Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Der Osten - Chancen und Talente

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede bei der Berliner Tagesspiegel-Konferenz

©Lena Ganssmann

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede im Haus des Berliner Tagesspiegels anlässlich der Konferenz "Der Osten. Chancen und Talente"

Rede beim Berliner Tagesspiegel über ostdeutsche Chancen und Talente

04. Oktober 2023, Berlin

Es gilt das gesprochene Wort.

Sie haben diese Veranstaltung unter den schönen Titel "Der Osten. Chancen und Talente für Deutschland" gestellt. Diese Überschrift beherzigend möchte ich gerne genau darüber zu Ihnen sprechen. Chancen und Talente sind nicht gerade das, was man im öffentlichen Diskurs mit Ostdeutschland verbindet. Und damit sind wir gleich bei einem hartnäckigen Stereotyp angelangt. Denn es gibt diese Chancen und Talente – man muss nur die Augen und die Herzen weit genug öffnen, um sie zu erblicken.

Wenn man etwa in den Norden von Berlin schaut, entdeckt man das Unternehmen Orafol, welches von seinem Stammsitz in Oranienburg Kunststoffprodukte in der ganzen Welt vertreibt. Und wie viele erfolgreiche Unternehmen in Ostdeutschland ist Orafol familiengeführt und kann auf eine lange und wechselvolle Geschichte zurückblicken: 1808 als Wibelitz-Farbwerkstatt gegründet, 1957 teilverstaatlicht, 1972 dann die vollständige Verstaatlichung als VEB Spezialfarben Oranienburg und schließlich 1991 die Übernahme des Unternehmens durch die Betriebsführung.  Deutlich bekannter und sichtbarere ist eine andere Erfolgsgeschichte: Die Familie Dahl kehrt nach der Wiedervereinigung in die ostdeutsche Heimat zurück und eröffnete 1993 den ersten Erdbeerhof in Rövershagen-Purkshof bei Rostock. Heute ist Karls Erdbeerhof nicht nur ein beliebtes Ausflugsziel mit Hofladen, gläserner Manufaktur und Restaurantbetrieb, sondern mit der Karls Tourismus GmbH ebenfalls mit Sitz in Rövershagen im Mecklenburg-Vorpommern auch ein Betreiber von Freizeitparks und damit auch ein großer regionaler Arbeitsgeber. Ich erwähne dieses Beispiel nicht nur, weil ich Mecklenburger bin und häufig an den Höfen vorbeikomme. das sind nur zwei von vielen Beispielen für das, was es seit 33 Jahren in Ostdeutschland wieder ebenso wie in Westdeutschland, gibt: nämlich Unternehmergeist und den wirtschaftlichen Erfolg.

Denken Sie an die boomende Tourismusindustrie an der Ostsee, im Erz- oder Elbsandsteingebirge. Denken Sie an den Wissenschaftsstandort Ostdeutschland, der seit 1990 eine besondere Erfolgsgeschichte geschrieben hat, mit exzellenter Spitzenforschung und renommierten Einrichtungen, die nicht nur national, sondern auch international konkurrenzfähig sind und die Grundlage bildet für High-Tech- Unternehmen etwa im „Silicon saxony“. Oder denken Sie an den Kulturstandort Ostdeutschland. Chemnitz wird 2025 stolze Kulturhauptstadt sein - mit Strahlkraft in ganz Europa.

Verehrte Damen und Herren,

wir müssen uns diese realen Erfolge vergegenwärtigen, wenn wir über Ostdeutschland sprechen. Und vor diesem Hintergrund müssen wir auch Vorurteilen begegnen, die manche – gerade im Westen – pflegen. Die ostdeutschen Bundesländer sind keine armen oder hinterwäldlerischen Entwicklungsgebiete. Im Gegenteil. Ostdeutsche haben in Ostdeutschland in den letzten 33 Jahren beeindruckend viel geschafft.

Wenn wir auf die Zahlen blicken, dann sehen wir noch Luft nach oben, aber Schritt für Schritt holt der Osten auf. Der Anteil von Ostdeutschland am gesamten Bruttoinlandsprodukt hat sich seit der Deutschen Einheit deutlich erhöht: im Jahr 1991 betrug der Anteil noch 6,8 Prozent, im Jahr 2022 waren es 11,8 Prozent.

Es ist wichtig, dass wir uns das Erreichte und die Erfolge vor Augen führen. Denn diese Wirklichkeit scheint nicht so recht zu passen zur Gefühlslage, die in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung vorherrscht. Einige Menschen fühlen sich abgehängt, zu kurz gekommen oder gar diskriminiert. Der strukturelle Wandel allein kann es nicht sein, denn er betrifft die Menschen im tiefsten Westen, die in Nordrhein-Westfalen oder im Saarland leben, ebenso und stellt sie vor große Herausforderungen.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir wissen ja, bei den meisten Deutschen ist das Glas immer halb leer, statt voll und zuweilen unterstellt man den Ostdeutschen eine besonders negative Perspektive auf das Eigene. Aber statt den Mond anzuheulen, sollten wir uns zunächst noch einmal die eigene Geschichte vor Augen führen Ostdeutsche hatten bisher nur 33 Jahre Zeit zu erlernen, wie Demokratie und Marktwirtschaft funktionieren. Und sie mussten mit einem rasanten Systemwechsel klarkommen.

Und natürlich fiel es nicht allen leicht. Allzu viele fanden in den Jahren nach 1990 die neu errungene Freiheit, den Wettbewerb eher unbequem. Und es ist ja auch anstrengend, sich permanent mit anderen messen zu müssen. Wenn wir uns immer wieder neu behaupten müssen, dann können wir ja auch scheitern.

Die Einschränkung der politischen Freiheit, aber auch die Demontage jedes bürgerschaftlichen Engagements in Gesellschaft und Wirtschaft hat dazu geführt, dass das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten bei Ostdeutschen weniger ausgeprägt ist als bei Westdeutschen.

Und viele von denjenigen, die sich etwas zutrauten, zogen in den Wendejahren 1989/1990 in den Westen. Rund 400.000 Ostdeutsche fanden ihre berufliche Zukunft im Westen und um die Jahrtausendwende setzte eine weitere große Abwanderungswelle ein.

Sehr verehrte Damen und Herren,

mit dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist es so eine Sache. In Ostdeutschland haben fast drei Generationen, von 1933 bis 1989, in Diktaturen gelebt, in denen Angst und Anpassung eingeübt wurden. Dieses Verhalten ist so internalisiert, dass aus den ehemals Unterdrückten nicht über Nacht selbstbewusste Unternehmer und Unternehmerinnen werden. Wie auch damals im Westen Deutschlands braucht es Zeit, es braucht Hinwendung und es braucht wirtschaftliche und soziale Erfolge, um die Einzelnen zu beheimaten.

Stellen Sie sich vor, wie es etwa um Sachsens Wirtschaft heute bestellt sein könnte, hätte es nicht die staatssozialistischen Zwänge und die Auslöschung des Mittelstandes gegeben. Ich bin mir sicher, der Unterschied zu Baden-Württemberg wäre nicht allzu groß.

Und im Gegensatz zur Nachkriegszeit bestand und besteht für den Osten die Herausforderung der doppelten Transformation: Von der Plan- zur Marktwirtschaft und gleichzeitig von der fossilen zur nachhaltigen, von der analogen zur digitalen Wirtschaft. Verschärfend kommt die Schnelligkeit hinzu, mit der sich Wirtschaft und Gesellschaft verändern. Das nehmen viele Menschen, nicht nur in Ostdeutschland aber vor allem dort, als eine Entgrenzung wahr - und fürchten sie. Kompetenzen verlagern sich weg vom Nationalstaat hin zur EU. Der Wettbewerb ist global und die langfristigen Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt und unser aller Leben sind noch nicht überschaubar. Fast alle Bereiche unserer Ökonomie stehen mitten in Veränderungen. Nicht zuletzt beschäftigt die Zuwanderung der letzten Jahre unsere Gesellschaft mit vielen ungelösten Fragen.

Verehrte Damen und Herren,

lassen Sie mich ein paar Worte zum Thema Ängste verlieren. Sie sind mit ein Grund, warum unterschiedliche Reaktionsmuster in Ost und West erkennbar werden. Ängste gewinnen immer dort eine größere Bedeutung, wo der Einzelne oder die Gruppe weniger Selbstbewusstsein haben. Wer ein festes Wertefundament hat, beziehungsweise wer seine Rollensicherheit im gesellschaftlichen Raum gefunden hat, ist seinen Ängsten weniger ausgeliefert.

Die Westdeutschen sind nicht charakterlich höherstehend als die Menschen in den ostdeutschen Transformationsländern, sie hatten aber eine längere Zeit der Auseinandersetzung und der Einübung in der Demokratie und der Marktwirtschaft.

Von welchen Ängsten spreche ich? Ich beobachte Verlustängste, die große Gruppen ganz verschiedener Gesellschaften befallen. Verlustangst nicht nur materieller Art, sondern vor allem davor, das eigene Leben nicht mehr vollständig kontrollieren zu können. Davor, einem permanenten Wandel, etwa in der Arbeitswelt, ausgesetzt zu sein – und nicht mehr mitzukommen bei Globalisierung, Digitalisierung, künstlicher Intelligenz. Davor, durch Einwanderung unter Druck zu geraten, die kulturell verunsichern und Konflikte in der bestehenden Gesellschaft hervorbringen kann. Davor, dass sich soziale Strukturen weiter rasant wandeln, etwa die Rolle der Familien und der Geschlechter. Davor, ständig mit hochkomplexen Fragen konfrontiert zu werden. Letztlich davor, die Verhältnisse und Rahmenbedingungen des eigenen Lebens, des Wohnortes oder des Landes nicht mehr überblicken und beeinflussen zu können. Angst – kombiniert aus permanentem Innovationsdruck und Ent-Traditionalisierung, letztlich vor dem Verlust von Beheimatung in einem umfassenden Sinne.

Während die meisten Menschen mit Neugierde und positiven Erwartungen auf Veränderungen blicken oder sie allenfalls als Herausforderung betrachten, lösen die gleichen Prozesse in einem Teil der Gesellschaft Ängste aus - vor Überforderung und sozialem Abstieg oder zunehmender Orientierungslosigkeit.

Viele dieser Ängste sind überaus rational. Werden jetzt nicht die richtigen Weichen gestellt, werden die Veränderungen ja tatsächlich viele Verlierer hervorbringen. Die Ängste zeigen sich aber oftmals an Stellen, die wegführen von den wahren Problemen. Und genau dies muss demokratische Politik berücksichtigen: Sie muss Sensibilität zeigen für die Wirkweisen von Verunsicherung und Angst und geeignete Gegenkräfte entwickeln.

Populisten verbinden die Benennung tatsächlicher oder vorgeblicher Probleme sehr häufig mit Schein- und Patentrezepten und haben es so natürlich leichter als Politiker, die sich tatsächlichen Lösungen verschrieben haben. Einfach zu behaupten, vermeintliche alte Zeiten - ohne die Komplexität von Moderne und Freiheit - ließen sich wiederherstellen, das mag in Wahlkampzeiten eine erfolgsversprechende Antwort auf Verlustängste von Menschen sein.

Manchmal reicht es sogar, wir sehen es gerade, wenn Populisten einfach dagegen sind – gegen Klimaschutz, gegen die Transformation der Wirtschaft, gegen eine vernünftig gesteuerte Zuwanderungspolitik. Sie sind die Nutznießer einer Unzufriedenheit, die von den etablierten Parteien nicht aufgefangen wird. Insofern enthält der Erfolg von Populisten auch immer eine Aussage über die traditionellen Parteien: Denn, so schrieb es Ralf Dahrendorf, erst wenn diese „Themen zu vermeiden suchen, können Skrupellosere aus ihnen Kapital schlagen“.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die ökonomischen, wissenschaftlichen und auch die politischen Entwicklungen haben so etwas wie eine neue Schwellensituation geschaffen, die nicht nur die Politik, sondern jeden demokratisch gesinnten Bürger herausfordert. Denn Veränderungen bringen zwangsläufig Verunsicherndes, Befremdliches, sogar Bedrohliches mit sich. Wir haben uns als Menschen mit dem Gedanken anzufreunden, dass die Veränderungen so schnell sein werden, wie niemals zuvor – und dass wir so schnell Neues werden lernen müssen wie niemals zuvor. Auf die Stabilität, an die wir uns in der Arbeitswelt so lange gewöhnt hatten, können wir nicht mehr bauen. Doch statt diese Zukunftsvision als ein gefahrvolles Tal der Tränen auszumalen, sollten wir uns auf Veränderungen positiv einstellen und alle Menschen möglichst gut für sie wappnen, um jedenfalls einen Teil der Ängste zu verringern.

Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass es zu den wichtigsten Aufgaben in unserer Gesellschaft gehört, die Menschen nicht zu ermutigen, sich gegen das zu stemmen, was wir nicht verhindern können, sondern sie zu ermutigen, sich dem vielen Neuen und auch Fremden zu stellen. Wir können das schaffen, auch weil wir gerade in den ostdeutschen Ländern erst vor relativ kurzer Zeit die ermächtigenden Erfahrungen gesammelt haben, dass wir Not und Krisen überwinden und das Land zu einem lebens- und liebenswerten Raum machen können.

Wer Belege dafür sucht, findet sie auch im jährlichen Bericht „Zum Stand der Deutschen Einheit“, den der Staatsminister und Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland Carsten Schneider vor wenigen Tagen vorgestellt hat. Darin heißt es unter anderem: Der Anteil von gebürtigen Ostdeutschen in Spitzenpositionen hat sich im Vergleich zu 2018 von 10,9 auf 12,2 Prozent erhöht. Und die Wirtschaft hat im letzten Jahr im Osten wieder stärker zugelegt als im Westen – und zwar um 2,3%, statt 1,5%. Und auch bei der Bruttowertschöpfung und der Produktivität holen die ostdeutschen Länder weiter auf. All das zeigt uns Zweierlei. Zum einen: Es geht aufwärts und zum anderen: Wir brauchen Geduld. Ostdeutsche können Wandel. Wichtig sind Impulse, wie sie auch von der heutigen Veranstaltung ausgehen:

Wir müssen die Chancen und die Talente benennen. Sie lassen uns optimistisch in die Zukunft blicken. Wie zum Beispiel in Sachsen, wo wir beobachten können, mit welchem Innovationsgeist ostdeutsche Unternehmer handeln. In Freiberg, einer Stadt am Rande des Erzgebirges, die vor allem durch den Bergbau geprägt ist, gibt es eine Firma, die Komponenten für Halbleiter herstellt, die wir heute alle in unseren Handys finden.

Oder schauen wir nach Sachsen-Anhalt. Dort soll ab dem nächsten Jahr eine Chip-Fabrik von Intel entstehen. Klar, großzügige staatliche Subventionen haben die Standortauswahl beeinflusst, aber auch das Fachkräfte- und Innovationspotential in Sachsen-Anhalt, wie es etwa die Gründer des Start-Up Tesvolt aus Wittenberg gezeigt haben. Innerhalb von drei Jahren wurde aus einer innovativen Idee zur intelligenten Stromspeicherung in Batterien ein international erfolgreiches Unternehmen. Sie sehen, Ostdeutschland kann Zukunft – sogar in Sachen Digitalisierung und Transformation der Energiewirtschaft.

Ich weiß, dass die großen globalen Herausforderungen und Russlands Krieg für uns Zumutungen mit sich bringen. Ich weiß, dass es nicht allen Teilen der Bevölkerung leichtfällt, sich dem Wandel und dem Fortschritt zu stellen und dabei die Risiken nicht zu fürchten. Ich weiß, dass die Folgen von Sanktionen, von Wohlstandsverlusten und Inflation nicht gleichmäßig auf alle Schultern verteilt sind und es zuerst die Schwächsten in unserer Gesellschaft trifft. Ich weiß um die teils überbordende Bürokratie und oft schwerfällige Verwaltung. Und ich weiß um die Macht der Ängste.

Ich weiß aber auch um die Kraft, die in den Menschen wächst, wenn sie als Bürger verantwortlich, mutig und solidarisch leben. Denn einmal verweisen wir auf die Erfolge, die aus unserer sozialen Marktwirtschaft erwachsen sind, einem System, das die von Armut Betroffenen unterstützt und den Stärkeren Solidarität abverlangt. Einem System, dass den fairen Wettbewerb ermöglicht, Forschung und Innovationen fördert und wirtschaftlichen Erfolg wertschätzt. Und zum anderen kann nur in unserer Gesellschaft ein zutiefst menschliches Bedürfnis gelebt werden: Menschen können frei von Zwang eigenverantwortlich ihre Gesellschaft, ihr Miteinander gestalten. Und weil sie Freiheit letztlich definieren als Verantwortung, nehmen sie wahr, dass wir nur in einer Ordnung der Bezogenheit aufeinander dauerhaft erfolgreich sein können.

Wir haben die Freiheit, wir haben die Talente und wir habe alle Chancen auf eine gute Zukunft. Nutzen wir sie.