Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Sinfoniekonzert Exilmuseum

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält ein Grußwort in der Deutschen Oper

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält ein Grußwort in der Deutschen Oper

Sinfoniekonzert "Wider das Vergessen" zugunsten des Exilmuseums

09. Oktober 2023, Berlin

Es gilt das gesprochene Wort.

Es ist mir eine große Freude, Sie heute Abend hier in der Deutschen Oper begrüßen zu dürfen. Meine Freude ist deshalb so groß, weil wir uns Schritt für Schritt der Realisierung eines Herzensprojekts nähern.

Vor sechs Jahren, 2017, haben engagierte Bürgerinnen und Bürger die Stiftung Exilmuseum Berlin gegründet. Darunter die verehrte Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, unser großherziger Mäzen Bernd Schultz, der ehemalige Staatssekretär für Kultur in Berlin und vielfache Vorstand von Stiftungen, André Schmitz, der Mitinitiator des Stiftungsnetzwerks Berlin, Kai Drabe, die Kulturmanagerin Ruth Ur, der ausgewiesenen Museumsförderer Peter Raue sowie der leider mittlerweile verstorbene Professor Christoph Stölzl.

Es ist das gemeinsame Anliegen, das uns zusammengeführt hat, einen vernachlässigten Bereich auf der Landkarte der Erinnerungskultur durch lebendige Erzählungen zu füllen. Die Erzählungen handeln von denjenigen, die nach 1933 vor politischer Verfolgung, Krieg und Unterdrückung fliehen mussten. Sie alle mussten tief in der Seele dieselbe schmerzliche Erfahrung machten, die der Schriftsteller Jean Améry, Flüchtling vor Nazi-Deutschland und Überlebender von Bergen-Belsen, in die einfache, für die einen tröstliche, für die anderen bedrückende Formel fasste: „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben“.

Mit dem Exilmuseum am Anhalter Bahnhof soll ein Raum entstehen für das gemeinsame Erinnern. Dieses schulden wir auch diesen Opfern der NS-Diktatur. Aber wir schulden es auch uns selbst, um ein komplettes Bild unserer historischen Herkunft zu gewinnen. Denn die Menschen einer Nation sind immer auch von dem geprägt, was die Vorgängergeneration erlebt, verschuldet oder erlitten hat.

Mit unserem Vorhaben, in der Mitte der Hauptstadt ein Museum des Exils zu errichten, würdigen wir die Rolle und die Bedeutung derer, denen die Flucht ins Exil gelang. Wer wären wir eigentlich ohne die Frauen und Männer, die aus dem Exil zurückkehrten und mit ihrer Glaubwürdigkeit und Standfestigkeit die tiefgreifende Erneuerung unseres Landes befördert haben? Ich denke etwa an Willy Brandt oder Fritz Bauer, an Thomas Mann, Tilla Durieux. Wer wären wir ohne all die Künstler und Schauspieler, die Architekten und Schriftsteller, Wissenschaftler, Unternehmer, die im Exil eine neue Existenz aufbauten und zu beachtlichen Erfolgen führten.

Die unzähligen Schicksale, von denen das Exilmuseum erzählen wird, sind zunächst Anlass für das Mitgefühl gegenüber denen, die gehen mussten. Zugleich aber sind sie Anlass für das bewusste Erinnern an gelebte Entschlossenheit und Humanität. Sie zeigen uns zudem, dass Menschen immer eine Wahl haben, und dies - obwohl eingeschränkt- selbst unter diktatorischen Bedingungen.

Meine Damen und Herren,

manche Fragen an die eigene Geschichte werden erst dann gestellt, wenn sie einen Bezug zum aktuellen Geschehen haben, wenn der Blick zurück, die Reflexion über das Vergangene, es vermag, Impulse bzw. Antworten für Gegenwart und Zukunft zu geben. Seit vielen Jahren – und mit neuer Dringlichkeit seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine  – sind es die Bilder von Flüchtlingen und Migranten, von Frauen, Männern und Kindern, die sich auf den Weg machen, um eine neue Heimat abseits von Verfolgung, Krieg und Gewalt zu finden, die uns bewegen und nachdenklich machen. Es sind Menschen, die etwas vermissen und gleichzeitig froh sind, nicht dort leben zu müssen, wohin das Heimweh ihre Gedanken lenkt. Weltweit ist heute jeder 113. Mensch zur Flucht gezwungen, das sind statistisch 24 Menschen, die minütlich entwurzelt werden.

Wir leben in einem Jahrhundert der Flüchtlinge beziehungsweise einem Jahrhundert des Exils. Dieser Gegenwartsbezug könnte ein Grund dafür sein, dass wir heute die Geschichte des Exils stärker als es bisher gelungen ist in den Fokus rücken können. Deutschland ist ein Aufnahmeland für Flüchtlinge aus den kriegs- und leidgeplagten Teilen dieser Welt - und es ist zudem ein Land, das Einwanderer willkommen heißt. In unserer pluralen Gesellschaft müssen auch die verschiedenen Fluchterfahrungen ihren Platz finden. Wer sich als Teil dieser Gesellschaft versteht, der sollte dieser entstandenen Vielfalt, auch in ihrer Unterschiedlichkeit mit Interesse, Offenheit und Neugier begegnen. Und so kann dieses entstehende Museum auch ein geeigneter Ort sein, um Zugang zu anderen Menschen zu finden - durch Schicksale, die über ethnische, religiöse und andere Unterschiede hinweg verbinden.

Es war Ilja Trojanow, der nach seiner Flucht aus dem kommunistischen Bulgarien feststellte: „Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch.“

Ich gehöre nun zu den Glücklichen, die ihre Heimat nicht verlassen mussten. Und dennoch ist es auch die Aufgabe der Glücklichen, das schwer Nachvollziehbare sichtbar zu machen, jenen genau zuzuhören, die diese Erfahrungen der Entwurzelung gemacht haben, und die anderen Entwurzelten emotional besonders nah sein können. Wir wollen diese Sichtbarkeit mit dem Exilmuseum und dem heutigen Abend schaffen, die so nötig ist, für die Betrachtung unserer gemeinsamen Geschichte. Lassen Sie uns dabei aus dem reichen Fundus der einstmals Entwurzelten schöpfen.

Ich danke der Deutschen Oper für die Unterstützung mit diesem Sinfoniekonzert „Wider das Vergessen“, das wir nun gleich hören werden. Auch Mitglieder Ihres Hauses wurden nach 1933 zur Flucht und ins Exil gezwungen. Ich danke Frau Margarita Broich, die am heutigen Abend aus Zeitzeugenberichten lesen wird.

Und ich danke Ihnen, verehrte Damen und Herren. Sie tun sich mit diesem Abend nicht nur selbst etwas Gutes. Sie unterstützen mit Ihrem Hiersein auch das Exilmuseum – und damit die Erinnerung an die Schicksale, an die Menschen, die lieber frei als beheimatet sein wollten.

In diesen beunruhigenden kriegerischen Zeiten wünsche ich mir, dass die Freiheitsliebe, die sie einst veranlasste zu gehen, uns heute bewegen möge, unsere Freiheit, unsere Demokratie bewusst und entschlossen zu verteidigen.