Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck zu Gast im Kinderpodcast "Ole schaut hin"

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Jesco Denzel

Zu Gast beim Kinderpodcast "Ole schaut hin"

08. Februar 2023

Was sind Menschenrechte? Über diese Frage spricht Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Kinderpodcast „Ole schaut hin“. Das Interview kann hier angehört und im fortlaufenden Text nachgelesen werden. 

 

Wir haben eine Kinderfrage von Matteo bekommen, der sich fragt: “Was sind eigentlich Menschenrechte?” Darum die Frage an Sie, Herr Gauck: Was sind Ihrer Auffassung nach Menschenrechte?

Wer von Menschenrechten spricht, glaubt daran, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Dazu gehört auch der Anspruch in Freiheit zu leben und nicht ohne Grund eingesperrt zu werden. Ich darf ein freier Mensch sein - hoffentlich auch ein glücklicher Mensch. Dadurch bekomme ich das Gefühl, dass ich etwas wert bin. Genau das besagen die Menschenrechte.

Sie haben sich als “Liebhaber der Freiheit” bezeichnet und würden sich wünschen, dass es Ethik als Schulfach gibt. Warum?

Menschen dürfen merken, dass sie es wert sind, freie Rechte zu besitzen. Wenn wir uns allerdings in der Welt umsehen, dann gibt es viele Menschen, die ebenjene Freiheit nicht besitzen. Sie dürfen den Ort oder das Land, in dem sie leben, nicht verlassen. Sie dürfen nicht frei entscheiden und in freien Wahlen wählen, wer sie regieren soll. Ein Leben in dieser Unfreiheit nennt man Diktatur; es gibt Staaten, die gelten als eine Halbdiktatur, in der die Menschen einige Rechte haben, andere Rechte aber eingeschränkt sind. Oder es gibt Staaten, in denen Menschen daran gehindert werden, ihre Rechte wahrzunehmen, weil sie nicht sind wie die anderen - sie haben eine andere Hautfarbe, Religion oder sind aus anderen Gründen nicht gleichberechtigt mit anderen. Die Menschenrechte besagen allerdings genau das, dass wir alle gleichberechtigt sein sollen, übrigens natürlich auch Kinder.

Welche Erfahrungen haben Sie in der DDR mit Menschenrechten gemacht?

Ich selber habe lange Zeit in einer Diktatur gelebt, in der die Menschen- und Bürgerrechte nicht gegolten haben. Das war in der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik, der Fall. Sie nannte sich demokratisch, war es aber nicht. Wir konnten nicht in freien, gleichen Wahlen wählen, weder die Bürgermeister noch die Regierung des Landes. Es gab nur Scheinwahlen. Viele Menschen, die ihr Leben in dieser Unfreiheit verbrachten, fragten sich irgendwann: “Wie können wir das ändern? Können wir uns verbünden, um Freiheit zu erlangen?” Durch genau diese Fragen entstehen in vielen Ländern Protestbewegungen bis hin zu Aufständen gegen ebenjene Autoritäten, also die mit Gewalt herrschenden Menschen. Manchmal haben sie Erfolg, manchmal Misserfolg.

Sie hatten zwei Berufswünsche: Journalist oder Theologe. Sind diese Wünsche durch die Nachkriegswirrungen, den in Sibirien eingesperrten Vater und den Volksaufstand 1953 geprägt? Also den Wunsch, Missstände anzuprangern?

1953 war ich 13 Jahre alt und konnte noch nicht bei dem Aufstand mitmachen - meine Mutter hätte verboten, bei einer Demo dabei zu sein. Aber mein Vater war seit 1951 in Sibirien von der sowjetischen Besatzungsmacht ohne jeden Grund in einem Arbeitslager gefangen gehalten, mit vielen weiteren Deutschen, Polen und Ungarn, musste wie ein Sklave schuften. Die wurden „weggefangen“, weil man sie denunziert hat. Dafür musste man nichts getan haben. Das ist eben Leben in Unterdrückung. Darum hatte ich schon als Kind ein Gefühl für Unrecht und dass man dagegen sein muss. Kinder mögen keine Ungerechtigkeit und in unserer Familie mochten wir das natürlich erst recht nicht. In freien Ländern kann man als Journalist sein Wort erheben und Menschen aufklären. Das ist in einer Diktatur verboten, sie könnten andernfalls eingesperrt werden oder ein Berufsverbot bekommen. Also schied der Beruf des Journalisten aus. Als Pfarrer wiederum hatte ich ein bisschen mehr Freiheiten.

Ist Ihre Erfahrung mit einer Diktatur, Kompromisse finden zu müssen, um freiheitlicher leben zu können?

Vor allem habe ich nicht an die Dinge geglaubt, die diese kommunistische Diktatur als Leitlinie des Denkens und Lebens ausgegeben hatte. Darum hängt meine Erfahrung mit einer Diktatur - also im Unrecht zu leben, keine Rechte zu haben - mit dem Wunsch zusammen, etwas anderes zu vertreten. Ich wollte meinem Leben einen anderen Sinn geben als nur den, sich den Unterdrückern zu beugen und gehorsam wie ein Untertan zu leben. Menschen in der Diktatur haben so immer wieder versucht, eine innere Freiheit zu finden, wenn sie schon keine äußere Freiheit haben konnten.

Wie präsent waren für Sie in Ihrer Rolle als Pastor Bürger- oder Menschenrechte?

Ich war ständig in Kontakt mit Leuten, für die es nicht leicht war, Christen zu sein. Sie wurden dadurch nicht befördert, sondern behindert: Wer sich als Christ bekannte, für den war eine Karriere unwahrscheinlich, weil er dem Regime kritisch gegenüberstand. Wer als Jugendlicher nicht Mitglied der Jugendorganisation „Freie Deutsche Jugend" war, der konnte kein Abitur machen. Meine Kinder, die nicht Mitglied dieser Organisation waren, mussten nach der 10. Klasse abgehen, konnten kein Abitur machen und dementsprechend nicht studieren. Dies sind Beispiele für Situationen, in denen es nicht einfach war, ein bekennender Christ zu sein. Als Pastor konnte ich in meinem Umfeld über fehlende Menschen- und Bürgerrechte oder über den Militarismus im Land sprechen. Dabei musste ich aber immer aufpassen, dass so etwas nicht als staatsfeindlich und damit illegal angesehen wurde.

Haben Sie dadurch in dieser Zeit etwas gelernt?

Tatsächlich lernt man eine gewisse Durchhaltefähigkeit. Es stärkt den Charakter, wenn man nicht nur Mitläufer ist, sondern die Werte in seinem Leben selbst bestimmt und diese Unterwerfung für bessere Karrierechancen nicht mitvollzieht. Das ist allerdings nicht einfach, ich hätte beispielsweise nicht Lehrer werden können. Es lohnt sich, sich in eine solche Lebenssituation hineinzuversetzen, in der man realisiert, dass das eigene Leben ganz anders aussehen würde. Und ich habe gelernt, dass Menschen immer eine Wahl haben, wie sie sich verhalten sollen. In der Diktatur hat man nicht jede Wahl, aber am kann lernen, sich nicht einfach total zu unterwerfen und absolut angepasst zu leben.

Wie würde sich das Leben für Kinder in dieser Situation verändern?

Schwer, sich das vorzustellen, aber: In der Schule würde morgens am Montag die Fahne gehisst werden und Appell sein. Wie auf einem Kasernenhof. Man würde in der Schule schießen und exerzieren lernen, wie es bei uns in der DDR in der 10. Klasse üblich war. Man dürfte keine Klassensprecher wählen, sondern einen FDJ-Sekretär. Mein dürfte keine Schülerzeitung machen, stattdessen gibt es eine Wandzeitung. Darin sind aus der Zeitung ausgeschnittene Artikel, wie toll die Regierung ist - die man gar nicht so toll findet, die man aber nicht los wird, weil sie immer da ist, egal was die Menschen denken.
Vielleicht ist es ganz gut, sich bewusst zu machen, in welchem Glück wir als freie Menschen leben können. Diese Freiheit ist sehr wertvoll, nicht nur bei der Wahl der Schule oder des Berufs.

Von der Kanzel in die Politik: 1989 wurden Sie Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen, haben sich in dem Amt vor allem gegen das Vergessen eingesetzt. War es Ihnen ein besonderes Anliegen, die Unfreiheit aufzuarbeiten?

Selbstverständlich, aber das ist aber nicht aus der Erfahrung mit der kommunistischen Zwangsherrschaft entstanden. Ich bin im Krieg geboren und war als Jugendlicher voller Zorn und Wut über das, was unser Land anderen Ländern in der Zeit des Nationalsozialismus angetan hat. Dieser unglaubliche Massenmord an den jüdischen Menschen, an Behinderten und anderen, die gequält oder ermordet wurden. Das hat uns empört - insbesondere das Schweigen der Generationen, die lange nicht wissen wollten, was im Krieg geschehen ist. Während meines Studiums hat das meine Generation sehr bewegt. In Westdeutschland führte die Aufarbeitung der Vergangenheit Ende der 1960er Jahre zu Protesten, besonders an Universitäten und Gymnasien. Darum wissen wir, dass es nichts bringt, wenn man über eine schlechte Vergangenheit schweigt und keine Nachfragen stellt.

Was hätte ein Schlussstrich in dieser Zeit ausgelöst?

Wenn man einen Schlussstrich setzt und nicht mehr darüber spricht, profitieren die Menschen, die einst oben waren und das Unrecht verübt haben. Ein Schlussstrich ist immer schlecht für diejenigen, die die einstigen Opfer waren. Mit diesem Wissen saß ich 1990, bevor ich mein Amt als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen übernahm, als Abgeordneter in der ersten frei gewählten Volkskammer. Da kam die Deutsche Demokratische Republik erstmals wirklich ihrem Namen nach, weil ein demokratisches Parlament existierte. Wir haben damals entschieden, genau wissen zu wollen, wie die Diktatur funktionierte. Am besten konnte man die Unterdrückung in den unzähligen Akten der Geheimpolizei nachweisen, der sogenannten Staatssicherheit, die hauptsächlich gegen das eigene Volk gearbeitet hat.

Was war die Hauptbedeutung dieser Geheimpolizei?

Vor allem sollte sie den Leuten Angst machen, damit sie sich nicht in einer Bürgerbewegung versammelten und keine Vereine gründeten. Dass man am Telefon abgehört wurde, Briefe gecheckt wurden und Menschen eingesperrt wurden, wenn sie eine Losung an die Wand schrieben, das gehörte dazu und wurde von der Geheimpolizei organisiert. Darum haben wir in der Volkskammer entschieden, diese Akten zu öffnen. Die Akten zeigen auf, wie die damalige Ohnmacht der vielen hergestellt wurde. Wir dachten, wenn die Menschen das sehen, verabschieden sie sich innerlich schneller und erkennen, dass die DDR eine Diktatur  war.

Als Bundespräsident sind Sie unter anderem nach Äthiopien, Südafrika und Myanmar gereist. Aber Sie waren auch in Nigeria, Mali und China. Wie haben Sie die Menschenrechte dort wahrgenommen? Ist das Thema in anderen Ländern und Kulturen ein Wunsch oder ein deutscher Blickwinkel, den wir darauf haben?

Vor allem sollten wir uns fragen, für wen Menschenrechte ein Thema sind in all diesen Ländern. Und das ist es für die Mehrheit der Menschen, die unterdrückt werden. Es gibt Länder wie China, wo so getan wird, als seien die Menschenrechte ein westliches Bedürfnis; das ist ein großer Unfug. Als die Menschenrechte von den Vereinten Nationen niedergeschrieben wurden, kamen Einflüsse aus der ganzen Welt zusammen, welche Rechte der Mensch braucht und wie seine Rolle bewertet werden soll. Unser Grundgesetz spricht von der Würde, die dem Menschen Rechte gibt. Das können besonders die Menschen nachvollziehen, denen ebenjene Rechte genommen werden. Sie haben in Afrika, in Asien, aber zum Teil auch in Südamerika Länder, wo teilweise oder ganz Bürger- und Menschenrechte nicht gewährt werden. Und dann gibt es Teile der Welt, die sagen: Naja, das haben sich die westlichen Länder ausgedacht, aber das entspricht gar nicht unserer Kultur.

Wo wird den Menschen vermittelt, dass die Menschenrechte nicht der Kultur entsprächen?

Beispiele dafür finden wir in einigen Monarchien in den arabischen Ländern, in denen Könige die absolute Macht haben - und die natürlich freie, gleiche und geheime Wahlen nicht gebrauchen können. Hier wird das Recht auf Selbstbestimmung verletzt oder gar nicht gewährt. Sie dürfen keine Meinungsfreiheit haben oder werden wegen einer anderen Religion verfolgt, wie es in Myanmar mit der Verfolgung der Rohingya passiert ist. Die muslimische Bevölkerungsgruppe wurde von der buddhistischen Mehrheit vertrieben. In China, in Russland, im Iran und zahlreichen anderen Staaten, überall auf der Welt gibt es Menschen, die händeringend danach trachten, Menschenrechte zu haben und zum Teil blutig verfolgt werden. Die Herrschenden verweisen auf eine vermeintlich andere Kultur, für die das nicht gelte. Doch von genau dieser Kultur halten die unterdrückten Menschen wenig. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns nicht einschüchtern lassen von denen, die im südlichen Teil der Welt oder in anderen Gebieten sagen, Menschenrechte seien westliches Gedankengut. Das ist ein Irrtum und dient dazu, Unrecht und undemokratische Herrschaftsformen zu rechtfertigen.

Wie betrachten Sie dieses Thema in Bezug auf den seit fast einem Jahr herrschenden Konflikt in der Ukraine, wo Russland ein souveränes Land überfällt, den Bürgern alle Rechte abspricht und freie Wahlen nicht akzeptiert?

Das ist eine ganz furchtbare Situation. Viele Menschen in Europa haben gedacht, sie würden so einen Angriffskrieg in Europa nicht mehr erleben. Deutschland weiß aus seiner Geschichte genug über Angriffskriege: Wir hatten sogenannte Erbfeinde wie die Franzosen und heute ist es unvorstellbar, gegen Frankreich Krieg zu führen. Aber für Herrn Putin, den russischen Diktator, ist es offenbar kein Problem, gegen ein Nachbarland Krieg zu führen, weil er will, dass die Ukraine zu seinem Reich gehört. Krieg wird als legitimes Mittel der Politik betrachtet, das hat er schon zum Beispiel in Tschetschenien oder Georgien unter Beweis gestellt. Es zeigt sich hier eine schreckliche Tradition: Auch unter dem russischen Zaren und den den Kommunisten gab es die Vorstellung, dass die russische Nation wichtiger ist als die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Nachbarnationen. Putin spricht der Ukraine ab, ein selbstständiger Staat zu sein.

Das trifft die Menschen in der Ukraine natürlich besonders. Sehen Sie dort den Kampf um die Menschenrechte heranwachsen?

Die Ukrainer haben selber in einer Freiheitsrevolution gezeigt, dass sie Menschenrechte wollen. Sie sind Teil Europas und wollen Europäer sein. Sie wollen Bürgerrechte haben und selbstbestimmt leben. Deshalb sind wir in Deutschland und Europa verpflichtet, ihnen beizustehen. Wir teilen gemeinsame Werte und es gibt in diesem Fall ein klares Schwarz-Weiß. Es gibt einen Unschuldigen, die Ukraine, und einen Schuldigen, der mit dem Recht des Stärkeren über andere herfällt. Dieses Recht des Stärkeren will eine Politik der Menschenrechte und des Völkerrechts brechen. Genau deshalb haben wir Demokratien, damit Recht herrscht und nicht die unkontrollierte Macht. Nicht die Gewehre, nicht die Panzer, nicht die Atomraketen sollen bestimmen, sondern das Recht soll bestimmen, wie die Völker miteinander umgehen und was in ihrem Land passiert. Das sehen Diktatoren anders - und Putin hat sich Schritt für Schritt in einen Diktator verwandelt.

In Ihrer Amtszeit und bis heute liegen Ihnen Menschen- und Bürgerrechte am Herzen. Was wünschen Sie sich in Zukunft dazu in Deutschland?

Deutschland hat nicht die Macht, zu bestimmen, was in anderen Teilen der Welt vorgeht. Es gab mal Wahnvorstellungen, dass Deutsche das könnten. Wir haben gelernt, das steht uns nicht zu. Aber wenn ich in ein anderes Land gereist bin, insbesondere dorthin, wo die Menschenrechte nicht oder nur eingeschränkt galten, dann habe ich niemals verschwiegen, dass wir für die Menschenrechte eintreten. Das hat die Bundeskanzlerin genauso gehandhabt und auch unser jetziger Bundeskanzler tut das. Wir werden das immer kritisieren; das sehen wir jetzt auch deutlich an unserer Außenministerin. Die Regierung empfindet es als Verpflichtung, Missstände anzusprechen. Dann können wir in den Vereinen Nationen dafür werben und eintreten, entsprechende Abkommen zu unterzeichnen. Wir können in Ländern in Afrika oder in Asien dafür werben, diese Prinzipien so zu achten, wie wir Europäer es tun. Aber wir haben eben nicht die Macht, Menschenrechte mit Gewalt durchzusetzen.

Was können Kinder und Jugendliche, aber auch jeder Mensch in Deutschland dafür tun?

Es ist gut, wenn ein Bewusstsein in der Bevölkerung für die Bedeutung der Menschenrechte entsteht, etwa durch Bewegungen für Menschenrechte, für den Schutz von Kinderrechten oder für das Recht auf Bildung und Entwicklung. Es gibt beispielsweise kirchliche und zivilgesellschaftliche Organisationen, die die Menschen in Teilen der Welt unterstützten, in denen noch an den Menschenrechten gearbeitet und Bildung gefördert wird. Das können wir unterstützen, indem wir Geld spenden oder uns selbst engagieren. Das sind friedliche Mittel, für das zu werben, was Menschen glücklich und frei macht.