110. Jubiläum der Sächsischen Landesfachstelle für Bibliotheken
23. September 2024, Görlitz
Es gilt das gesprochene Wort.
Es erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit, heute bei Ihnen zu sein, um gemeinsam das 110-jährige Bestehen der Sächsischen Landesfachstelle für Bibliotheken zu würdigen.
Es ist von besonderer Symbolkraft, dass wir uns in der Görlitzer Synagoge versammeln, welche die Schrecken der Reichspogromnacht 1938 weitgehend unbeschadet überstanden hat. Dieser Ort erinnert uns an die dunkle Zeit des Nationalsozialismus und er macht zugleich deutlich, wie trotz der wechselvollen Geschichte neue Angebote für gesellschaftliche Begegnung und der kulturellen Bildung entstehen können. Gerade in Sachsen, gerade hier in Görlitz, spüren wir, wie wichtig solche Orte für unsere Demokratie sind.
Ihre Einladung habe ich gerne angenommen, lieber Herr Dr. Langer, denn Bibliotheken sind für mich Orte des Wissens und der Begegnung, die in unserer liberalen Demokratie eine ganz besondere Bedeutung haben. Sie sichern den freien Zugang zu Informationen, schaffen Raum für Bildung und fördern den gesellschaftlichen Austausch.
In jüngster Zeit stehen Bibliotheken unter einem immer stärkeren Anpassungsdruck und vor neuen Herausforderungen. Im Zuge der Digitalisierung ist Wissen scheinbar kostenlos und frei im Internet verfügbar. Die Art der Recherche hat sich fundamental gewandelt. Es entstehen völlig neue Möglichkeiten, Informationen zu beschaffen und zu verarbeiten. Auf die Auswirkungen dieser Entwicklungen will ich später noch zu sprechen kommen. Gleichzeitig bemerken wir aktuell aber auch, dass sich für Bibliotheken neue Spielräume eröffnen, ihre Potentiale in einem veränderten Umfeld bedeutsamer wirken zu lassen. Etwa, wenn sie attraktive Angebote, gerade auch im ländlichen Raum, bereitstellen. Sie können Orte zur Beteiligung, zur aktiven Gestaltung des Gemeinwesens sein, in denen die reale und digitale Welt zusammengeführt werden und wo gesellschaftliche Teilhabe erlebbar wird.
Meine Damen und Herren,
Bibliotheken haben eine lange Tradition, die sich von der Antike über die Skriptorien der mittelalterlichen Klöster bis über die Aufklärung tief in das Gewebe unserer demokratischen Kultur eingeschrieben hat. Bibliotheken stellen ein kulturelles Gedächtnis der Gesellschaft dar. Sie bewahren nicht nur Bücher und Informationen, sondern auch Geschichte, Traditionen und kollektive Erfahrungen. Sie tragen damit zur Identitätsbildung einer Gesellschaft bei. Sie sind Orte, an denen Erinnerungen bewahrt und weitergegeben werden, wo Vergangenes mit Gegenwärtigem verknüpft wird und wo Menschen die Möglichkeit haben, sich mit ihrer eigenen Kultur und der Kultur anderer auseinanderzusetzen. Hier, umgeben von den Schätzen des Wissens und der Kultur, erkennen wir auch die Grenzen unseres eigenen Wissens – und zugleich wächst in uns die Neugier und der Ansporn, Neues zu entdecken, hinzuzulernen, unsere eigenen Perspektiven zu erweitern.
Was Bibliotheken so besonders macht, ist nicht nur der Zugang zu Wissen, sondern die Art und Weise, wie sie diesen Zugang ermöglichen: niedrigschwellig, für alle, unabhängig von Herkunft, Alter oder Status. In einer zunehmend fragmentierten und individualisierten Gesellschaft bieten Bibliotheken Räume, in denen Menschen miteinander in Kontakt treten können. Sie fördern den sozialen Zusammenhalt, indem sie ein Umfeld schaffen, in dem gemeinsame Interessen, interkultureller und generationenübergreifender Austausch und kollektives Lernen stattfinden können. In gewisser Weise übernehmen Bibliotheken so eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Sie sind Orte, an denen der Austausch zwischen ganz unterschiedlichen Perspektiven und Lebenswirklichkeiten stattfinden kann.
Der ehemalige Generaldirektor der Sächsischen Landesbibliothek Achim Bonte formulierte den Anspruch an moderne Bibliotheken einmal so: „Bibliotheken wirken wie bodenstabilisierende Pflanzen, sie verhindern Erosion: Erosion von Bildung und Teilhabe, Erosion von gesellschaftlichem Zusammenhalt, Erosion von Heimat.“ In einer Zeit, in der so viele Menschen das Gefühl haben, der Boden unter ihren Füßen werde brüchig, können Bibliotheken tatsächlich im besten Fall Halt bieten.
In Sachsen hat das Bibliothekswesen eine lange und stolze Tradition. Bereits 1828 gründete Karl Benjamin Preusker in Großenhain die erste Bibliothek in Deutschland, die sich an alle Bevölkerungsgruppen richtete. Was für eine Vision! Ein Ort, der nicht nur für die Gebildeten und Privilegierten zugänglich ist, sondern für jeden Menschen, der nach Wissen strebt. Dieses Ideal hat unsere Gesellschaft geprägt und es ist heute relevanter denn je.
Seit 110 Jahren steht die Sächsische Landesfachstelle den Bibliotheken im Freistaat zur Seite. Sie sorgt dafür, dass Bibliotheken nicht nur Orte des Wissens bleiben, sondern auch Orte der Begegnung und des Austauschs. Damals, 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, als die Welt am Abgrund stand, gründete man die „Staatliche Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen“ in Leipzig. Schon damals erkannten die Verantwortlichen, dass Bildung und Teilhabe die Grundpfeiler eines zivilisierten und demokratischen Zusammenlebens sind. Heute betreut die Landesfachstelle die etwa 390 öffentlichen Bibliotheken im Freistaat, die eine hohe Versorgungsdichte gewährleisten und sowohl in größeren Städten als auch in ländlichen Regionen zugänglich sind. Im Jahr 2023 verzeichneten diese Bibliotheken insgesamt etwa 5,5 Millionen Besuche, was sie zu den besucherstärksten sächsischen Kultureinrichtungen macht.
Meine Damen und Herren,
moderne Bibliotheken stellen heute zeitgemäße und attraktive Bildungsangebote bereit. Bildung ist dabei weit mehr als nur ein Schlüssel zum persönlichen Erfolg und zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung. Sie ist ein wichtiger Beitrag für das Funktionieren unserer liberalen Demokratie. Nur eine gebildete Gesellschaft ist in der Lage, sich fundiert zu informieren, kritisch zu hinterfragen, selbstbestimmt zu handeln und die Zukunft aktiv zu gestalten.
Bibliotheken sind unverzichtbare Partner für Schulen, Universitäten und zahlreiche weitere Bildungsstätten. In enger Vernetzung mit Aus- und Weiterbildungsangeboten spielen sie eine zentrale Rolle dabei, Menschen grundlegende Fähigkeiten zu vermitteln, die sowohl im gesellschaftlichen als auch im beruflichen Leben gefordert werden. Aber das allein genügt nicht. Die Bildung, die in Bibliotheken stattfindet, geht über den formalen Rahmen hinaus. Sie eröffnet Menschen die Möglichkeit, eigenverantwortlich und lebenslang zu lernen, unabhängig von starren Strukturen. Diese Form des Lernens fördert den individuellen Wissenszuwachs und die persönliche Weiterentwicklung über das klassische Bildungssystem hinaus.
Darüber hinaus leisten Bibliotheken einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Bildung. Sie sind Orte, an denen Menschen Zugang zu literarischem und kulturellem Wissen erhalten, aber sie bieten auch Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit Geschichte, Kunst und Identität – sie sind somit Räume des kritischen Denkens und der Reflexion.
Unsere Bibliotheken demokratisieren Bildung und schaffen Lernmöglichkeiten für Menschen jeden Alters. Für viele Kinder ist die Bibliothek der Ort, an dem sie zum ersten Mal ein Buch in die Hand nehmen. Dadurch tragen Bibliotheken maßgeblich zur persönlichen Entfaltung bei, indem sie die freie und selbstbestimmte Auseinandersetzung mit der Welt fördern.
Meine Damen und Herren,
Sie bemerken, dass ich ein Ideal beschreibe. Einige hier im Saal werden persönliche Erinnerungen daran haben, dass sich die Bibliotheken in Diktaturen fundamental von jenen in demokratischen Gesellschaften unterscheiden. In der DDR waren Bibliotheken staatlich gelenkte Institutionen, wohl ermöglichten sie auch damals Wissenszuwachs und individuelle Aneignung des Kulturgutes, aber viele Bücher, die als regierungskritisch oder systemgefährdend galten, waren dort entweder nicht zu finden oder nur eingeschränkt zugänglich.
Trotz dieser Restriktionen hatten Bibliotheken eine besondere Bedeutung für die Menschen in der ehemaligen DDR. In erster Linie boten sie – oft auch jenen, die mit dem Regime unzufrieden waren – einen ersten Zugang zu Wissen. Manche Bibliotheken, besonders in kirchlichen Einrichtungen oder private Sammlungen in kirchennahen Räumen - ich denke zum Beispiel an die Umweltbibliothek - stellten alternative und kritische Literatur zur Verfügung, die sonst schwer zugänglich war. Diese Bücher und Schriften kamen oft über Umwege in die DDR, sei es durch Westbesuche, kirchliche Verbindungen oder private Netzwerke. In kirchlichen Bibliotheken fanden sich manchmal Werke westlicher Theologen, Philosophen oder Soziologen, die in der DDR offiziell nicht zugelassen waren. Solche Werke boten oft ein alternatives Weltbild und lieferten wichtige Impulse für die Opposition, die nach neuen gesellschaftlichen und politischen Denkmodellen suchte.
Meine Damen und Herren,
wir leben in einer Zeit, in der es nicht immer die Vernunft ist, die den Diskurs bestimmt. Populisten – und das sehen wir gerade hier in Sachsen sehr deutlich – setzen auf Emotionen, auf Spaltung und auf einfache Antworten. Sie speisen sich aus der Angst vor Veränderung, aus der Sorge, das Vertraute zu verlieren, ohne dabei ein tragfähiges Konzept für die Zukunft zu bieten. Wir wissen: Angst ist kein guter Ratgeber, sie verengt den Blick. Unsere Demokratie lebt von der Diskursfähigkeit und vom Verständnis, dass Widerspruch und Aushandlungsprozesse zum Wesen unseres Gemeinwesens gehören. Genau hier liegt die große Bedeutung der Bibliotheken. Sie bieten einen Raum, in dem fundiertes Wissen bereitgestellt wird, in dem Menschen die Möglichkeit haben, sich zu informieren, zu reflektieren und zu erleben, was es heißt, Teil einer freien und offenen Gesellschaft zu sein.
Ich habe es bereits eingangs angesprochen: Die Digitalisierung hat unsere Welt tiefgreifend verändert, wir befinden uns inmitten einer Revolution im Bereich Künstliche Intelligenz - und diese Kräfte stellen auch unsere Bibliotheken vor immer neue Herausforderungen. Wo früher der gedruckte Text im Mittelpunkt stand, dominieren heute digitale Medien, Online-Datenbanken und virtuelle Bibliotheken. Die Sächsische Landesfachstelle hat diesen Wandel mit Weitblick begleitet und sorgt dafür, dass die Bibliotheken nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich auf der Höhe der Zeit bleiben.
Doch Digitalisierung und KI sind nicht nur technische Herausforderungen, sie bergen auch handfeste Gefahren: Fake News und Verschwörungserzählungen sind zu gefährlichen Begleitern unserer Zeit geworden. Vielen Menschen fällt es schwer, sich in der Informationsflut des Internets zurechtfinden oder haben Schwierigkeiten, zwischen vertrauenswürdigen und zweifelhaften Quellen zu unterscheiden. Wir sehen ebenso: Falschinformationen oder Halbwahrheiten werden schnell zu „Fakten“, wenn sie oft genug wiederholt werden.
Auch hier sind unsere Bibliotheken als Institutionen gefragt, anhand derer sich die Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Wissen und Informationen reflektiert. In Zeiten der digitalen Transformation und mitunter gezielten Desinformationskampagnen spielen Bibliotheken eine entscheidende Rolle in der Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz. Die gute Nachricht lautet: Menschen können es erlernen, Informationen zu bewerten, kritisch zu hinterfragen und fundierte Meinungen zu bilden. Wir sollten diese Kompetenzen noch stärker fördern, denn sie sind für eine funktionierende Demokratie unverzichtbar.
Meine Damen und Herren,
ich möchte auf einen weiteren Aspekt eingehen, der immer stärker in den Fokus moderner Bibliotheksarbeit rückt. Bibliotheken sind, wie Soziologen sagen, „dritte Orte“. Orte, die weder zuhause noch Arbeitsplatz sind, sondern Räume, in denen Menschen, ähnlich wie in Cafés, Gemeindezentren oder öffentlichen Parkanlagen, zusammenkommen können, um frei und ohne Vorbehalte zu diskutieren und zu lernen. In einer Zeit, in der die gesellschaftliche Polarisierung zunimmt, brauchen wir mehr denn je solche „dritten Orte“. Für die Demokratie sind sie von enormer Bedeutung, denn sie fördern den sozialen Zusammenhalt und die Teilhabe am öffentlichen Leben. Orte, die Begegnungen zwischen Menschen ermöglichen, die sich sonst vielleicht nie begegnen würden. In Bibliotheken können diese Begegnungen auf Augenhöhe stattfinden – unabhängig von Herkunft, sozialem Status oder politischer Einstellung.
Gerade in Sachsen, wo wir die Spaltung in der Gesellschaft so deutlich spüren, sind solche Orte des zivilen Dialogs von unschätzbarem Wert. Denn unsere Demokratie lebt von der Begegnung, vom Austausch, von der Bereitschaft, anderen Perspektiven mit Toleranz zu begegnen. Der demokratische Diskurs kann anstrengend und ermüdend sein. Doch ohne den Willen, Kompromisse zu suchen und Differenzen zu verhandeln, ohne das Akzeptieren und Verstehen anderer Positionen, wird unsere Demokratie nachhaltigen Schaden nehmen.
Meine Damen und Herren,
ich weiß, dass die Realität in den Bibliotheken den geschilderten Anforderungen nicht immer gerecht wird. Die öffentlichen Bibliotheken befinden sich in einem Umbruchsprozess. Personal, Finanzierung und die etablierten Strukturen stehen in einem nicht immer günstigen Verhältnis zu den neuen Aufgaben und Zielsetzungen. Damit Bibliotheken auch weiterhin ihre wichtigen Funktionen erfüllen können, brauchen sie politische Unterstützung. Sie müssen finanziell und personell so ausgestattet sein, dass sie den Anforderungen der digitalen und realen Welt gleichermaßen gerecht werden können. Sie müssen in der Lage sein, nicht nur Zugang zu Büchern und Medien zu bieten, sondern auch Plattformen zu sein: für Diskussionen und Aushandlungsprozesse, für Wissensvermittlung und für den Austausch über die gemeinsame Gestaltung unserer Gesellschaft.
Dazu muss sich auch das Bewusstsein für Bibliotheken noch stärker wandeln. Sie sind eben keine kulturelle Nische, sondern essenzielle und vielseitige Institutionen, die den sozialen Zusammenhalt stärken, Bildung fördern und den demokratischen Diskurs ermöglichen können.
Meine Damen und Herren,
ich bin überzeugt: Bibliotheken sind heute relevanter denn je. Sie sind Orte, die den demokratischen Diskurs fördern, den Zugang zu Informationen in einer digitalisierten Welt ermöglichen und den Zusammenhalt stärken. Diese Bedeutung wird umso deutlicher in einer Zeit, in der viele Menschen verunsichert sind und sich nach Bezogenheit und Gemeinschaft sehnen. Bibliotheken sind somit weit mehr als nur „Wissensspeicher“ und Buchausleihe – sie sind Gedächtnis und Zukunft zugleich.
Für Ihre Fachstellenarbeit und für Ihre Arbeit als Verantwortungsträger in Land und in den Kommunen spreche Ihnen meinen Dank und meine Anerkennung aus. Gerade in einem herausfordernden politischen Umfeld, wie hier im Osten Deutschlands, bleibt es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dafür Sorge zu tragen, dass Bibliotheken auch in Zukunft Orte bleiben, die unsere Demokratie stärken, die Menschen verbinden und die unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern. An eben diesen Orten, in den Räumen für Dialog und Lernen, zeigt unsere Demokratie ein Stück ihrer Kraft und Lebendigkeit. Und das soll so bleiben!