Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Demokratie unter Druck

Menü Suche
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede beim Kongress "Demokratie unter Druck. Die Gesellschaft und die Zeitenwende"

©BMI/bundesfoto/Kurc

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede beim Kongress "Demokratie unter Druck. Die Gesellschaft und die Zeitenwende"

Rede beim Kongress "Demokratie unter Druck"

06. November 2023, Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Haben Sie vielen Dank für die Einladung zu diesem so wichtigen Kongress. Ich freue mich, dass hier so zahlreiche Vertreter aus Bund und Ländern, aus Wissenschaft und Forschung, aus Nichtregierungsorganisationen, aus Vereinen, Initiativen und dem Bereich der politischen Bildung versammelt sind. Wir brauchen Sie alle, um die liberale Demokratie aktiv zu gestalten und sie wehrhaft gegen ihre Feinde zu machen.

Wenn die Bundesregierung in diesen Tagen eine Strategie zur Stärkung der Demokratie und gegen Extremismus erarbeitet, dann halte ich dies für ein gutes Zeichen. Denn dieser Prozess, zu dem auch die heutige Veranstaltung zählt, macht uns doch eines deutlich: Was wir gemeinsam stärken wollen, das ist offensichtlich derzeit nicht stark genug. Wenn wir uns aktiv gegen Bedrohungen unserer Demokratie richten, dann geht es um mehr Wehrhaftigkeit zur Verteidigung dessen, was uns Demokraten in diesem Land lieb ist.

Sehr geehrte Frau Ministerin, ich stimme Ihnen daher ausdrücklich zu, wenn Sie sagen: „Unsere Demokratie ist nicht selbstverständlich! Wir müssen sie aktiv schützen und gegen ihre Feinde verteidigen – nach außen wie nach innen.“

Wir ringen noch um die passende Begrifflichkeit für die Zeiten, in denen wir uns hier versammeln. Wir erfassen die geopolitischen Beben in unserer europäischen Nachbarschaft und im Nahen Osten wie auch den Willen zu Machtverschiebungen in Fernost als Anzeichen für eine überaus ernsthafte Infragestellung einer lange gültigen Weltordnung. In unterschiedlichen Regionen der Welt negieren autoritäre Führer die Herrschaft des Rechts. Das „Recht“ des Stärkeren meldet sich an vielen Orten zurück. Viele Menschen in der freien Welt sind verstört und haben die richtigen Worte für die anbrechende neue Ära noch nicht gefunden.

Die mörderischen Terrorakte der Hamas bedrohen die Sicherheit Israels. Und in seinem neoimperialen Wahn versucht Russland, die Souveränität der demokratischen Ukraine zu beseitigen, tötet dort grundlos Menschen, um im Falle eines Sieges die Überlebenden zu Vasallen zu machen. Und auch im Innern unserer Gesellschaft nehmen wir wahr, dass die liberale Demokratie unter Druck geraten ist, dass autoritäre, populistische Kräfte Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit infrage stellen. Nicht überraschend sind vor diesem Hintergrund die Belege dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des deutschen Staates anzweifeln. Eine Umfrage des Deutschen Beamtenbundes zeigt, dass nur 27 Prozent der Bürger in Deutschland dem Staat zutrauen, seine Aufgaben zu erfüllen. Gemessen an den Vorjahren hat das Bürgervertrauen damit einen neuen Tiefpunkt erreicht. Im Osten Deutschlands halten sogar 77 Prozent den Staat für überfordert. 

Wie reagieren wir nun angemessen auf diese Erschütterungen? Viele Menschen spüren durchaus, dass die Zeit der Sorglosigkeit vorüber ist. Ein notwendiger Wandel unserer Mentalität hat zwar begonnen, er kann allerdings noch nicht Schritt halten mit den Bedrohungen in unserer europäischen Nachbarschaft, im Nahen Osten… Auch an den Wahlurnen und auf unseren Straßen sehen wir zu Viele, die der liberalen Demokratie mit Desinteresse oder Ablehnung gegenüberstehen. Und wenn wir auf die Politik schauen: allzu lange haben wir an ein konstruktives Miteinander geglaubt, an partnerschaftliche Perspektiven mit Russland. Nun endlich erkennen wir: Der Westen ist mit diesen wohlmeinenden Ansätzen gescheitert. Wir realisieren, dass uns eine Feindschaft aufgezwungen wird, die so gar nicht passen will zur vertrauten Gemütslage, auch zur bisherigen Rolle Deutschlands. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik brauchte eine Neuorientierung und eine neue Entschlossenheit angesichts derer, die nicht weniger als eine Revision der gewachsenen Ordnung und des Völkerrechts anstreben. Und das mit menschenverachtender Gewalt und kriegerischen Instrumenten. Wir mussten erkennen: Eine Vielzahl von Geschäftskontakten führte nicht automatisch zu einem Mehr an gemeinsamen Interessen. Im Gegenteil: Der russische Angriffskrieg und die daraus resultierenden hohen Energiepreise haben uns vor Augen geführt, dass Abhängigkeiten von nicht-demokratischen Energielieferanten enorme Gefahren bergen. Das vermeintlich billige Gas aus Russland war mit einem Preisschild versehen, das uns politisch gefügig machen sollte. Dies sollten wir nicht vergessen, wenn einige Akteure in Deutschland die Rückkehr zu diesem Wirtschaftsmodell propagieren und die Putin-Diktatur bei uns wieder salonfähig machen wollen. Russland kann bei seinen Bemühungen, unsere Demokratie zu destabilisieren, bedauerlicherweise auch an einen antiwestlichen Reflex in Teilen der deutschen Gesellschaft anknüpfen. Wir haben es mit einem Phänomen aufseiten der Rechten wie der Lin­ken zu tun, eine spezifische geistige Querfront ist ent­standen, die unter anderem bei den Corona-Protesten der sogenannten Querdenker zu besichtigen war. Unter Konservativen und Rechtspopulisten finden sich la­tente oder offene Sympathien für einen vermeintlich starken Mann an der Spitze und Verachtung für die angeblich dekadente westli­che Kultur, vor allem in Amerika. Bei einem Teil der Menschen in Ostdeutschland oder bei der westdeutschen Friedensbewegung wirken zudem die alten Feindbilder gegen NATO und die USA nach. Der russische Diktator scheint zu hoffen, dass er über die politischen Ränder Zwietracht in der deutschen Gesellschaft säen und die Unterstützung der Ukraine verringern kann. Die Propaganda-Lüge, dass die USA Berlin die Politik diktieren, ist ein Narrativ Putins, das sowohl Rechts- als auch Linksaußen anschlussfähig ist. Für die aktive Verteidigung der liberalen Demokratie bedeutet dies: Wir müssen Wehrhaftigkeit weitgefasst denken und die Bevölkerung auch mit dem Thema der ausländischen Einflussnahme besser vertraut machen.

Die Verwobenheit von Außen- und Innenpolitik fällt uns auch durch den Terror-Krieg der Hamas gegen Israel stärker ins Auge. Wir erleben konkret, dass die Sicherheitslage in Deutschland durch das Weltgeschehen beeinflusst wird. Binnen kürzester Zeit können Nachrichten unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt antiisraelische Demonstrationen auf unseren Straßen auslösen. Gegen diesen offenen Antisemitismus müssen wir noch entschiedener vorgehen. Wir werden den unterträglichen Hass nicht erwidern, aber er ist uns Ansporn, die Normen unseres demokratischen Gemeinwesens noch entschiedener zu verteidigen. Ich begrüße es ausdrücklich, Frau Ministerin, dass die Terrororganisation Hamas und das palästinensische Netzwerk Samidoun nun in Deutschland verboten wurden. Wir alle haben weiterhin die Pflicht dafür zu sorgen, dass jüdische Menschen in Deutschland ohne Diskriminierung, Bedrohung und Verfolgung leben können, dass sie sich ohne Angst mit Kippa auf der Straße zeigen und dass Israelis nicht aus Angst vermeiden, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen. Wenn wir dies benennen, dann vergessen wir nicht: Hass und Feindschaft gegen Juden ist kein exklusives Merkmal einer bestimmten Gruppe, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Egal ob der Antisemitismus von rechts von links oder von Islamisten ausgeht: Als Demokraten müssen wir ihn, wie jede Form der Menschenfeindlichkeit, entschieden bekämpfen - mit allen Mitteln, über die unser Rechtsstaat verfügt. Wir brauchen gut ausgestatte Sicherheitsbehörden, eine konsequente Strafverfolgung, politische Bildung und eine starke Zivilgesellschaft, um den Gefährdungen zu begegnen, die durch radikale Kräfte in den Fußgängerzonen, auf Bahnhöfen, Sportplätzen oder Schulhöfen erwachsen.

Ich bin überzeugt: Extremisten haben keine Aussicht darauf, unsere liberale Demokratie substanziell zu gefährden. Hass und Gewalt können niemals Teil eines politischen Angebots für die Gestaltung unserer Zukunft sein. Dennoch nehmen wir auch in der politischen Mitte unserer Gesellschaft wahr, dass die Auseinandersetzungen härter werden, dass Reizthemen den konstruktiven Diskurs überschatten und politische Positionierungen zu Glaubensfragen werden. Befeuert werden diese Entwicklungen von den politischen Rändern, die anknüpfen können an diffuse Unsicherheiten und Abstiegsängste. Sie arbeiten mit Verkürzungen und Zuspitzungen und setzen auf eine konsequente Diskreditierung der sozialen und politischen Verhältnisse, um Menschen zu mobilisieren. Indem sie gegen „das System“ und vermeintlich korrupte Eliten wettern, machen sie die repräsentative Demokratie insgesamt verächtlich. Diesen Lügenmärchen gilt es entschieden entgegenzutreten: Unsere Verantwortungsträger haben sich eben nicht an die Macht geputscht, sondern sie sind vom Volk in freien, gleichen und geheimen Wahlen gewählt. Soziale Medien und schwer regulierbare Messenger-Dienste sind zum Organisations- und Rekrutierungsraum für Akteure geworden, die aus der Polarisierung des öffentlichen Raumes Honig saugen. Auf die Radikalisierung in virtuellen Räumen muss der Staat wirksame Antworten finden.

Allerdings: Die Radikalisierung, die wir beobachten, gilt weiterhin vor allem für die politischen Ränder. Die Mehrheit der Deutschen verortet sich immer noch in der politischen Mitte. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser haben in einer aktuellen Studie herausgearbeitet, dass die Gesellschaft (noch) nicht in verfeindete Lager zerfällt. Diesen Eindruck jedoch erwecken Vertreter von Randpositionen, die durch eine strategisch herbeigeführte Emotionalisierung die Konsensfindung im öffentlichen Raum torpedieren. Wenn wir an die Schlagworte „Wärmepumpe“ oder „Gendersternchen“ denken, dann wird schnell klar, was die Autoren mit der Bezeichnung „Triggerpunkte“ meinen. Sachliche Debatten verkommen zu Glaubensfragen, wenn Menschen der Verführung erliegen, sich entlang von Freund-Feind-Schemata einzuordnen. Auch bei Auseinandersetzungen zwischen den demokratischen Parteien können diese Mechanismen wirkmächtig werden – zum Nachteil der vorhandenen Mehrheiten in der politischen Mitte. Schnell werden dann die Potenziale zur Gestaltung der vordringlichen Aufgaben übersehen: So besteht etwa breite gesellschaftliche Einigkeit über die Notwendigkeit von Klimaschutzmaßnahmen. Wenn allerdings Menschen den Eindruck gewinnen, ihr Wohlstand sei in Gefahr, entstehen Blockadehaltungen. Ähnliches gilt für das Thema Flucht und Migration: Eine Mehrheit in Deutschland spricht sich gegen offene Grenzen genauso aus wie gegen eine Politik der radikalen Abschottung. Die meisten akzeptieren, dass unser Land ein Einwanderungsland geworden ist. Der Eindruck eines Kontrollverlusts jedoch kann als Auslöser dienen, um eine sachliche Debatte über Möglichkeiten zur Steuerung der Migration sowie zur Erarbeitung von tragfähigen Lösungen zu sabotieren.

Auch vehementer Streit ist nicht automatisch Ausweis bedrohlicher Spaltungen in demokratischen verfassten Gesellschaften. Streit müssen wir ertragen, solange er zur Verständigung über das Gemeinsame, Verbindende beiträgt. Nur mit Toleranz kann es gelingen, unsere inzwischen sehr diverse demokratische Gesellschaft nicht auseinanderbrechen zu lassen, sondern die Verschiedenen in Respekt und friedvoll zusammenzuhalten. Gleichzeitig müssen wir alle Menschen in unserem Land stärker einbeziehen, auch jene, denen die rasanten gegenwärtigen Veränderungen Angst machen. Durch Klimakrise, Migration, Digitalisierung, künstliche Intelligenz und nicht zuletzt durch den russischen Überfall auf die Ukraine und den Terror der Hamas und seine Auswirkungen ist unser Land (wie viele andere Staaten) mit Herausforderungen konfrontiert, die der Demokratie und unserer Gesellschaft weit mehr abverlangen, als in den Jahrzehnten zuvor. In einer Ära des forcierten Wandels entstehen bei vielen Bürgern Unsicherheit und Angst. Deshalb brauchen wir in der demokratischen Mitte neue Begegnungsformate, die auf Sorgen und Ängste der Verunsicherten eingehen und zudem neue Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung und auch zur Teilhabe auf kommunaler Ebene entwickeln. Unabdingbar scheint mir auch eine deutliche Stärkung der politischen Kommunikation. Denn wenn sich die Komplexität der politischen Probleme erhöht, dann muss die Politik ihre Botschaften anpassen, um zu den Wählerinnen und Wählern durchzudringen. Dabei gilt: Lösungsorientierte Politik verführt nicht. Sie arbeitet nicht mit Ressentiments. Ich meine eine erhellende Vereinfachung, die es erlaubt, Probleme so zu beschreiben, dass demokratische Lösungen und Kompromisse möglich werden.

„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen.“ Dieses Zitat stammt von einer kenntnisreichen Verteidigerin der liberalen Demokratie, die in den 1930er Jahren als deutsche Jüdin den Nazis entkam. Hannah Arendt erinnert uns auch heute noch daran, dass wir Wunschdenken zu meiden haben, weil dieses einen „Verlust von Wirklichkeit“ zur Folge hat. Mit einer neuen Ernsthaftigkeit begreifen wir so, dass wir schützen müssen, was wir lieben. Wir müssen erkennen, dass uns durch die offensive und aggressive Ablehnung des Westens uns von außen eine Feindschaft aufgezwungen wird, die sich in absehbarer Zeit nicht einfach weg verhandeln lässt - so sehr wir uns das auch wünschen. Im Inneren unserer Gesellschaft stehen Politik und Zivilgesellschaft vor der Aufgabe, in einer Ära zunehmender Vielfalt das zu definieren und zu verteidigen, was als gemeinsamer Nenner der Verschiedenen gelten soll. Nicht wenigen Bürgern fällt es schwer, eigenverantwortliche Teilhabe zu leben; sie begnügen sich mit der Rolle von Zuschauern und außenstehenden Kommentatoren. Beunruhigend ist auch die Anzahl derer, die bei Wahlen nicht mehr der demokratischen Mitte ihre Stimme geben, sondern populistischen Verführern folgen. Unsere politische Pädagogik hat hier zu unterscheiden zwischen denen, die mit der offenen Gesellschaft fremdeln und denen, die die Demokratie bekämpfen. So entschieden, wie wir letzteren den Kampf ansagen, so intensiv haben wir um erstere zu werben. Ich bin froh darüber, dass sie heute genau darüber noch weiter ins Gespräch kommen wollen. Und ich freue mich insbesondere, dass gemeinnützige Organisationen und Vertreter politischer Bildungseinrichtungen dabei mit am Tisch sitzen.

Wir wissen es: Die Weimarer Demokratie im Deutschland vor 100 Jahren scheiterte daran, dass es zu wenige Demokraten gab. Wenn über die Hälfte der Wähler antidemokratische Parteien wählen, kann keine Demokratie überleben. Ich sehe diese Gefahr heute nicht. Denn Deutschland verfügt über eine starke politische Mitte, die als Träger und Garant unserer liberalen Demokratie Tag für Tag einsteht. Sie, die Sie hier versammelt sind, zählen dazu, genauso wie die Millionen von Menschen, die sich für zuständig erklären – zuständig für die Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens und seine Anpassung an neue Realitäten. In diesen Zeiten der Disruption sind wir herausgefordert, zu bewahren, was sich bewährt hat und was uns beheimatet und gleichzeitig Haltungen zu verändern, die uns lähmen, uns unglaubwürdig und unsolidarisch machen. Nur so kann neues Vertrauen in unser Gemeinwesen und die liberale Demokratie wachsen. Gleichzeitig muss die Politik Orientierung bieten, um die Menschen auf dem Weg der Veränderung nicht zu verlieren. Mit dem Grundgesetz haben unsere Vorfahren einen öffentlichen Raum geschaffen, der all denen eine echte Heimat bietet, die auf der Basis neu bekräftigter Werte leben wollen. Wie weit dieser Raum der Möglichkeiten aber im Sinne von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Frieden genutzt wird, hängt von uns allen ab. Eine Demokratie braucht den selbstbewussten und verantwortungsbereiten Bürger, der den Raum, der ihm zur Gestaltung übereignet ist, auch gestalten will und zu gestalten weiß. Der Staat, die Demokratie sind WIR. Der Staat und die Demokratie können nur so funktionsfähig, effektiv, tolerant, lebens- und liebenswert sein, wie WIR sie gestalten.