Festvortrag im Rahmen der 50. Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte
09. April 2022, Bonn
Änderungen vorbehalten
Es gilt das gesprochene Wort.
Wenn ich Ihre Einladung, anlässlich eines runden Geburtstages auf Ihrer Tagung zu sprechen, nun schon zum zweiten Mal angenommen habe, dann können Sie dem bereits zwei Botschaften entnehmen. Erstens: Auch nach weiteren zwanzig Jahren ist Ihre Arbeit immer noch von großer Bedeutung. Und zweitens: Meine Dankbarkeit für Ihr Wirken zu den Zeiten, als ich selbst noch zu den Unterdrückten zählte, ist ungebrochen. So möchte ich die Gelegenheit erneut nutzen, um Ihnen – den Mitgliedern der Internationalen Gemeinschaft für Menschenrechte – für Ihre Arbeit zu danken und Ihnen den Rücken zu stärken für Ihre zukünftigen, herausfordernden Aufgaben. Bevor ich das jedoch tue, muss und möchte ich auf die aktuellen Ereignisse eingehen.
Wenn wir heute gemeinsam Ihre 50. Jahrestagung begehen, im Übrigen fast genau am Tag der Gründung am 8. April 1972, begegnen wir uns in Zeiten des Krieges in Europa und unsere Gedanken sind bei den Menschen in der Ukraine, unser Mitgefühl gilt allen, die unter Verfolgung, Not und Krieg leiden.
Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland einen mörderischen Angriffskrieg gegen einen friedlichen, demokratischen Staat an der Grenze zur Europäischen Union. Seit nun über sechs Wochen werden ukrainische Städte bombardiert, und zum Teil dem Erdboden gleich gemacht. Vom ersten Tag an richtete sich Putins Terror unterschiedslos gegen Frauen und Kinder, Soldaten und Zivilisten, die getötet, verwundet, vertrieben und verschleppt werden. Und wenn es noch einen letzten Funken Hoffnung gab, dass es in diesem Krieg zwischen den „Brudervölkern“ nicht schon wieder zu schrecklichen Verbrechen kommt, dann ist dieser Funken seit dem letzten Wochenende, an dem uns die Bilder aus Butscha und vielen anderen Orten im Norden von Kiew erreicht haben, endgültig verloschen. Schon wieder erstarren wir vor dem Anblick von hingerichteten Frauen und Männern, Leiche neben Leiche am Wegesrand, ganze Familien ausgelöscht und verscharrt.
Schon wieder blicken wir fassungslos auf Verbrechen und sehen uns mit der Frage konfrontiert: Was verlangt uns das „Nie wieder“ in dieser Situation ab? Gebieten diese rücksichtslosen Mordtaten nicht eine humanitäre Intervention zum Schutz der Menschen in der Ukraine? Wir wissen doch, schuldig kann sich auch der machen, der nicht handelt. Wir wissen aber auch, dass wir in diesem Fall nicht nur vor einem großen moralischen Dilemma stehen, sondern auch vor einem geopolitischem. Der russische Aggressor stellt mit seinem atomaren Waffenarsenal auch eine unmittelbare Bedrohung für uns selbst dar. Und so gibt es nachvollziehbare Gründe dafür, dass wir davor zurückschrecken, selbst aktive Kriegspartei zu werden. Die Feststellung, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind und es auch berechtigte Interessen zu wahren gibt, entlässt uns weder aus der Verantwortung, noch lässt es das moralische Dilemma kleiner werden. Im Gegenteil: Wir sind aufgefordert, alles bis zur Grenze des uns Möglichen zu unternehmen, um dem mörderischen Treiben Putins ein Ende zu setzen.
Denn schon vom ersten Tag an war in diesem Konflikt die Rolle sehr klar verteilt zwischen Täter und Opfer. Eine moralische und rechtliche Äquidistanz zu den Konfliktparteien kann und darf es nicht geben. Die Bundesregierung hat angesichts dieser Situation zu Recht eine Kehrtwende in der Sicherheitspolitik eingeleitet, will der Ukraine beistehen, um zur Abwehr der Aggression Russlands beizutragen - auch mit Waffen. Und viele Menschen in Deutschland bezeugen ihre Solidarität, sie helfen und unterstützen, sie spenden, sie setzen Zeichen, sie fühlen mit und nicht wenige verzweifeln daran, dass es so schwierig ist, sich Putin noch entschiedener und substanzieller entgegenzustellen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns - und damit meine ich den Bürger genauso wie die Politikerin - immer wieder mit den Fragen befassen: Leisten wir den mutigen Ukrainerinnen und Ukrainern genug Beistand? Was können wir noch leisten, um ihnen beizustehen? Ist es verantwortbar, weiter Gas und Öl aus Russland zu importieren? Wie stehen wir da, vor denen, die ihr Leben verlieren, wenn wir Mörder weiter bezahlen?
Wir spüren ja zudem, dass nicht nur ein fernes Land angegriffen und unterjocht werden soll. Wir spüren, dass wir mitgemeint sind, wenn der Ukraine ihre Selbstbestimmung genommen werden soll. Putins Krieg gilt letztlich der freien Welt, der liberalen Demokratie. Seiner leninistischen Prägung getreu sieht er die einmal errungene Macht als etwas an, das nie preisgegeben werden darf. So setzt er – allerdings ohne kommunistische Ideologie – das fort, was er einst vertrat, nun nationalistisch und neoimperialistisch begründet: Menschen und Bürgerrechte gelten nicht, die Herrschaft des Rechts ebenso wenig, Gewaltenteilung nicht existent, der öffentliche Raum ohne Meinungs- und Versammlungsfreiheit - eine durchherrschte Gesellschaft. Niemand weiß, wie weit Putins Ambitionen bei der Wiedererrichtung eines großrussischen Imperiums reichen. Niemand kann sagen, dass Übergriffe auf Polen oder die baltischen Staaten in Zukunft ausgeschlossen sind.
Fast alle haben sich geirrt, - oder sollte ich besser sagen: wollten sich irren – als sie glaubten, Stabilität und Frieden hätten endgültig Vorrang gewonnen gegenüber imperialem Machtstreben. Die Älteren unter Ihnen erinnern sich noch an den Panzersozialismus der Sowjetunion und die Unterdrückung der Freiheitsbestrebungen in den Straßen von Berlin, Prag und Budapest. Diese Erinnerungen sind in den letzten Jahrzehnten in weite Ferne gerückt. Stattdessen haben wir uns dem Glauben hingegeben, dass wirtschaftliche Verflechtung automatisch zu Liberalisierung und Annäherung mit Putins Russland führen würden. Dieses Bild scheint in der Rückschau als eine geschönte Realität.
Noch nicht erwähnt habe ich die vom Diktator im Inland ausgeübten Praktiken aus der Sowjetzeit. Denunziert als „ausländischer Agent“ wurde mit „Memorial“ eine Institution verboten, die sich große Verdienste bei der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen erworben hat, eine Organisation, die Millionen Opfern der Sowjetdiktatur ihre Würde zurückgab und deren Angehörigen ein ehrendes Gedenken ermöglichte. Mundtot gemacht werden soll auch der russische Oppositionelle Andrej Nawalny, dem das Europäische Parlament letztes Jahr den Sacharowpreis für seinen Mut im Kampf für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte verliehen hat. Das Regime, das ihn erst feige ermorden wollte, hat ihn in einem Straflager weggesperrt, wo er willkürlich verhängte Strafen verbüßen muss.
Illusionen über Russlands Intentionen und unsere Möglichkeiten diese durch wirtschaftliche Verflechtung – insbesondere im Bereich der Energiepolitik - zu beeinflussen, bestanden in der Ukraine und auch bei unseren östlichen Nachbarn und im Baltikum nicht. Viel deutlicher als wir in Deutschland sind diese Länder mit der Einflussnahme durch Russland und der Einmischung in ihre Demokratie vertraut. Vergeblich haben sie uns auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die längst auch bei uns sichtbar waren – denken wir nur an den Hackerangriff auf den Deutschen Bundestag oder russische Propaganda und Desinformationskampagnen mit dem Ziel, das Vertrauen in staatliche Institutionen zu untergraben und Zwietracht in der Bevölkerung zu säen. Bereits vor 8 Jahren begann der russische Feldzug gegen die Ukraine mit der Krimannektion und der Unterstützung der Separatisten im Donbas.
Sehr geehrte Damen und Herren,
die schrecklichen Bilder des Krieges vor Augen machen deutlich, dass Ihr Engagement, ihr selbstgegebener Auftrag und nicht zuletzt das Thema Ihrer Tagung „Menschenrechtseinsatz wichtiger denn je“ von größter Dringlichkeit ist. Seit nunmehr 50 Jahren machen Sie sich als gemeinnützige Nichtregierungsorganisation für Menschen stark, die sich für die Verwirklichung der Menschenrechte in ihren Ländern einsetzen oder die verfolgt werden, weil sie ihre Rechte einfordern. Von ehemaligen politisch Verfolgten und engagierten Menschen gegründet, ist die Grundlage Ihrer Arbeit die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Sie setzen sich für die weltweite Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ein, darunter die Presse- und Meinungsfreiheit, Gewissens- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
Und Sie setzten sich – anders als viele andere, die blind auf dem einen Auge waren, für politische Häftlinge in der DDR ein. In den Jahren des Kalten Krieges bis zur Wiedervereinigung hat sich die IGFM erfolgreich für Tausende politisch Verfolgte Bürger der DDR eingesetzt. Das möchte ich auch heute ausdrücklich würdigen und Ihnen meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Als ehemaliger Beauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit weiß ich zudem nur zu gut von der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit gegenüber der Gesellschaft, eine zerstörerische, zersetzende Arbeit, die zum Teil von willigen Helfern im Westen der Bundesrepublik für Geld oder aus politisch-ideologischer Überzeugung verübt wurde. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte über 100 Spitzel auf die Unterwanderung westdeutscher Menschenrechtsorganisationen angesetzt. Davon alleine 30 auf die IGFM. Und noch 1989 wurden Inoffiziellen Mitarbeiter aus der DDR in den Westen geschickt. Und doch ließen Sie sich nicht beirren und halfen, klärten auf und prangerten an.
Zugleich zeigen die Akten, dass sich der Einsatz für die Menschenrechte lohnt. Verdeutlichten Sie doch, wie sehr sich ein totalitäres Regime wie die DDR durch die Veröffentlichung der Zustände in den Gefängnissen angegriffen gefühlt hat. Diese Akten zeigen zudem, dass das Bekanntwerden der staatlich verordneten Benachteiligungen von Ausreisewilligen, der DDR-Führung äußerst peinlich war. Zu einem ehrlichen Rückblick auf die 50-jährige Geschichte der IGFM gehört allerdings auch das Eingeständnis, dass die Gesellschaft zuweilen selbst blind auf einem - dem anderen - Auge war. Es braucht einen kritischen und ehrlichen Rückblick: Ich bitte Sie also heute auch zu betrachten, ob Sie in Ihrer Geschichte völlig frei gewesen sind von Ausblendungen, die Sie im anderen Lager kritisierten? Sich dies einzugestehen, schwächt die eigene Haltung nicht, sondern macht sie stärker. Schließlich wollen und können Sie auch nicht jene im Stich lassen, die die auf dem Papier akzeptierten Werte auch in der Praxis durchsetzen wollen – in welchem Land auch immer. Denn: Die Durchsetzung der Menschenrechte ist eine Daueraufgabe! Menschenrechte sind universell und unteilbar – die Verantwortung dafür ist es auch.
Menschenrechte sind angeboren und unveräußerlich – sie gelten für jede und jeden. Sie beruhen auf der unumstößlichen Tatsache, dass wir Menschen allein aufgrund unseres Menschseins gleich sind, trotz aller kulturellen, religiösen, sozialen oder sonstigen Unterschiede, die es geben mag. Wer Menschenrechte also stärkt, stärkt die Menschheit insgesamt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich war acht Jahre alt, als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Und ich war 11 Jahre alt, als ich in der DDR staatliche Repression erlebte. Mein Vater wurde 1951 ohne jeden Grund von der sowjetischen Geheimpolizei entführt und zusammen mit anderen Unschuldigen in einem Geheimverfahren zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Ich erfuhr, was es bedeutet, wenn ein geliebter Mensch aus der Familie verschwindet und – nach Jahren der Ungewissheit – dann schließlich zurückkehrt, schwer gezeichnet an Körper und Seele. Dabei hatte meine Familie noch Glück. Denn Abertausende in ganz Mittelosteuropa haben das kommunistische Unrechtssystem nicht überlebt. Wer eine solche Ohnmacht jemals gespürt hat, der möchte sie nie wieder zulassen und nirgendwo sehen, nicht in der eigenen Familie und nirgendwo sonst. Der erfolgreichste Anwalt für die Menschenrechte ist in uns – es ist ein tiefes inneres Wissen um die Würde und die Rechte eines jeden Menschen. Doch offensichtlich bedarf es manchmal erst grausamster Verfehlungen, um diesem Wissen politisch Gültigkeit zu verschaffen. Die Idee der Menschenrechte ist jahrhundertealt und seit über 200 Jahren in den amerikanischen und französischen Verfassungstexten verankert. Aber erst der große Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs mit Massenmord und Holocaust führte 1948 jene internationale Allianz zusammen, die sich auf einen gemeinsamen Katalog der Menschenrechte verständigen konnte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte die Weltgemeinschaft eine neue geistig-politische, aber auch moralische Grundlage. Es war unabdingbar geworden, das Individuum und seine unveräußerlichen Rechte zu schützen – unabhängig von seiner Ethnie, Religion, Hautfarbe oder seinem Geschlecht.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war zwar zunächst „nur“ eine Absichtserklärung, kein bindendes Gesetz, jedoch war sie eines der größten Versprechen, das seit Menschengedenken formuliert worden ist. Und es dauerte nicht lange, bis sie in vielen Staaten in nationales Recht überging. Gleichheit und Freiheit, bürgerliche, politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte: Für so vieles von dem, was wir heute in großer Differenzierung vorfinden, wurde 1948 das Fundament geschaffen. Die Geschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist für mich deshalb auch eine Geschichte der politischen Willenskraft des Menschen. Wir haben es in Mittel- und Osteuropa im vergangenen Jahrhundert immer wieder erlebt: Es waren die Menschenrechte und nach 1975auch die Schlussakte von Helsinki, auf die sich die Mutigen berufen konnten, wenn sie sich gegen ihre Unterdrücker, gegen Gewalt und Willkür wehrten. Aber wenn wir auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken und eine Bestandsaufnahme über die Entwicklung und Verbreitung der Menschenrechte wagen, dann muss die Bilanz ernüchternd ausfallen. Zu oft sind Menschenrechte – nur ein Versprechen für die Zukunft. Man muss sie so bezeichnen, weil viele Millionen Männer und Frauen und Kinder auf dem ganzen Erdball diese Rechte eben noch nicht als Realität erleben, sondern als eine große unerfüllte Sehnsucht. In zahlreichen Staaten auf nahezu allen Kontinenten wurden und werden die Menschenrechte ignoriert, relativiert und den Interessen der Machthaber, Clanchefs, Warlords oder Parteiführer untergeordnet. Aus vielen Teilen der Welt wird berichtet, wie Menschen aus dem Land getrieben werden, weil sie der vermeintlich „falschen“ Ethnie, Religion oder Partei angehören, oder weil sie wegen ihrer politischen Einstellung, ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden und auf ihre Meinungsfreiheit nicht verzichten wollen.
Noch nie war die Zahl der Menschen, die dort, wo sie beheimatet sind, nicht mehr leben können, so hoch wie heute. Mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung befand sich 2021 auf der Flucht – über 84 Millionen Menschen. Auch in Europa, sehen wir die schrecklichen Folgen von Krieg, Konflikten und Verfolgung: Bereits über vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben eine beschwerliche Flucht angetreten und ihre Heimat auf unbestimmte Zeit verlassen. Und schon seit Jahren fliehen Menschen über das Mittelmeer nach Europa. Und oftmals finden sie den Tod.
Zugleich ist es nunmehr 74 Jahre her, dass Vertreter aller Kontinente die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bei den Vereinten Nationen verabschiedeten und erstmals Rechte für alle Menschen proklamiert wurden. Weltweit. Unterschiedslos und unabhängig von nationaler oder sozialer Herkunft, Ethnie, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.
Gemeinsam müssen wir uns fragen: Warum haben einzelne Staaten, warum hat die internationale Gemeinschaft in den letzten sieben Jahrzehnten trotz aller Absichtserklärungen Gewaltorgien, Genozide, schwere Menschenrechtsverletzungen häufig nicht verhindern können? Warum können viele Länder ihre Grenzen vor Flüchtlingen gänzlich schließen?
Die Gründe dafür mögen vielschichtig sein. Ignoranz kann es sein, Kaltblütigkeit, auch realpolitische Überforderung – all das offenbart sich in vielen Konfliktfeldern rund um den Erdball, zuweilen auch an den Verhandlungstischen. Wir kennen auch die Geringschätzung und Marginalisierung von Menschenrechten, wenn es darum geht, etwa wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. In einer globalisierten Wirtschaft mit vielfältigen Abhängigkeiten - sei es bei Ressourcen oder Waren, können wir unsere wirtschaftlichen Interessen nicht außer Acht lassen. Aber wir können uns auch keinen naiven Vorstellungen mehr hingeben und müssen erkennen, dass es auch der chinesischen Führung nicht nur um den friedlichen Handel geht, sondern um eine globale Vormachtstellung.
Umso deutlicher müssen wir darauf reagieren, wenn aus dieser Richtung unter Verweis auf kulturelle Unterschiede die Menschenrechte relativieren oder diese gar als "westlichen Imperialismus" diskreditiert werden. Wer dies behauptet, der irrt und leugnet, dass die Erklärung ein Kompromiss von 52 Staaten unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägung war. Unter den 48 Staaten, die der Erklärung zustimmten, waren fast alle Erdteile oder "Regionalgruppen", wie die Vereinten Nationen heute sagen würden, vertreten.
Wer den Universalismus der Menschenrechte verneint, der leugnet, dass die Wurzeln der Menschenrechte in den unterschiedlichsten Kulturen unserer Erde liegen. Der verkennt, dass sie unser allerwichtigstes globales Gut sind. Und er ist blind dafür, dass die Unterdrückten in jedem Land der Erde die Sprache der Menschenrechte sehr gut verstehen. Überall dort sind die Menschenrechte Unzähligen Hoffnung und Sehnsucht, sie ermutigen die Ohnmächtigen zum Widerstand und zum Kampf für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wie eng Flucht und Nichtachtung der Menschenrechte miteinander verzahnt sind, erleben wir zurzeit nicht nur in der Ukraine. Das mussten wir auch bei den vielen Frauen und Männern auf den Straßen in Belarus im Sommer 2020 beobachten. Erschüttert schauen wir auf die gewaltsame Unterdrückung dieser friedlichen Demokratiebewegung und das Schicksal der mutigen Frauen: Die Führerin der belarussischen Opposition und Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichonowskaja konnte noch ins litauische Exil fliehen. Ihre Mitstreiterin Maria Kalesnikowa hingegen wurde verhaftet, weil sie in Belarus bleiben wollte, und sich weigerte ins Ausland zu gehen. Seitdem sitzt sie wie mehrere hundert andere Oppositionelle im Gefängnis.
Nicht selten frage ich mich, ob wir nicht doch mehr tun könnten, als wir tatsächlich tun. Als Ostdeutscher weiß ich, wie wichtig die Solidarität aus der freien, demokratischen Welt ist – als Druck gegenüber den Herrschenden und als aufbauende Kraft für die Unterdrückten und Vertriebenen.
Und genau in dieser Weise setzen Sie sich in den verschiedensten Handlungsfeldern für Unterdrückte ein. Trotz mancher Fortschritte sind zum Beispiel Frauen immer noch viel zu oft Opfer von Gewalt, Isolation und Unrechtsjustiz, wenn sie sich für ihre und die Rechte anderer einsetzen, wie etwa im Iran, in Kuba und Belarus. Oft werden sie willkürlich inhaftiert und ohne fairen Prozess zu teils hohen Haftstrafen verurteilt. Es ist erschütternd, dass trotz engagierter Aufklärungsarbeit von vielen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen immer noch weiblicher Geschlechtsorgane verstümmelt werden, dass Frauen unter Zwang verheiratet oder gar als Handelsware behandelt werden.
Oder richten wir den Blick auf ein ganz anderes Themenfeld: Eigentlich sollte die dieses Jahr anstehende Fußballweltmeisterschaft ganz im Zeichen des sportlichen, fairen Wettkampfs stehen. Aber schon jetzt wird dieses Ereignis überschattet von den Berichten über Zwangsarbeit und moderner Sklaverei. Laut Informationen des britischen „Guardian“ sind in den letzten zehn Jahren 6.500 Migranten in Katar gestorben. Neue Stadien und ganze Städte wurden für die WM in die Wüste gebaut. Die Bedingungen für die tausenden von Wanderarbeiter aus Afrika und Asien waren katastrophal, ja menschenverachtend und brachten viel zu oft den Tod. Ein weiteres Beispiel dafür, dass unsere frommen Hoffnungen durch die bittere Realität enttäuscht werden und es der Sport mit der Vergabe von internationalen Großereignissen ebenso wenig zu einem Wandel bei autoritären Regimen oder absolutistischen Monarchien führt wie der Handel mit diesen Ländern. Zu den zentralen Erkenntnissen sollte doch zählen, dass wir realistischer auf die Welt schauen.
Dies gilt auch für ein anderes Thema, das Sie regelmäßig ansprechen, aber in der Öffentlichkeit zu selten wahrgenommen wird: Die bedrohte oder verweigerte Religionsfreiheit. Dieses Thema betrifft nahezu alle Gesellschaften und Religionen. Deshalb erstaunt es mich immer wieder, wie wenig über die Verfolgung von Christen auf der ganzen Welt bekannt ist. Weltweit gelten 340 Millionen Christen einem hohen bis extremen Maß an Verfolgung ausgesetzt. Und die Zahl der getöteten Christen hat in den letzten Jahren sogar stark zugenommen. Sie sind zum größten Teil auf die Verfolgung durch islamistische Gruppierungen in Afrika zurückzuführen. Übrigens ein Thema, das in unseren Medien zu wenig gewürdigt wird.
Darauf können und wir müssen darauf aufmerksam machen, dass Angehörige religiöser Minderheiten in muslimischen Ländern schweren Repressionen ausgesetzt sind. So viel Differenzierung können wir uns zutrauen, wenn wir gleichzeitig nicht die Augen davor verschließen, dass in anderen Ländern insbesondere Angehörige des muslimischen Glaubens verfolgt werden. Und wir verschließen sich nicht die Augen davor, dass in westlich-demokratischen Ländern Hass und Aggressivität gegen Angehörige von Minderheitenreligionen wachsen. Drei von vier Menschen leben in einem Land, das ihre Religions- oder Weltanschauungsfreiheit einschränkt. Verletzungen der Menschenrechte sind im politischen Alltag vieler Länder oftmals auch Verletzungen der Religionsfreiheit.
Wie weit Menschenrechte umgesetzt werden können, hängt auch von aufmerksamer Begleitung, Beratung und der Hartnäckigkeit der Zivilgesellschaft
ab: Ohne die mutigen Menschen in den
NGOs wäre die Umsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
nicht da, wo sie heute ist. Sie bleiben als Impulsgeber und Korrektiv weiterhin unverzichtbar. Am heutigen Jubiläumstag der IGFM ermutige ich Sie: Tun Sie Ihre Arbeit unermüdlich. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie dazu beitragen, dass wir uns nicht blind und taub stellen, sondern dass wir uns dafür sensibilisieren, immer wieder um das höchste Gut, das wir haben, zu ringen: die Würde des Menschen. Denn wir alle "sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen". So steht es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Unsere Welt braucht Menschen, die diese Worte nicht nur kennen, sondern sich durch sie bewegen lassen. Wir haben es ja erlebt: Unrecht kann besiegt werden, Freiheit und Recht sind möglich. Daran wollen wir glauben und dafür wollen wir gemeinsam kämpfen.