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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede in der Philharmonie Essen
Rede zum „Politischen Forum Ruhr“
17. März 2025, Essen
In seiner Rede betonte Bundespräsident a.D. Joachim Gauck die Notwendigkeit einer wehrhaften Demokratie und rief zu einem umfassenden Mentalitätswandel auf. Deutschland müsse sich seinen sicherheitspolitischen Versäumnissen stellen, insbesondere da sich die USA zunehmend aus der Verantwortung für Europas Schutz zurückziehen.
Es gilt das gesprochene Wort!
Herzlichen Dank für die Einladung. Ich bin gern nach Essen gekommen: Gern in die Philharmonie Essen, diesen wunderbaren Ort, der weit über das Ruhrgebiet hinaus für sein breites kulturelles Angebot bekannt ist. Sehr gern aber auch zum Politischen Forum Ruhr, jenem bewundernswerten Verein, der seit 35 Jahren unter Herrn Dr. Holthoff-Pförtner unermüdlich politische Aufklärung betreibt. Ehrenamtlich wohlgemerkt und erfolgreich, wie ich sehe. Und der volle Saal beweist, wie dankbar die Essener Bürger die Angebote zu Information und Disput aufgreifen.
Ja, es gibt in unserer herausfordernden, um nicht zu sagen dramatischen Zeit viele Gründe, um sich auszutauschen und zu diskutieren. Wer ist nicht verunsichert, verwirrt, teilweise auch überfordert? Schon über drei Jahre dauert der Krieg im Osten unseres Kontinents, neues imperiales Denken hat ihn hervorgebracht. Politische und militärische Bündnisse, die sich über Jahrzehnte bewährt haben, stehen plötzlich zur Debatte. Auf Freunde ist nur noch bedingt Verlass, Verbündete kooperieren teilweise mit dem Feind. Und wäre all dies nicht schon mehr als genug, gerät die liberale Demokratie, das Wahrzeichen der freien Welt, auch noch im Innern unter existentiellen Druck. Mal schleichend, mal dreist und unverfroren höhlen autoritäre und populistische Führer den Rechtsstaat aus, setzen Willkür und zerstörerische „Disruption“ an die Stelle von Gleichheit und Gesetz und beschädigen das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung.
Es gibt in diesen Tagen nichts zu beschönigen. Wir stehen an einem Wendepunkt, wie ihn unser Kontinent seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. Die alte Weltordnung ist im Schwinden begriffen. Die westliche Allianz, die uns geschützt hat, ist seit Donald Trump nicht mehr verlässlich. Und die demokratische Ordnung zeigt deutlich ihre Schwächen.
Ich gestehe: Diese Entwicklung macht auch mich besorgt.
Die Demokratie war zeitlebens die Quelle meiner Zuversicht. Als ich jung war und in der Diktatur lebte, war sie das ferne, leuchtende Sehnsuchtsziel. Sie gab mir Hoffnung und Kraft, auch wenn sie mir zu meinen Lebzeiten unerreichbar schien.
Als ich die Mitte meines Lebens überschritten hatte, eine friedliche Revolution erlebt und mitgestaltet hatte, wurde sie der endlich erreichte Ankunftsort – festgegründet und sicher. Gut, dort zu wohnen.
Doch nun, am Abend meines Lebens – ich bin im Januar 85 Jahre alt geworden –
muss ich erkennen: Wovon ich einst träumte und was mich danach beheimatete, ist nicht die ewig festgefügte Ordnung, das unumstößlich Gute, wo die Gerechten in stabiler Sicherheit leben. Speziell das Gefühl der Sicherheit hat stark gelitten.
Ja, ich bin besorgt. Doch nach anfänglichem Erschrecken und einem Gefühl der Hilflosigkeit tauchte in mir auch ein starker Gegenimpuls auf: Lass dich nicht einschüchtern, sagte ich mir, nicht von den schlechten Nachrichten erdrücken. Schau dir die neue Lage vielmehr genau an. Analysiere sie. Überlege neue Wege. Denn auf neue Umstände gibt es auch neue Antworten. Komme ins Handeln!
Die Ausgangslage ist schwierig. Deutschland und Europa sind schlecht gerüstet für eine Situation, in der unser Kontinent von zwei Seiten unter Druck gerät. Auf der einen Seite die andauernden imperialen Ambitionen eines Putin, auf der anderen das unmissverständliche Rückzugsgebahren eines Trump. Doch Eines hat die zugespitzte Lage zweifellos erreicht: Sie hat uns endgültig von dem Wunschdenken befreit, wir könnten auf ewig das Kind unserer Zieheltern bleiben und unsere nationale Sicherheit und Souveränität dem nuklearen Schutzschild der Vereinigten Staaten anvertrauen.
Trump hat – arrogant und rasant - nur beschleunigt, was sich seit langem abzeichnete. Vorbei die Zeit, in der der amerikanische Präsident Ronald Reagan 1987 vor dem Brandenburger Tor rief: „Mr. Gorbatschow, tear down this wall!“ Das Amerika, das sich in der Verantwortung für die freie Welt sah, existiert so nicht mehr. In der neuen multipolaren Welt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben die Vereinigten Staaten ihr politisches Augenmerk auf den indopazifischen Raum verlegt. Europa hat für die westliche Führungsmacht an Bedeutung verloren
Schon lange vor Trump haben amerikanische Präsidenten ihrer Erwartung Ausdruck verliehen, dass wir Europäer uns angemessen an den Lasten der gemeinsamen Verteidigung beteiligen. Bill Clinton hat es bereits in den 1990er-Jahren formuliert, als Europa nach dem Kalten Krieg in eine Phase der sicherheitspolitischen Selbstvergessenheit abrutschte. Und Barack Obama sprach mit kaum verhohlener Ungeduld davon, dass Europa ein „free rider“ geworden sei – also Nutznießer eines Schutzes, zu dem es selbst immer weniger beiträgt.
Wir waren also gewarnt. Wir hatten es gehört. Aber wir wollten es nicht wirklich wahrhaben. Zwar sprechen wir in Deutschland schon lange darüber, dass wir mehr für unsere Verteidigung tun müssen und Europa mehr Eigenverantwortung übernehmen muss. Doch immer wieder hofften wir auf die Fortdauer des Gegenwärtigen, - lange ging es ja auch gut - und ließen den Erkenntnissen keine Taten folgen. Ja, erst jetzt, da Donald Trump und seine Entourage mit dem vollständigen sicherheitspolitischen Rückzug aus Europa drohen, sind wir endgültig aufgeschreckt und stellen uns unseren Versäumnissen – Versäumnissen bei soft und bei hard power, im strategischen Denken ebenso wie in den praktischen Fähigkeiten zur Selbstbehauptung.
In der Welt, wie sie vor unseren Augen neu entsteht, gruppieren sich die Mächte neu.
Während die USA an Macht einbüßen, kann China seinen Einfluss systematisch erweitern. USA und China sind die großen neuen Konkurrenten im Kampf um die Dominanz geworden. Und Russland, das durch den Zerfall der Sowjetunion zu einer Regionalmacht schrumpfte, sucht erneut Anschluss an die erste Liga. So ist Russland zu einer revisionistischen Kraft geworden, die sich in der Tradition des einstigen russischen und sowjetischen Großreiches sieht und auf imperiale Ausdehnung weit über seine Grenzen orientiert. Russlands Grenzen seien nicht definiert, hat Putin einmal gesagt. Für Trump ist Europa eine zu vernachlässigende Größe geworden, für Putin hingegen ein Objekt der Begierde.
Insofern ist es eine Mär, dass Putin die Ukraine überfiel, um eine Bedrohung durch die NATO abzuwehren. Nichts lag der Nato ferner, als eine Front im Osten Europas zu eröffnen. Im Gegenteil. Es waren vielmehr die ostmitteleuropäischen Staaten und später auch Schweden und Finnland, die Schutz in der Nato suchten, weil sie dem Nachbarn im Osten misstrauten. Sie wussten, was wir im europäischen Westen erst nach und nach lernten. Dabei hätten die imperialen Ambitionen Putins spätestens seit Ende der 2010er Jahre erkennbar sein können. In aller Öffentlichkeit entwarf der Kremlchef immer wieder die Zielvorstellung eines Eurasiens, das die ehemals sowjetischen Gebiete erneut unter russischer Dominanz zusammenführen sollte. Russlands Bedeutungsverlust bildete für Putin die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts – aber seine neoimperiale Politik allein aus einer Kränkung und angeblichen Bedrohung durch den Westen zu erklären, greift zu kurz. Putins Politik steht in der imperialen und kolonialen Tradition des Zarenreichs und der Sowjetunion. Sie entspringt einem eigenen imperialen Anspruch.
Wir aber ignorierten, dass Putin seine Einflusssphäre auszudehnen begann und betrieben unbeirrt ein business as usual – mit der Gaspipeline bis zum Februar 2022. Wir suchten die Schuld für die Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen vor allem bei uns, dem Westen, indem wir das russische Narrativ von der angeblich aggressiven Nato übernahmen und um Verständnis für das angeblich bedrohte Russland warben. Dabei hatte Putin längst mit der Umsetzung seiner aggressiven Agenda begonnen. Ich verweise nur auf die Kriege in Tschetschenien, in Georgien und in Syrien, die Einmischung in afrikanischen Ländern, die Annektion der Krim, die Besetzung von Teilen des Donbas, und jetzt, seit über drei Jahren, der Angriff auf die gesamte Ukraine.
Heute sehen wir: Die Vorstellung, Bedrohungen ließen sich allein durch Handelsverflechtungen, diplomatische Bemühungen und wohlmeinende Intentionen abwehren, war eine gefährliche Fehleinschätzung. Die Ukraine zahlt den bitteren Preis dafür, dass weder die USA noch Europa auf eine effektive Abschreckung gegenüber Russland setzten. Erst drängten sie die Ukraine, ihre Atomwaffen aus Sowjetzeiten an Russland zu übergeben. Dann versäumten sie es, die Ukraine aufzurüsten, obwohl Moskaus Territorialansprüche mit der Krim und der Ostukraine bereits deutlich geworden waren. Nach dem Ausbruch der Vollinvasion in die Ukraine lieferte der Westen zwar Waffen – viele Waffen, besonders die USA und Deutschland, aber auch viele andere Staaten. Aber letztlich waren es zu wenige, um Russland in einem frühen Stadium des Krieges, als dies noch möglich gewesen wäre, zurückzuschlagen. Jetzt befindet sich die Ukraine in einem Abnutzungskrieg, der täglich zahllose Tote fordert, Soldaten und Zivilisten, und der das Land in eine Ruinenlandschaft verwandelt. Der Ukraine fehlen Waffen, Munition und vor allem Soldaten. Unter diesen Bedingungen ist nur eine Frage der Zeit, wann sie einem Verhandlungsfrieden wird zustimmen müssen. Und meine bange Frage lautet: Wird der Westen das Land noch einmal einen bitteren Preis zahlen lassen?
Ginge es nach Putin, so wird der Krieg erst zu Ende sein, wenn er sich das Land untertan gemacht und die Ukraine als Nation zerstört hat. Wenn der demokratisch gewählte Präsident Selenskyj durch eine moskauhörige Marionette abgelöst ist und die Beziehungen der Ukraine zum Westen durchtrennt sind. Kurzum: Wenn ein Siegfrieden die Ukraine zu einem Vasallen Moskaus gemacht hat. An diesen Maximalzielen hält Putin auch nach dem jüngsten amerikanisch-ukrainischen Vorschlag zu einer zeitweiligen Waffenruhe fest. Vordergründig stimmt er einer Waffenruhe zwar zu. Aber dem „Ja“ folgt ein großes „Aber“. Putin stellt seine altbekannten Forderungen als Vorbedingungen, im Wissen, dass sie für die Ukraine inakzeptabel sind, weil sie selbstmörderisch wären. Mit diesem durchsichtigen diplomatischen Manöver gewinnt er Zeit, um die Entscheidung auf dem Schlachtfeld voranzutreiben. Die Sachlage ist somit klar: Putin will entweder einen Deal zu seinen Bedingungen oder der Krieg geht weiter.
Meine Befürchtung ist: Trump wird dieses Spiel mitspielen. Dass er den Kremlchef nun ähnlich unter Druck setzen könnte, wie vorher Selenskyj, dass er Putin wirksame Sanktionen androht und am Verhandlungstisch zu Zugeständnissen zwingt, halte ich für wenig wahrscheinlich. Trump ist von Putin beeindruckt und hat sich bereits mehrfach auf die Seite Moskaus gestellt. Dabei hatte ich es für unvorstellbar gehalten, dass die Vereinigten Staaten bei einer UNO- Abstimmung über die Ukraine gemeinsam mit Russland und Nordkorea stimmen würden. Ich hatte es für unvorstellbar gehalten, dass ein amerikanischer Präsident dem Opfer die Schuld für einen Angriffskrieg zuschiebt und mit dem Aggressor Geschäfte anstrebt. Nun ist zu befürchten, dass Trump erneut dem Aggressor entgegenkommt und das Opfer zum Nachgeben zwingt.
Mag Trumps Politik auch erratisch erscheinen: Fast alles spricht dafür, dass Putin eine verstärkte und langandauernde amerikanische Unterstützung für die Ukraine nicht zu fürchten braucht. Und fast alles spricht dafür, dass Europa nicht mehr so wie erhofft mit amerikanischer Unterstützung rechnen kann, falls Putin ein europäisches NATO-Mitglied angreift. Fast niemand geht zwar davon aus, dass Putin in Polen einmarschiert oder Bomben auf Berlin wirft. Aber Geheimdienste und Sicherheitsexperten in der westlichen Welt warnen: Schon in naher Zukunft könnte Putin die Grenzen des europäischen Zusammenhalts testen, indem er mit militärischen Mitteln begrenzt gegen unsere befreundeten Nachbarn im Baltikum vorgeht.
Würde Europa, wenn russische Soldaten etwa einen Teil Litauens einnehmen, Gegenwehr leisten und seinen Bündnisverpflichtungen nachkommen – so wie es der Artikel V des NATO-Vertrags fordert? (Bundeskanzler Scholz am 26. Mai 2023: "Wir sind bereit, jeden Quadratzentimeter NATO-Territoriums gegen Angriffe zu verteidigen.") Historische Vergleiche sind immer problematisch. Aber die Wiedererrichtung einer russischen Einflusssphäre in Mittelosteuropa, wie sie Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hat, rückt für einige doch in den Bereich des Denkbaren. Würden sie sich also mit einer Friedenswahrung nach dem Muster von Jalta einverstanden erklären – jener Konferenz der Siegermächte 1945, auf der Stalin seinen Herrschaftsanspruch auf Ostmitteleuropa durchsetzen konnte?
Machen wir uns keine Illusionen: Schon jetzt versucht Putin, die demokratischen Staaten von innen zu zermürben und auszuhöhlen. Schon jetzt erleben Deutschland und andere westliche Staaten einen Krieg vor dem Krieg: Cyberattacken, Hackerangriffe, Spionage, Drohnenerkundungen, die Zerstörung wichtiger Informationsinfrastruktur etwa auf dem Boden der Ostsee - und vor allem ein ausgeklügeltes System von Desinformation. Drohungen wechseln sich mit Verlockungen ab, dreiste Lügen mit subtiler Einflussnahme gekaufter Personen und Parteien, die russische Narrative bedienen. Mit der Alternative für Deutschland, dem Bündnis Sahra Wagenknecht und Teilen der Linken kann Putin in Deutschland gleich auf mehrere Kräfte setzen, die seinem – wie wir jetzt sehen – verlogenem Friedensappell folgen und den Wunsch vieler Menschen nach Wohlstand und Frieden in unserem Land gegen die Freiheit der Ukrainer ausspielen. Sagen wir es deutlich: Wer seine Friedensappelle an den Überfallenen und seine Unterstützer richtet, wer dem Opfer nicht mit Hilfe, sondern mit Ermahnungen begegnet, der wirkt nicht friedensfördernd, sondern friedensgefährdend.
Es ist bereits eine breite Phalanx falscher Friedensfreunde entstanden, die von Washington über Europa bis nach Moskau reicht. Sie streben eine Normalisierung der Beziehungen zum Aggressor an und untergraben so die mentale Verteidigungsbereitschaft im Westen. Doch wenn der Westen ohne Gegenwehr hinnimmt, dass Putin vertragsbrüchig und völkerrechtswidrig in der Ukraine Grenzen verschiebt, signalisieren wir den Feinden der Freiheit, dass unser Kontinent wehrlos ist. Sigmar Gabriel hat es schon vor über einem Jahr auf den Punkt gebracht: Ein Diktatfrieden bedeutet, dass wir nicht in einer Nachkriegszeit, sondern in einer Vorkriegszeit leben.
Es geht um viel. Um unsere Freiheit. Um unsere Zukunftsfähigkeit als wehrhaftes Land, das sich schützen und verteidigen kann. Es geht um die selbstbewusste Verteidigung unseres Kontinents, der sich weiter den Prinzipien von Frieden und Menschenrechten verpflichtet fühlt, wie sie in der UNO verabschiedet wurden. Wir müssen zeigen: Wir können stark sein, wenn wir es nur wollen. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat provokativ gefragt: „500 Millionen Europäer bitten 300 Millionen Amerikaner, sie vor 140 Millionen Russen zu schützen?“ Man kann diese Frage auch als Aufforderung verstehen: Werdet Euch endlich Eurer Stärke bewusst!
Die dringendsten Aufgaben liegen auf der Hand:
- Die Hilfe für die Ukraine ist aufzustocken, damit das Land nicht ohnmächtig in Verhandlungen gehen muss. Nur so kann ein Frieden erreicht werden, der nachhaltig ist, „so dass der Krieg nicht zurückkehrt“. (Präsident Selenskyj am 12. März 2025) Und ein gerechter Frieden muss international glaubwürdig abgesichert werden: Die Ukraine braucht verlässliche Sicherheitsgarantien.
- In Europa muss sich eine Koalition der Willigen bilden, die bereit ist, den europäischen Pfeiler der NATO durch schnelle und massive Investitionen in die eigenen Verteidigungsfähigkeiten zu stärken. In diesem Zusammenhang ist auch zu klären, wie weit die Atommächte Frankreich und Großbritannien den nuklearen Schutz Europas gewährleisten könnten, falls sich die USA aus Europa verabschiedet.
- Die Bundeswehr ist mit äußerster Entschlossenheit zu ertüchtigen - schnell zu bewaffnen und personell aufzustocken. Wenn wir die Situation wirklich ernst nehmen, heißt das: An einer Form der Wehrpflicht führt kein Weg vorbei. Es führt auch kein Weg vorbei an einer Bewaffnung, die der modernen Kriegsführung angemessen ist (ich nenne nur das Stichwort Drohnen, deren zentrale Bedeutung wir gerade im Verteidigungskampf der Ukrainer sehen können).
- Neben der Entwicklung einer europäischen militärischen Eigenständigkeit ist so lange wie möglich am Bündnis mit den USA festzuhalten, weil die militärischen Fähigkeiten der Europäer, die der Amerikaner in Europa über eine absehbare Zeit nicht werden ersetzen können.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir in Deutschland und Europa eine neue Ernsthaftigkeit in der sicherheitspolitischen Debatte erleben. Persönlichkeiten gewinnen an Gewicht, die verstanden haben, was auf dem Spiel steht: Keir Starmer führt Großbritannien in der Sicherheitspolitik zurück an die Seite der Europäischen Union, Emmanuel Macron verstärkt seine Bemühungen für die schon lange von ihm propagierte strategische Autonomie Europas, Ursula von der Leyen treibt als Präsidentin der Europäischen Kommission die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Union voran. Und Deutschlands zukünftige Regierung signalisiert, dass sie bereit ist, eine sicherheitspolitische Verantwortung endlich mit der notwendigen Entschlossenheit auszugestalten.
Diese Geschlossenheit, dieser Wille zur Verantwortung, das ist die Basis, auf der wir aufbauen können. Sie zeigt uns: Europa ist nicht dazu verdammt, Zuschauer der eigenen Gefährdung zu bleiben. Europa kann sich behaupten – wenn es den Mut und die Kraft findet, jetzt gemeinsam zu handeln. Auch hier haben wir uns von einem verbreiteten Wunschdenken zu verabschieden. Denn ja, so paradox es klingen mag: Nur durch Abschreckung kann Frieden verteidigt werden. Aufrüstung im Angesicht eines Aggressors ist keine Kriegstreiberei, sondern Friedenssicherung. Aufrüstung in Deutschland und Europa dient nicht einer Kriegsvorbereitung, sondern der Abwehr oder Gegenwehr in einem Krieg, den andere ausgelöst haben oder auslösen können. Was wir brauchen, ist die Abkehr vom Gestus einer hoffnungsgestützten Ohnmacht und ein entschlossenes Ja zur bewaffneten Friedfertigkeit.
Ich weiß, wie tief der Pazifismus in Teilen unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Krieg, das bedeutet ja tatsächlich Schrecken, Tod, Verletzung, Schmerz. Zudem war Deutschland im 20. Jahrhundert der Kriegstreiber, der Schuldige, der Massenmörder. Daher die Distanz zum Militärischen und das immer wieder bekundete „Nie wieder!“ in unserem Land. Doch ich warne davor, dass wir uns in eine Form der Selbsttäuschung zurückziehen. Nur weil ich selbst der Gewalt abschwöre, schaffe ich die Gewalt nicht aus der Welt. So zu tun, als bräuchten wir keine Soldaten, ist ebenso abenteuerlich, wie zu glauben, wir bräuchten keine Polizisten. Das Böse ist in der Welt. Und Hitler wurde nur besiegt, weil die Alliierten ihn mit überlegener Waffengewalt niederringen konnten. Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte daher recht, als er davon sprach, dass Deutschland wieder kriegstüchtig werden müsse. Wir brauchen die demokratisch legitimierte militärische Gewalt – nicht, um andere zu unterwerfen, sondern um Rechtsbrecher und Kriegsbrandstifter abzuschrecken und uns gegen sie verteidigen zu können. Kriegstüchtig heißt nicht kriegssüchtig.
Dass die Verteidigung der Demokratie unerlässlich ist, muss gegenwärtig allerdings neu erkannt werden. Die Wehrpflicht wurde 2011 ausgesetzt, eine militärische Bedrohung lag damals außerhalb unserer Vorstellungskraft. Wie andere westliche Gesellschaften versteht sich auch die deutsche bis heute weitgehend als eine Konsumgesellschaft, die Bürger sind individualistisch und postheroisch geworden. Entsprechend skeptisch ist der Blick auf Werte wie Patriotismus oder „Würde“ und „Opferbereitschaft“. Es verwundert nicht, wenn die Bundeswehr über Personalmangel klagt. Was wäre also, wenn…? Wenn unser Land angegriffen würde? Oder wir einem Verbündeten Beistand leisten müssten?
Wohlstand und Freiheit konnten Deutsche in den letzten Jahrzehnten genießen, ohne spürbar für sie zahlen zu müssen. Das Gute wurde so selbstverständlich, dass wir vergaßen, es zu schätzen. Im Unterschied etwa zu den Bürgern in Finnland, dem Baltikum oder in Polen haben sich Misstrauen und Angst vor einem aggressiven Nachbarn im Osten nicht in unserer DNA abgelagert. Im Gegenteil. Und hier stoßen wir noch einmal auf verbreitetes Wunschdenken. Bis zur russischen Voll-Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 setzte deutsche Politik allein auf Diplomatie und Handelsverflechtungen. Doch gerade weil ich mir wünsche, dass Deutsche, Polen, Finnen, Balten weiter in Frieden leben können, müssen wir den imperialen Gelüsten eines Putin abwehrbereit gegenüber stehen. Gerade weil ich möchte, dass meine Kinder, Enkel und Urenkel weiter das Leben ihrer Wahl leben, einen Beruf ihrer Wahl ergreifen, dass sie Familien gründen, ihren Interessen nachgehen, hoffe ich, dass sie auch die Bereitschaft aufbringen, dieses lebenswerte Leben zu verteidigen.
Wiederholen wir nicht den Fehler der Vergangenheit. Nutzen wir den Schock, den die disruptive Politik des amerikanischen Partners in Deutschland und Europa ausgelöst hat, um das Versäumte umfassend und nachhaltig aufzuholen. Machen wir uns bewusst: Demokratie, Freiheit und Souveränität sind es wert, verteidigt zu werden. Wir brauchen einen Mentalitätswandel. Eine politische Kultur, die für die Ausrüstung und Befähigung unserer Streitkräfte sorgt. Die den Dienst an der Gemeinschaft ehrt und unterstützt. Und die Freiheit verteidigt. Und vergessen wir nicht: Verteidigungsbereitschaft beginnt im Kopf. Meiden wir das Thema nicht, sondern setzen wir uns mit ihm auseinander – ein jeder mit sich selbst und mit anderen. Angst ist menschlich, aber Mut ist es auch. Wir müssen vom Zuschauer zum Akteur werden.
Ich bin fest überzeugt, dass Demokratie und Freiheit eine durch nichts zu zerstörende Anziehungskraft besitzen. Anders lässt sich nicht erklären, warum sich die Menschen sogar unter dem diktatorischen Sowjetregime aufzulehnen wagten und in Ostmitteleuropa einen friedlichen Systemwandel herbeiführten. Oder warum iranische Frauen für „Frau, Leben, Freiheit“ trotz massiver Verfolgung auf die Straßen gezogen sind. Wenn Menschen wissen, wofür sie kämpfen, wächst ihre Verteidigungsbereitschaft. Wenn Menschen wissen, was sie verlieren können und eine Vorstellung davon haben, was ihnen im Fall einer Niederlage droht, wachsen ihnen bis dahin unbekannte Kräfte zu. Eben daraus erklärt sich der bewundernswerte Durchhaltewille der Ukrainer: Sie fürchten den Krieg weniger als eine Herrschaft unter der russischen Knute.
Die Demokratie bleibt für mich ein Versprechen an jeden einzelnen Menschen. Er hat mehr Rechte, mehr Raum zur Entfaltung, mehr soziale Absicherung und in der Regel mehr Wohlstand als in jeder anderen Gesellschaftsordnung, und immer die gesicherte Möglichkeit zur Abwahl einer Regierung, die der Mehrheit missfällt.
Trotz dieser idealen Voraussetzungen erleben wir - gerade heute mehr als früher – ein Unbehagen an der Demokratie.
Und hier komme ich zu dem ebenfalls Besorgnis erregenden Thema, dass die Demokratie nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht ist. Zwar leben weltweit etwa 45 Prozent der Bevölkerung in einer Demokratie, doch nur knapp acht Prozent in einer „vollständigen Demokratie“. Autoritäre Regime haben sich weiter verfestigt und autoritäre Entwicklungen in demokratischen Staaten haben zugenommen. Tendenz steigend. Es gibt eine Drift zum Autoritären; wir spüren es auch in Deutschland, wo ein Fünftel der Wähler einer rechtspopulistischen Partei ihre Stimme gegeben hat.
Ich verstehe, dass Bürger mit Unzufriedenheit, Frust, auch mit Wut auf eine teils allzu schwerfällige, teils allzu überfordernde Politik reagieren. Ich verstehe aber nicht, warum Menschen deswegen einer Partei wie der AfD oder dem BSW folgen, die sich einen milden Blick auf Russland erlauben, obwohl es seinen Bürgern grundlegende Rechte versagt. Oder die, wie die Parteiführung der AfD, die USA unter Donald Trump als neues Vorbild entdeckt haben.
Die Ablehnung eines Putinschen Systems sollte auf der Hand liegen: Wir wollen keinen Staat, in dem das Recht nicht die Macht begrenzt, sondern die Macht das Recht lenkt. Wo unabhängige Gewerkschaften verboten sind. Die freie Presse gleichgeschaltet oder ins Exil getrieben ist. Wo Oppositionelle eingesperrt oder ausgeschaltet werden. Wir wollen keinen Staat, der mit Angst regiert – mit Einschüchterung, mit Repression, mit der Drohung sozialer oder gar physischer Vernichtung.
Wir wollen aber auch keinen Staat, der nur eine demokratische Fassade wahrt, die Grundlagen der liberalen Demokratie aber außer Kraft setzt. In Polen, Ungarn oder der Slowakei ließ sich beobachten, wie unter nationalpopulistischen Regierungen die Medienlandschaft verkümmerte, die Verfassungsgerichte und die Justiz unter Regierungskontrolle gerieten und die Gewaltenteilung beschädigt wurde. All dies geschieht nun in forciertem Maß auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, jenem Land, das sich seit seiner Gründung den Leitlinien von Rechtsstaatlichkeit und Liberalität verpflichtet fühlte und zum Orientierungspunkt für Demokraten in aller Welt wurde. Trump droht eine politische Tradition zu zerstören, die 240 Jahre überdauert hat und nach dem Zweiten Weltkrieg als Garant einer menschenrechtlich orientierten und regelbasierten Ordnung auftrat.
Trumps politische Antithese lautet nun: „Wer sein Land rettet, verstößt gegen keinerlei Gesetze.“ So verkündete er es kürzlich auf seiner eigenen Social-Media-Plattform (der er den Namen „Truth Social“ - Truth für Wahrheit - gegeben hat). Längst erschafft Trump nach Gutdünken seine eigenen - immer abstruseren - Wahrheiten. Er schert sich nicht um die Verfassung und bestehende Regelwerke, er setzt Dekrete ohne Einhaltung lästiger Dienstwege und Hierarchien durch und schafft Fakten, bevor die Maßnahmen vor Gericht angefochten werden können.
Wichtige Posten besetzt er mit Freunden und Verwandten, nicht aufgrund ihrer Kenntnisse und Qualifikationen, sondern aufgrund von Ergebenheit und Loyalität. Ähnlich haben vormoderne Gesellschaften gelebt, sagt der amerikanische Politikwissenschaftler Jeffrey Kopstein und spricht von einer „patrimonialen Autorität“. Andere urteilen weit schärfer und sehen einen Autokraten am Werk, der die Grundregeln der Demokratie aus den Angeln hebt – und sich seiner Straflosigkeit sicher sein kann. Schon hat der mehrheitlich mit Trump-Anhängern besetzte Supreme Court die übergriffige Präsidialmacht abgesichert und dem Präsidenten für Amtshandlungen die absolute Immunität zugesichert.
Ich habe mir nicht vorstellen können, dass es in einer Demokratie nur weniger Monate und weniger Mitarbeiter bedarf, um Staatlichkeit derart zu destabilisieren und Rechtsstaatlichkeit so umfassend zu umgehen. Jeden Tag meldet die Presse neue Schließungen von Verwaltungen, Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen. Jeden Tag werden weitere Bundesbedienstete entlassen oder Juristen von ihren Posten entfernt, weil sie gegen Trump Anklagen erhoben haben. Und die freie Presse gerät immer mehr unter Druck, während Tech-Oligarchen aus dem Umfeld des Präsidenten schrankenlose Meinungsfreiheit für sich beanspruchen, auf eigenen sozialen Medien die Algorithmen manipulieren und die Öffentlichkeit mit Lügen, Beschimpfungen oder Verschwörungstheorien überschwemmen. Soll uns in Europa keiner aus der Trump-Clique etwas von Pressefreiheit erzählen!
Ein Amerika, das dem Prinzip der rule of law verpflichtet war, bewegt sich in Richtung eines autoritären Staates.
Das sollten wir im Hinterkopf haben, wenn Alice Weidel, die Parteichefin der AfD, stolz auf ihre neuen Freunde in Amerika verweist. Wenn sie Elon Musk auf dem Parteitag auf der Großleinwand einspielt und sich für Vizepräsident J.D. Vance begeistert, einen – wie sie sagt - „unglaublich weisen vorausschauenden Mann mit einer Vision für Amerika und die Ukraine“. Wir ahnen, was auch auf uns zukommen könnte. Denn die autoritären Kräfte auf der Welt bilden eine Wahlverwandtschaft, ein personelles und ideologisches Netzwerk. Sie verachten die Schwachen und halten Empathie für die Haltung eines verweichlichten Westens. Sie huldigen einem Führerkult und degradieren den Bürger zum Untertan. Sie sind Brüder und Schwestern im Geist einer Ideologie, die das Gemeinwesen zerstört und die demokratische und liberale Ordnung durch ein autokratisches, illiberales und rassistisches Machtsystem ersetzen will.
Lange konnten wir uns nicht vorstellen, wie bedroht die Demokratie auch von innen ist. Jetzt müssen wir förmlich dabei zusehen: Die Demokratie kann sich selbst abschaffen, ganz demokratisch, in freien und geheimen Wahlen. Und sind Justiz, Presse, Parlament erst in den Händen einer autoritären Clique, fällt Widerstand schwer. Deswegen gilt es einem Erstarken rechtspopulistischer, autoritärer Kräfte vorzubeugen und die demokratische Zukunft unseres Landes zu sichern.
Es liegt an uns, wie einhellig wir uns der Spirale von Polarisierung und Radikalisierung widersetzen. Es liegt an uns, wie entschieden wir die Rechtsstaatlichkeit in einer Gesellschaft der Verschiedenen verteidigen. Es liegt an uns, die Differenzen unter den Demokraten nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern eine breite demokratische Front zur Bewältigung der wichtigsten Aufgabe zu bilden: Für den Erhalt eines freien, unabhängigen und demokratischen Deutschlands.
Wir wissen sehr wohl, dass unsere Freiheit nicht unzerstörbar ist. Dieses Wissen darf aber niemals dazu führen, auf die Aggression nur mit Angst oder Fluchtreflexen zu reagieren. Das macht uns kleiner und wehrloser, als wir es tatsächlich sind. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie viel Kraft dem Menschen innewohnt, wenn er die Angst überwindet und zu einer tiefen inneren Gewissheit gelangt: Mut ist eine Menschenmöglichkeit.
Es gehört zur Würde freier Menschen, dass sie die Freiheit, die sie unter Kämpfen und Schmerzen errungen haben, auch verteidigen
Dafür steht unser Europa.
Davon haben Hunderttausende gerade am letzten Wochenende Zeugnis abgelegt: in Belgrad, in Budapest, in Bukarest und auch in Rom.
Gehen wir weiter den Weg der Demokratie und der Freiheit. Mutig. Entschlossen. Gemeinsam.
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