Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Mission Transformation

Menü Suche
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede an der Universität Mannheim

©Staatsministerium Baden-Württemberg

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede an der Universität Mannheim

Rede bei der Veranstaltung "Gemeinsam Handeln"

20. Oktober 2023, Mannheim

Es gilt das gesprochene Wort. 

Haben Sie ganz herzlichen Dank für die Einladung nach Mannheim!

Lieber Herr Kretschmann, ich habe mich gefreut, als Sie mich angefragt haben, heute zu Ihnen zu kommen. Ich verrate Ihnen wahrscheinlich nichts Neues, wenn ich sage, dass ich mich sehr gerne in Ihrem schönen Bundesland aufhalte. Hier vereint sich das Beste, was Deutschland zu bieten hat: Hohe Lebensqualität, eine starke Wirtschaft, gute Jobs und – darüber sprechen wir heute – Ideen für die Gestaltung unserer Zukunft.

Nun habe ich vernommen, dass Sie sich auch im Bereich Klimaneutralität ehrgeizige Ziele gesetzt haben und dass Baden-Württemberg die erste klimaneutrale Wirtschaft der Welt werden will. Sie werden heute von mir keine politische Handlungsanleitung erwarten, wie Klimaneutralität mit konkreten Schritten umgesetzt werden kann. Aber diese Veranstaltung soll doch das Gespräch darüber intensivieren, wie die gewaltige Transformation, die sich auf die Politik insgesamt, die Gesellschaft und unsere Art zu wirtschaften, auswirkt, gelingen kann. Wenn ich mich als Mensch fortgeschrittenen Alters hier zu Wort melde, lieber Herr Kretschmann, so will ich auch daran mitwirken, dass meine Kinder, Enkel und Urenkel eine lebenswerte Zukunft haben. Und als Christ möchte ich zudem, dass wir uns stärker bemühen, die Schöpfung zu bewahren, statt sie zu zerstören.

Meine Damen und Herren,

lassen Sie mich den Fokus über das Klima und die Transformation unseres Wirtschaftsmodells zunächst etwas weiten und einen Schritt zurücktreten. Der italienische Philosoph, Schriftsteller und Politiker Antonio Gramsci hat über jenen gefährlichen Moment einer Krise, in dem das Alte stirbt, das Neue aber noch nicht zur Welt kommen kann, geschrieben: „In diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“ Diese Beobachtung können wir wahrlich auf verschiedene Erschütterungen beziehen, die unsere liberale Demokratie seit geraumer Zeit widerstehen muss.

Wenn wir heute auf unser Land und in die Welt schauen, dann sehen wir disruptive Entwicklungen, neue Bedrohungen, die uns überrascht haben, Kriege und Konflikte, die uns unvorbereitet treffen, die unser außen- und sicherheitspolitisches Handeln völlig neu herausfordern. Die Feinde der Freiheit fordern uns heraus. Die mörderischen Terrorakte der Hamas bedrohen die Sicherheit Israels. In seinem neoimperialen Wahn versucht Russland die Souveränität der demokratischen Ukraine zu beseitigen und seine Menschen auszulöschen oder zu assimilieren. Auch im Innern nehmen wir wahr, dass die liberale Demokratie unter Druck gerät, dass das politische Machtgefüge sich verändert, die gesellschaftliche Polarisierung zunimmt und dass autoritäre, populistischer Kräfte den Pluralismus und die Rechtsstaatlichkeit infrage stellen.

Ich habe zu dieser doppelten Bedrohung, der die liberale Demokratie ausgesetzt ist, gerade ein Buch mit dem Titel „Erschütterungen“ veröffentlicht, weil ich mir ernste Sorgen mache. Unsere Demokratie erscheint mir manchmal wie ein Gelände, in dem die Bürger – und auch die Politik – zu lange sorglos in den Tag lebten und dabei ignorierten, dass ihnen von außen und innen Gefahren drohten. Diese Sorglosigkeit gilt auch für die Klimakrise, die sich nicht nur wie ein Hintergrundrauschen bemerkbar macht, sondern für eine nachhaltige Verunsicherung sorgt. Denn auch der Wandel des Klimas ist eine Herausforderung für die Handlungs- und Zukunftsfähigkeit der liberalen Demokratie. Es sprengt in der Tat die Grenzen unserer Vorstellungskraft, was geschehen mag, wenn die globale Erderwärmung außer Kontrolle gerät.

Und dennoch müssen wir uns den Fakten stellen: Extreme Wetterphänomene sind keine abstrakten Szenarien, klimatische Veränderungen führen schon heute dazu, dass Ernten ausbleiben und Lebensräume durch Naturkatastrophen zerstört werden. In Deutschland realisieren wir auch, dass wir eben nicht zu den Vorreitern im Bereich Nachhaltigkeit gehören und die ökologische Modernisierung ein Stück weit verschlafen haben. Der russische Angriffskrieg hat zudem offenbart, dass die Energieversorgung unseres Landes auf tönernen Füßen stand und dass wir beim Thema Erneuerbare großen Nachholbedarf haben.

Meine Damen und Herren,

die gute Nachricht ist, dass gesellschaftlich wie politisch ein dringender Handlungsbedarf bereits erkannt wurde: Klimaschutz ist parteiübergreifend ein Thema, das ernst genommen wird. Es ist nicht meine Aufgabe, aktuelle operative Fragen der Bundes- oder Landespolitik zu bewerten. Aber es scheint mir wichtig festzuhalten, dass alle im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien sich zum Pariser Klimaabkommen von 2015 bekennen. Und diese Verpflichtung bedeutet, dass Deutschland dazu beiträgt, die Erderwärmung auf unter zwei Grad Celsius und möglichst unter 1,5 Grad Celsius zu beschränken. Bereits in 22 Jahren will unser Land CO2-neutral wirtschaften. Dies ist eine gigantische Aufgabe für uns alle.

Den meisten Menschen ist bewusst, dass wir im Anthropozän leben, in dem wir Menschen zur bestimmenden Kraft in Umwelt und Klima geworden sind, weil wir massiv in die Naturkreisläufe eingreifen. Dass wirksames politisches Handeln dringend geboten ist, um die globale Erhitzung einzudämmen, daran erinnert uns eine außerordentlich wache und aktive Zivilgesellschaft, die sich selbstorganisiert in den Diskurs über die Klimapolitik einbringt. Einige Protestformen halte ich zwar für wenig zielführend. Aber ich freue mich auch über jedes konstruktive Engagement von jungen Menschen, die sich für zuständig erklären und Verantwortung für sich und ihre Zukunft übernehmen. Laut einer neuen Eurobarometer-Umfrage ist eine überwiegende Mehrheit der Europäer der Ansicht, dass der Klimawandel ein ernstes Problem für die Welt ist. 60 Prozent der Deutschen und mehr als die Hälfte der Europäer (58 Prozent) finden, dass der Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft beschleunigt werden sollte. Dort, wo die Politik zu langsam oder wenig ambitioniert agiert, gibt es Kontrollmechanismen, die greifen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem wegweisenden Urteil darauf hingewiesen, dass Freiheit für die kommenden Generationen nur im Rahmen einer intakten Natur und eines stabilen Klimas möglich sein wird.

Der russische Angriffskrieg und die daraus resultierenden hohen Energiepreise haben vielen Menschen vor Augen geführt, dass Abhängigkeiten von nicht-demokratischen Energielieferanten enorme Gefahren bergen. Überhaupt profitieren autoritäre, monarchistische und diktatorische Staaten überproportional von unserem immer noch ungestillten Hunger nach fossilen Energieträgern und nicht selten werden Gewinne genutzt, um nicht nur das eigene Regime zu stützen, sondern auch um religiöse Fanatiker und Terroristen zu unterstützen. Wir erkennen: Das Thema Klima lässt sich schon lange nicht mehr vom Thema Sicherheit trennen – nicht nur, was die langfristigen Folgen anbelangt.

Ich neige bekanntlich nicht zum Alarmismus. Aber es besteht doch kaum ein Zweifel daran, dass sich das Klima jetzt schon merklich wandelt. Wir wissen, dass sich die weltweite Erhitzung am oberen Rand der von den Klimamodellen vorhergesagten Temperaturen bewegt. Im Juli dieses Jahres wurden mehrere traurige Weltrekorde für die höchsten je gemessenen Werte aufgestellt. Der September war in Deutschland im Durchschnitt 3,4 Grad Celsius wärmer, als in den letzten 30 Jahren. Das Robert-Koch-Institut schätzt die Zahl der hitzebedingten Sterbefälle im laufenden Jahr auf 3200.

Wenn wir ehrlich sind, meine Damen und Herren, ist es dennoch mitunter so: „Wir fühlen zwar, dass vieles nicht in Ordnung ist, aber bitte heute noch keinen Preis dafür, noch keine Aufgabe dafür, noch keine Last dafür übernehmen.‘“ Diese Worte stammen nicht von mir, sondern von der ehemaligen Umweltministerin Angela Merkel.

Das Statement von 1997 machen deutlich, dass es uns nicht leichtfällt, uns auf die „Mission Transformation“ zu begeben und zu erkennen, so geht das Zitat weiter: „Wenn ihr es heute nicht macht, wird es euren Kindern und Enkelkindern doppelt, dreifach teurer.“ 

Angesichts multipler und teilweise globaler Krisen, auch angesichts der zahlreichen Umwälzungen der modernen Welt – von IT-Revolution und Globalisierung über Künstliche Intelligenz bis zur Migrationsproblematik – ist die Beschäftigung mit äußerst bedrohlich wirkenden Zukunftsszenarien nicht für alle Menschen selbstverständlich. Nicht jeder will wissen, was es bedeutet, dass wir uns Kipppunkten nähern, dass die Polkappen abschmelzen und Permafrostböden auftauen. Diese Entwicklungen rufen doch Gefühle  der Ohnmacht, der tiefen Sorge und auch der Ängste hervor.

Für viele Menschen hat sich das Gefühl der Sicherheit reduziert. Und so komme ich zurück auf diesen Moment, den Gramsci beschreibt: Wir stehen am Beginn einer neuen Epoche, in der die Nutzung der fossilen Energie zu Ende geht. Und es geht jetzt darum, eine Wirtschaft, die 250 Jahre mit Kohle, Öl und Gas betrieben wurde, innerhalb der nächsten Jahre komplett auf erneuerbare Energien umzustellen. Noch haben wir dies als Gesellschaft nicht vollständig verinnerlicht: Aber die Transformation erfordert eine schnelle Dekarbonisierung der Wirtschaft und ihrer Produkte. Und als Industrieland kommt Deutschland hierbei eine zentrale Rolle und auch international große Verantwortung zu.

Unsere Mentalitäten und Gewohnheiten müssen sich ändern, aber es mangelt uns doch auch an der Vorstellungskraft, wie wir diese Jahrhundertaufgabe bewältigen wollen - zusätzlich zu all den anderen Aufgaben, die auf der politischen Agenda stehen. Wir erkennen: Wir stehen vor epochalen Herausforderungen, nicht nur ökonomisch und ökologisch, sondern auch gesellschaftlich. Wir sehen auch, dass wir uns in einem globalen Umfeld befinden, dass wir innerhalb der EU und der internationalen Gemeinschaft abgestimmt handeln müssen, dass wir Verantwortung tragen auch für Staaten, die besonders unter den Folgen der Klimaveränderung leiden oder die bei der Einsparung von CO2 Unterstützung benötigen.

Herr Ministerpräsident, Sie wissen, dass wir für die anbrechende neue Zeit auch neue Erzählungen brauchen, die es uns erlauben, an das Gelingen der komplexen ökologischen Transformation zu glauben. Daher sprechen Sie völlig zu Recht davon, dass die vor uns liegenden Aufgaben eben nicht nur eine Jahrhundertherausforderung, sondern auch eine Jahrhundertchance ist. Ich glaube, dass wir diese Art der Zuversicht dringend brauchen. Und ich bin mir auch sicher, dass sie angesichts der schöpferischen Kraft, die in diesem Land steckt, auch angebracht ist.

 

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch mit dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann

©Staatsministerium Baden-Württemberg

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch mit dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann

Unser Land hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine beispiellose Erfolgsgeschichte erlebt - Demokratiewunder, Wirtschaftswunder, Westbindung, Wiedervereinigung, europäische Integration, Sicherheit und Wohlstand – politische und wirtschaftliche Stabilität. Nun schreiben wir ein neues Kapitel. Gibt es so etwas, wie eine positive Zukunftsvision? „Das Land, das als erstes die Klima- und Ressourcenneutralität erreicht, hat seine wirtschaftliche Basis auf den Weltmärkten für Jahrzehnte gesichert“, hat ein deutscher Ökonom gesagt. Und gerade Sie hier im Hochtechnologieland Baden-Württemberg haben dabei mehr zu gewinnen als zu verlieren. Nachhaltige Zukunftstechnologien sind längst Wachstumstreiber und Exportschlager.

Politisch ist dabei entscheidend, welche Erzählung sich durchsetzt. Bis heute hält sich das Bild von der Gegnerschaft zwischen Wirtschaft und Umweltschutz in unseren Köpfen oder von der Notwendigkeit einer Aussöhnung zwischen Wirtschaft und Umweltschutz. Heute und künftig wird es aber so sein, dass Umweltschutz nicht nur mit Wohlstand vereinbar ist, sondern dass er zu einem tragenden Geschäftsmodell wird. Trotz Herausforderungen durch Auflagen und steigende CO2-Preise erwarten viele Großunternehmen laut einer Umfrage der Kreditanstalt für Wiederaufbau positive – oder zumindest keine negativen – Auswirkungen auf ihre Wettbewerbsfähigkeit durch die Umstellung auf Klimaneutralität. Die anbrechende Ära gehört den Unternehmen, die Umweltschutz und Nachhaltigkeit in ihre Geschäftsmodelle integrieren. Diejenigen, die innovative Lösungen für ökologische Herausforderungen entwickeln, werden die wirtschaftlichen Pioniere der Zukunft sein. Lassen Sie mich an dieser Stelle aber auch festhalten: Die Wirtschaft braucht für eine erfolgreiche Transformation klare und verlässliche Vorgaben des Staates. Es wird dabei nicht nur Gewinner geben. Schon aus dem den strukturellen Umbrüchen der Vergangenheit wissen wir um die Härten eines solchen Prozesses, den wir mit den Mitteln der sozialen Marktwirtschaft begleiten müssen. Wenn neue Arbeitsplätze entstehen und alte ersetzt werden, dann muss der Staat Orientierung und Unterstützung bieten. Wir wollen auch nicht, dass Unternehmen abwandern, weil sie andernorts bessere Rahmenbedingungen vorfinden. Essenziell für den Erfolg sind dabei verlässliche wirtschaftliche Anreize, schlanke Planungs- und Genehmigungsverfahren und nicht zuletzt durch eine leistungsfähige Verwaltung.

Die Richtung, die wir einschlagen müssen, ist klar: Die von Menschen verursachte Erderhitzung kann auch von Menschen gestoppt werden. Darin besteht unsere kollektive Verantwortung. Klimaschutz und Wohlstand, Ökonomie und Ökologie, das ist eben kein Widerspruch, sondern eine Formel für die klimaneutrale Zukunft.

Meine Damen und Herren,

ich könnte nun hier einen Punkt machen. Aber das, was ich gerade vorgetragen habe, ist nur ein Teil der Wahrheit. Auch wenn wir ihn als gesamtgesellschaftliche, gemeinsame große Aufgabe definieren: Der Weg in das postfossile Zeitalter ist eben nicht nur verlockend und beglückend. Die „Mission Transformation“, die wir heute besprechen, erzeugt nicht nur neue Chancen. Sie bringt auch neue Ängste hervor, die in Teilen der Gesellschaft das Gefühl einer Dauerkrise noch verstärken. Wir haben jüngst im Kleinen bei der Diskussion über das Heizungserneuerungsgesetz gesehen, welches Konflikt- und Empörungspotenzial bei Veränderungen lauert, die die private Lebenswirklichkeit der Menschen in unserem Land betreffen.

Es ist offensichtlich: Die Dekarbonisierung bringt Veränderungen in der Wirtschaft und Gesellschaft mit sich und erfordert Anpassungsfähigkeit. Auch das haben Sie erkannt, wenn Sie, lieber Herr Kretschmann, davon sprechen, dass die Politik die Menschen mitnehmen muss auf dem Weg in die klimaneutrale Zukunft.

Die Frage des Klimawandels darf nicht zum Gegenstand eines neuen Kulturkampfes werden, der tiefe ideologische Gräben aufreißt. Einige Vertreter linker Ideologien sehen die Klimakrise als Anlass, den Kampf gegen den Kapitalismus neu zu entfachen. Sie halten einen Lebensstil für unumgänglich, der auf dem Prinzip "Weniger ist mehr" basiert. Auf der anderen Seite gibt es reaktionäre und libertäre Kräfte, die jeden staatlichen Eingriff in den Markt als übertriebene Regulierung ablehnen und als Einschränkung persönlicher Freiheiten betrachten. Selbst Maßnahmen von Investmentunternehmen, die Umwelt, soziale Belange und gute Unternehmensführung berücksichtigen, stoßen bei ihnen auf Ablehnung, da sie dies als Anbiederung an einen vermeintlich übertriebenen „Zeitgeist“ betrachten.

In dieser holzschnittartigen Debatte wird deutlich, dass es einen ideologischen Konflikt darüber gibt, wie unsere Gesellschaft mit der Klimakrise umgehen sollte. Die Aufgabe der demokratischen Mitte liegt darin, diese Diskussion respektvoll zu führen und gemeinsame Lösungen zu finden und umzusetzen.

Meine Damen und Herren,

unseren Wohlstand und unsere Freiheit können wir nur wahren und mehren, wenn uns die Gestaltung des Weges in das post-fossile Zeitalter gelingt. Wir stehen also vor einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, an der alle Parteien des demokratischen Spektrums, von progressiv bis konservativ, mitwirken können, ja mitwirken müssen. Für diese Aufgabe sind breite demokratische Mehrheiten unerlässlich. Schon jetzt wird um die besten Instrumente und Schritte gerungen. Der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz und der grünliberale Vordenker Ralf Fücks haben zu Recht festgestellt: „Wer die liberale Moderne verteidigen will, muss die ökologischen Folgekosten der Freiheit in Rechnung stellen. Im Kern geht es darum, Umweltgüter mit einem adäquaten Preis zu versehen und damit Anreize für ökologische Innovationen und neue Geschäftsmodelle zu schaffen.“ Es klingt paradox: Aber um die Freiheit und den Wohlstand auch in einer klimaneutralen Zukunft bewahren zu können, müssen wir bereit sein, viele Dinge zu verändern - auch solche, die unsere bisherige Lebensweise betreffen. Für einen Teil unserer Gesellschaft, stellt diese Aussicht eine Bedrohung dar. Sie aktiviert eine „autoritäre Disposition“, die Sehnsucht nach Gewissheit und Sicherheit, nach Homogenität und Ordnung. Die Verhaltensökonomin Karen Stenner, deren Studien ich mir in den letzten Jahren genauer angeschaut habe, hat festgestellt, dass in den europäischen Demokratien gut 30 Prozent der Bevölkerung eine derartige Prägung aufweisen. Prinzipiell kann diese Disposition, die grundsätzlich nicht negativ zu bewerten ist, im rechten wie im linken politischen Spektrum auftauchen. Das Ziel ist stets eine schützende homogene „Wir“-Gruppe, welche allen, die ihr angehören, dieselben Normen und Verhaltensweisen vorgibt und Gewissheit verspricht. Freiheit ist dieser Gruppe weniger wichtig als Sicherheit, Wandel und Risiko werden als bedrohlich angesehen. Der außergewöhnlich große Wandel, der diese Zeit prägt, führt zu einer Häufung und Intensivierung der in dieser Gruppe vorhandenen Ängste. In dieser Situation erstarken die populistischen Kräfte, sie wissen, politisch zu instrumentalisieren, was die betreffenden Menschen ängstigt oder verunsichert. Wir haben es mit sehr starken Mobilisationsfaktoren zu tun: Realer oder befürchteter Normen- bzw. Kontrollverlust führt dann zu Intoleranz und Radikalisierung. Wenn wir die jüngere Vergangenheit betrachten – insbesondere die neuen Allianzen, die während der Corona-Pandemie und nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine entstanden sind – sehen wir mit Erschrecken, dass eine Querfront entstanden ist, die die „Misstrauensgemeinschaft“ unzufriedener Bürger dauerhaft zum Reservoir einer systemfeindlichen Politik machen möchte. Elitenkritik, Antipluralismus und die Infragestellung der repräsentativen Demokratie betreffen immer stärker auch das Feld der Klimapolitik. Schon seit der Bundestagswahl 2017 versucht die AfD gezielt, Wähler anzusprechen, die am menschengemachten Klimawandel zweifeln.

Meine Damen und Herren,

wir befinden uns in einem Moment in der Geschichte unseres Landes, in dem wir die lange Phase des wirtschaftlichen Erfolgs nur fortsetzen können, wenn wir den Mut zu Veränderungen aufbringen. Nicht das Beharren auf alten Gewissheiten, ständiges Jammern und Klagen oder gar das Aussprechen wütender Schuldzuweisungen werden uns in Zukunft Wohlstand ermöglichen, sondern nur die Bereitschaft den Wandel aktiv zu gestalten.

Wenn wir unser Erfolgsmodell erhalten wollen, müssen wir Antworten auf die Frage finden: Welche Veränderungen erfordern die Fehlentwicklungen der Vergangenheit und die Entwicklungstrends der Gegenwart? Es liegt an uns, diese Herausforderungen nicht nur als Bedrohungen zu sehen, sondern als Anstoß für einen konstruktiven Wandel, der unser Land in eine bessere Zukunft führt. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wären es Neugier und Begeisterung für die Zukunft, die wir gemeinsam gestalten werden.

Wenn wir den Blick über Deutschland hinaus weiten, dann sehen wir, dass sich die Dinge bewegen. In den USA versucht Präsident Biden mit massiven Investitionen nicht nur die Klimaneutralität näherzukommen, sondern auch Jobs und Innovationskraft des Landes zu stärken. Der EU hat mit dem Green New Deal einen ähnlichen Weg eingeschlagen. Wir könnten auch die Geschichten erzählen, die Vorreiter in Sachen nachhaltiger Energie weltweit schreiben: Ein Land wie Kenia bezieht seine Energie schon heute zu 90 Prozent aus erneuerbaren Quellen. Island nutzt erneuerbare Energiequellen wie Geothermie und Wasserkraft für nahezu 100% seiner Energiebedürfnisse. Dänemark ist führend in der Windenergieproduktion.

Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, die Transformation zur Klimaneutralität mit deutschem Erfinder- und Innovationsgeist zu meistern. Gerade der demokratische Wettstreit um die besten Ideen bietet uns einen politischen Gestaltungsraum, der es erlaubt, sich der rasant verändernden Welt anzupassen und die Marktwirtschaft kann innovative Lösungen hervorbringen.

Gleichzeitig müssen wir alle Menschen in unserem Land stärker einbeziehen, auch jene, denen diese Veränderungen Angst machen. Das Image des „Kümmerers“ darf nicht zum Aushängeschild und Markenzeichen radikaler Kräfte werden. Deshalb brauchen wir neue Formate und Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung und auch zur Teilhabe auf kommunaler Ebene, wie es sie beispielsweise bei Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien bereits gibt. Eine starke Zivilgesellschaft macht es zudem Extremisten und Populisten deutlich schwerer, mit ihren Sirenengesängen zu verfangen.

Unabdingbar scheint mir neben realistischen politischen Konzepten auch eine deutliche Stärkung der politischen Kommunikation. Es ist wichtig, dass die Politik die Balance zwischen dem Schutz der Umwelt und den Bedürfnissen und Sorgen der Menschen findet. Dies erfordert eine sorgfältige Abwägung und einen offenen Dialog, um sicherzustellen, dass möglichst wenige in dieser Phase der Transformation verloren gehen.

Wenn sich die Komplexität der politischen Probleme erhöht, dann muss Politik ihre Botschaften anpassen, um zu den Wählerinnen und Wählern durchzudringen. Wenn ich nun zu einfachen Botschaften ermuntere, dann ist damit kein billiger Populismus gemeint. Lösungsorientierte Politik verführt nicht. Sie arbeitet nicht mit Ressentiments. Ich meine eine erhellende Vereinfachung, die es uns erlaubt, Probleme genau zu beschreiben und die Schritte benennt, die erforderlich sind, um Lösungen näher zu kommen. Mehr als je zuvor ist mir in den letzten Jahren bewußt geworden: ohne gelingende - also verbesserte - Kommunikation wird es schwer sein, die liberale Demokratie zu bewahren und zu schützen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

mir ist durchaus bewusst: der Teufel steckt im Detail und wofür es im Allgemeinen große Zustimmung gibt, scheitert es im Konkreten dann doch. Wandel gerne, aber doch bitte nicht vor meiner Haustür. Klar ist: Ohne eine kräftezehrende und kleinteilige Überzeugungsarbeit werden sich viele Projekte nicht realisieren lassen, weil es an der notwendigen Zustimmung fehlt und man sich in einer offenen Gesellschaft auch mit großer Kreativität und Leidenschaft dem Verhindern widmen kann. Im Wissen darum wird dann die Gestaltungsform des Kompromisses zu verteidigen sein, denn hinter ihm können sich große Mehrheiten versammeln. Nicht das Streben nach Perfektion wird uns den Wandel erfolgreich gestalten lassen, sondern die Suche nach dem bestmöglichen Kompromiss, hinter den sich die innovativen Erfindergeister und Zukunftsenthusiasten genauso stellen, wie die beständigen Bedenkenträger und Fortschrittsmuffel. In unserer demokratischen Gesellschaft haben alle Menschen das gleiche Recht, die Zukunft mitzugestalten. Aber erst aus dem respektvollen Austausch von Argument und Gegenargument und der  Bereitschaft zum Kompromiss erwächst das WIR unserer Gesellschaft.

So wünsche Ihnen und uns, dass es den Bürgerinnen und Bürgern in Baden-Württemberg tatsächlich gelingt, gemeinsam das ehrgeizige Ziel zu erreichen, ein zukunftsfähiges Wirtschaftsmodell zu etablieren und die erste klimaneutrale Wirtschaft der Welt zu werden. Es wäre eine gute Nachricht für Deutschland und die Welt insgesamt!