möglichst hohe gesellschaftliche Gleichheit.
Differenz und Pluralität hingegen werden mit Skepsis, ja mit Angst und Ablehnung beantwortet. Für Stenner ein entscheidenden Faktor für Intoleranz. Im Unterschied zu Theodor Adorno fünfzig Jahre zuvor will Stenner aber nicht von einem „autoritären Charakter“ sprechen. Denn – so ihre Erfahrung: Die autoritäre Disposition ist langlebig, aber sie ist „kein intrinsisches Übel – und: sie kann sich durchaus verändern – langsam. (Wobei äußere Gefahren oder Bedrohungen die Veränderung leicht wieder stoppen können.) Menschen mit autoritärer Disposition auszugrenzen, hält Stenner daher für einen gravierenden politischen Fehler. So würden sie nur den Extremisten in die Arme getrieben.
Hier empfiehlt sich noch einmal ein Verweis auf Alexander Mitscherlich. Auch für ihn lag es auf der Hand, dass ein Mensch umso toleranter/offener sein kann, je weniger er das „Wagnis selbständigen Denkens“ fürchtet. Er setzt sich in Diskussionen größeren Risiken aus, vertraut mehr seinen Argumenten und Haltungen, ist gegebenenfalls aber auch bereit, seine Meinung zu korrigieren. Menschen mit schwachem Ich hingegen fürchten die Toleranz als existentielle Verunsicherung, vielleicht sogar als „Gefahr der Selbstauflösung, des Verlustes des eigenen Selbst“.
Dann besteht die Gefahr, dass sie unter die Fittiche charismatischer Politiker oder religiöser Führer flüchten und sich mit intoleranten und dogmatischen Glaubenssicherheiten identifizieren, um die Angst vor Selbstzweifeln und Unglauben zu verdrängen.
Einerseits waren die Forschungsergebnisse für mich frustrierend, hatte ich doch geglaubt, dass bei geduldiger und verständlicher Bildung und Aufklärung jeder Mensch gleichermaßen ein positives Verhältnis gegenüber Pluralität und Toleranz und der liberalen Demokratie entwickeln kann. Auf einen schnellen Sinneswandel bei Menschen autoritärer Prägung zu hoffen, musste ich nun als Illusion verwerfen. Andererseits bestätigten mich Stenners Schlussfolgerungen aber auch: Wir dürfen die Toleranz gegenüber Menschen mit einer autoritären Disposition nicht vorschnell aufkündigen - gerade nicht in Zeiten von Wandel und Krise, wenn sich diese Disposition in einem Abwehrreflex verstärkt meldet.
Solange Auffassungen nicht extremistisch sind, den Gesetzen nicht widersprechen und sie keine Gefährdung für die Demokratie bilden, wäre es töricht - wie es augenblicklich nicht selten geschieht -, Menschen in die Distanz zu treiben, indem man sie als rechts im Sinne von rechtsradikal diskriminiert, wenn sie sich rechts der Mitte positionieren. Es ist noch kein Rassist, wer Bedenken gegen Einwanderung erhebt. Es ist auch noch kein Nationalist oder gar Faschist, wer eine positive Beziehung zu seiner Heimat pflegt. Solange diese Haltungen nicht nationalistisch aufgeladen werden und die Demokratie in Frage gestellt wird, sollte auf abweichende und unter Umständen auch radikale Meinungen nicht gleich mit Intoleranz, Ausschluss und Verbot reagiert werden. Denken Sie etwa an die radikale Studentenbewegung 1968.
Es gilt, sich beständig bewusst zu machen: Die Anhänger verschiedener politischer Optionen gehören als Gesellschaft zusammen, solange die Demokratie unser gemeinsames Bezugssystem bleibt.
Ich befürworte eine so weit gefasste Toleranz, wenn man zugleich bereit ist, in eine substantielle Auseinandersetzung einzutreten. Selbst der Streit, der mit dem politischen Gegner entsteht, kann noch eine Form von Toleranz sein: kämpferische Toleranz. Diese Haltung macht das Gegenüber nicht zum Feind, der vernichtet werden muss. Dem Gegner wird mit Argumenten widersprochen, sollte er selber ernsthafte Argumente anführen, werden diese geprüft und nicht schon deshalb verworfen, weil sie von der falschen Seite kommen. Selbst wenn ich von der Auffassung des Gegners zutiefst beunruhigt bin, ich sogar in Zorn und Wut verfalle, darf mein Kampf noch ein Quantum Zurückhaltung haben: ich möchte dich zwar besiegen, aber nicht vernichten, ich akzeptiere dein Recht auf eine abweichende Meinung. Die unangenehme Meinung zu früh als unmoralisch auszugrenzen und Kritik an unserer Demokratie vorschnell für faschistisch zu erklären, führt zu früh zu der in anderen Fällen erforderlichen Intoleranz und spaltet die Gesellschaft unnötig früh.
Ich bin in diesem Zusammenhang relativ früh auf die Überlegungen von John Stuart Mill gestoßen. Kaum jemand hat die individuelle Freiheit und die damit verbundene Notwendigkeit von Toleranz so verteidigt, wie dieser Klassiker des englischen liberalen und sozialen Denkens im 19. Jahrhundert. Für Mill bildeten eine möglichst wenig begrenzte Freiheit und die damit notwendige Tolerierung großer Vielfalt eine unerlässliche Voraussetzung für das Erkennen von Wahrheit. Menschen sind nicht unfehlbar, auch vermeintlich schädliche Ansichten können sich als wahr und vermeintlich wahre Ansichten als korrekturbedürftig erweisen. Selbst wenn Meinungen offenkundig falsch seien - so Mill -, läge in ihrer Tolerierung noch ein Wert, weil sich in der Abgrenzung von ihnen die eigene Meinung schärfen ließe. Außerdem könne gesichertes Wissen schnell zu einem Dogma erstarren. Gegen die „Anmaßung der Unfehlbarkeit“ setzte Mill die Offenheit für das Gegenargument und den Mut zur Selbstkorrektur – sprich: die Toleranz.
Eine Toleranz, die getragen sein sollte von furchtlosen Charakteren und unerschütterlichen Geistern. Für John Stuart Mill gab es nur einen einzigen Grund, der die Menschheit befuge, die Handlungsfreiheit eines Individuums zu begrenzen, der ist: um „sich selbst zu schützen“ bzw. um die „Schädigung anderer zu verhüten“. Ansonsten spricht er sich gegen jeden Zwang gegenüber dem Individuum aus, sei es von Seiten des Staates oder der öffentlichen Meinung. Er will keinen „Zuchtmeister“, keine „geistige Beherrschung“, keine „Zwangsherrschaft“, niemanden, der anderen „Lebensregeln“ auferlegt. Methoden des „heilsamen Zwangs“, wie ihn große Kirchenlehrer glaubten, anwenden zu dürfen, lehnte er rundheraus ab.
Auf eine Art des „heilsamen Zwangs“ setzte hingegen Herbert Marcuse, als er in den 1960er Jahren in den USA seine Theorie der „repressiven Toleranz“ entwickelte. Er unterschied zwischen einer Toleranz, die guten, fortschrittlichen Zielen diene und einer Toleranz, die abgelehnt werden müsse, weil sie aggressiver Politik, Chauvinismus und Diskriminierung diene. Marcuse wollte „rückschrittlichen Bewegungen“ die Toleranz entziehen, „ehe sie aktiv werden können“. Und er billigte einer angeblich ohnmächtig gewordenen Opposition ein „Widerstandsrecht“ zu, „das bis zum Umsturz geht“.
Für mich hat ein anderer linker Denker, Noberto Bobbio, darauf das Richtige gesagt: Es sei „inakzeptabel, gegen eine repressive eine emanzipatorische Toleranz ins Feld zu führen“. Dies bedeute nämlich schlicht, die „eine Form der Intoleranz durch eine andere zu ersetzen“. Toleranz fordere Rechte für die andere Position mit ein. Und sie ende erst bei denjenigen, „die dasjenige Prinzip der Toleranz leugnen“.
In einer Welt zunehmender Diversität und nach dem desaströsen Ende des Kommunismus sollte man meinen, dass die Forderung nach einer repressiven Toleranz in den liberalen Gesellschaften endgültig verspielt hat. Aber zu meiner Überraschung ist sie in völlig neuem Kleid wieder auferstanden. Nicht als Druck des Staates oder einer autoritären Partei, sondern als Druck aus der Gesellschaft heraus. Schon Alexis de Tocqueville wusste um die Gefahr einer „Tyrannei der Mehrheit“ in einer Demokratie: um die Macht eines moralischen Anspruchs, der das angeblich Richtige vorgibt und auf eine soziale Konformität im Meinen und Empfinden drängt. „In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken“, schrieb Tocqueville, nachdem er das Land fast ein Jahr lang bereist hatte (1831/32). „Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei, aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt!“
Heute nun zeigt sich, dass es nicht einmal eine Mehrheit braucht, um eine derartige soziale Tyrannei auszuüben. Bereits eine elitäre Minderheit konnte in Amerika und zunehmend auch Europa einen massiven Druck auf die Freiheit des Denkens und Empfindens aufbauen. Noch nicht gegenüber der Mehrheit der Gesellschaft – die allermeisten Menschen in Deutschland halten beispielsweise nichts von gendergerechter Sprache. Aber im Bereich von Universitäten, Kultur und Medien haben die sogenannte Wokeness und die Identitätspolitik nicht wenige Anhänger gefunden. Nun ließe sich gegen Wokeness nichts sagen, wenn sie auf mehr Achtsamkeit und Sensibilisierung, eben mehr Toleranz gegenüber ethnischen, religiösen, sexuellen Minderheiten zielte – unsere Gesellschaft hat auf diesem Feld einiges zu lernen. Aber inzwischen ist die wokeness selbst ein Instrument einer elitären Hypermoral und sogar der Intoleranz und Diskriminierung geworden – von Mehrheiten, von Weißen, von Männern. Der alte weiße Mann ist zum Feindbild schlechthin avanciert.
Die größte Errungenschaft der Aufklärung gerät damit in Gefahr. Entsprechend der Aufklärung sind alle Menschen gleich und frei, und jedes Individuum ist der Gestalter seines Lebens. Die Identitätspolitik aber ordnet den Menschen automatisch einem Kollektiv zu – und praktiziert damit eben jenen Rassismus, den sie zu bekämpfen vorgibt, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Nun gehören Schwarze und „Persons of colour“ automatisch zu den unterdrückten, kolonisierten Guten, die Weißen hingegen generell zu den unterdrückenden, kolonisierenden Bösen. Weißsein wird zu einer Art Erbsünde, der Weiße jenseits jeder persönlichen Schuld zum Vertreter eines Unrechtsregimes, Rassismus eine Haltung, die allein den Weißen eigen ist. Der Gegensatz zwischen Weißen und Schwarzen wird dabei zu der zentralen historisch-politischen Kategorie.
Eine derartige Kategorisierung ist eine völlig unzulässige Verengung und Verfälschung der Geschichte. Denn zum einen werden in dieser Sichtweise die Aggressionen, Versklavungen und Kolonisierungen ganz oder teilweise ausgeblendet, die von Persons of Colour ausgingen und ausgehen - etwa von Arabern, die lange vor den Weißen Teile Europas, Asien und Afrikas kolonisiert und Sklavenhandel betrieben haben. Und zum anderen wird die Tatsache geleugnet oder relativiert, dass die Mehrheit der Weißen in der Geschichte zu den Unterdrückten gehörte - denken Sie allein im 20. Jahrhundert an die vielen Millionen, die im Gulag verschwanden oder durch den Holocaust umkamen. Die Reduktion der Menschheit auf das Schwarz-Weiß-Schema vergewaltigt aber auch das Individuum. Wer sagt denn, dass die Hautfarbe die bestimmende Kategorie für die individuelle Identität ist und die primäre Gruppenzugehörigkeit eines jeden Menschen vorgibt? Ist das Individuum nicht vielschichtig, nicht auch Mann oder Frau oder divers, Arbeiter oder Intellektueller, Bienenzüchter oder Fußballfan, Linker oder Nationalist?
Der Schriftsteller Amin Maalouf, im Libanon geboren und seit 1976 in Frankreich lebend, ist jedenfalls der Meinung: Sobald man seine Identität als Summe vielfältiger Zugehörigkeiten begreift und bei sich selbst diverse Vermischungen, diverse Schnittmengen, unterschiedliche und widersprüchliche Einflüsse erkennt, entsteht ein anderes Verhältnis zu den Anderen und zum eigenen „Stamm“. Es „gibt auf unserer Seite Personen, mit denen ich letztendlich sehr wenig gemein habe, und Personen auf der anderen Seite, denen ich mich zutiefst verbunden fühlen kann.“ Für Vertreter der Identitätspolitik sind derartige Koalitionen, die nicht aufgrund von Farbe, sondern aufgrund von Haltung entstehen, gar nicht erwünscht. Oder nur, wenn Weiße zuvor ihr Bewusstsein von Schuld und das Gefühl von Scham unter Beweis gestellt haben. Die weiße Künstlerin Dana Schulz aber, die aus eigener Initiative und aus Mitgefühl ein Bild über einen von Rassisten zu Tode geprügelten schwarzen Jugendliche malte, wurde der kulturellen Aneignung geziehen. Weiße sollten sich fernhalten, lautet die Botschaft, nur Schwarze seien befugt, über schwarze Befindlichkeiten Auskunft zu geben. Das spricht nicht nur jeder Toleranz Hohn, das trägt bereits Züge moralischer und politischer Erpressung. Mich erinnert dies an die demütigenden Prozeduren der Selbstkritik in kommunistischen Parteien. So kann kein gesellschaftlicher Zusammenhalt entstehen.
Für die Verfechter der Identitätspolitik ist zudem der Schutz von Minderheiten wichtiger als die Verteidigung der universalen Menschenrechte. Für sie zählt die Loyalität gegenüber dem Clan/der Kaste/dem Stamm/der Familie mehr als der Rechtsstaat. Da werden bei eingewanderten Menschen andere Maßstäbe angelegt als bei Alteingesessenen – angeblich um nicht fremdenfeindliche Gefühle anzustacheln. Da wird Nachsicht gegenüber Minderheiten gefordert, auch wenn diese intolerant, menschenverachtend oder kriminell handeln - weil sie selbst Opfer von Diskriminierung sind.
Für mich handelt es sich aber ganz schlicht um falsche Toleranz, wenn Antisemitismus – von muslimischen Milieus artikuliert – nicht oder verspätet thematisiert wird. Wenn kulturell bedingte Frauenbilder, die die Würde und Rechte von Frauen und Mädchen verletzen, nicht problematisiert oder bekämpft werden. Wenn Homophobie und Demokratieverachtung von Zugewanderten nicht in gleicher Weise angeprangert werden, wie es bei der Mehrheitsbevölkerung der Fall ist. Auch ein Opfer von Intoleranz kann selbst intolerant sein.
Liebe Zuhörerinnen und Zuschauer,
mir ist bewusst, dass ich mit der Kritik an Wokeness, Identitätspolitik und critical whiteness auf das Feld heikler aktueller Auseinandersetzungen geraten bin. Aber da in unseren Universitäten die Hauptauseinandersetzungen zu diesem Komplex stattfinden, wollte ich dazu nicht schweigen. Mein Protest gegen diese aus den USA kommenden Bewegungen ist der eines Anhängers der offenen Gesellschaft, er ist im Sinne von Dahrendorf, Marc Lilla, Francis Fukuyama - um nur einige zu nennen - im Kern liberal. Interessant ist, dass es neben dem konservativen und dezidiert liberalen sogar einen linken Protest gibt, der insbesondere vom marxistischen, universalistischen Denken ausgeht.
Gemeinsam teilen die unterschiedlichen Kritiker eine Sorge: dass neue, gruppenzentrierte Fortschrittsmodelle positive Errungenschaften der Aufklärung beschädigen und ebenso die universelle Geltung der Menschenrechte. In dieser Auseinandersetzung will ich nicht einfach hinnehmen und abwarten, sondern Position beziehen und auch dem Streit nicht ausweichen. Dies wird in der Regel in einer Form kämpferischer Toleranz geschehen, Wenn ich allerdings auf ideologische Intoleranz stoße, ist auch meine eigene Intoleranz gefordert. Denn eins ist völlig klar: Ohne Intoleranz wird die Toleranz nicht überleben. Um die Pluralität und das Zusammenleben der Verschiedenen zu schützen, muss Toleranz intolerant gegenüber allen sein, die die Toleranz abschaffen wollen, gleichgültig, ob es sich um Rechtsradikale, Linksradikale, um Islamisten, oder andere Fundamentalisten handelt.
Nach wie vor ist die Mahnung des Philosophen Karl Popper gültig: „Wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ Und er schloss deshalb: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“ Toleranz ist und bleibt die Basis unseres Zusammenlebens.
Im Geiste der Toleranz verhandeln in unserer Demokratie Bürger verschiedener Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung gleichberechtigt und fair miteinander über eine Zukunft, die allen gleichermaßen Chancen und Möglichkeiten zur Verwirklichung geben soll. Nur mit Toleranz kann es gelingen, unsere inzwischen sehr diverse demokratische Gesellschaft nicht auseinanderbrechen zu lassen, sondern die Verschiedenen in Respekt und friedvoll zusammenzuhalten. Dies ist nicht nur ein Gebot der Toleranz als Tugend, sondern der Toleranz als Gebot der politischen Vernunft.