Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Jesco Denzel

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

Gespräch beim Südwest Presse Forum

07. Oktober 2025, Ulm

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hat an einem Gespräch mit dem Chefredakteur Ulrich Becker und der stellvertretenden Chefredakteurin Judith Conrady teilgenommen. Thema des Abends waren die Bedrohungen, denen sich die liberale Demokratie gegenüber sieht und wie man ihnen begegnen kann.

Das Südwest Presse Forum bringt seit 1994 Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur auf die Bühne. 

 

Aus dem 90minütigen Bühnengespräch ist ein Interview entstanden, das in den Medien des Südwest Presse Forums publiziert wurde.

"Wir konnten nichts Besseres erwarten"

Herr Gauck, ist die Wiedervereinigung so gelaufen, wie Sie das als Teil der Bürgerbewegung Neues Forum 1989 erwartet haben?

Im Grunde genommen konnten wir nichts Besseres erwarten als das, was wir bekommen haben. Die DDR war pleite. Da hätte es einen eigenständigen Weg nur mit Westgeld geben können. Aber warum hätte Helmut Kohl eine eigenständige DDR unterstützen sollen, wenn schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Einheit wünschte? Die Sehnsucht der DDR- Bürger nach Gleichstellung machte sich am Westgeld fest. Es hieß damals: „Kommt die D- Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“. Dabei war klar, dass eine schnelle Einheit mit Einführung der D- Mark zu Verwerfungen führen würde. Dass die Brüche Menschen trafen, die vorher Macht hatten, war für mich ok. Doch es traf auch Arbeiter. Sie waren in Betrieben, die Dinge produzierten, die niemand mehr haben wollte.

Betrachtet man Fotos aus dem Jahr 1989, fällt das Zusammengehörigkeitsgefühl auf. Jetzt scheint sich Entfremdung breitzumachen. Bewegen sich Ost und West wieder voneinander weg?

Da gibt es Wellenbewegungen. Im Moment werden die Unterschiede stark thematisiert. 1989 war ich in Rostock Sprecher der Oppositionsgruppe Neues Forum. Und ich sah Menschen, die begeistert waren, weil ihnen plötzlich nicht mehr vorgeschrieben wurde, was sie zu tun hatten. Dann kam die Arbeitslosigkeit und mit ihr die erste Ernüchterung. Das machte sich die SED- Nachfolgepartei PDS zu Nutze und forderte eine staatliche Rundumversorgung. Eigenverantwortung kannten die Menschen im Osten nach zwölf Jahren NS- Diktatur und 44 Jahren DDR nicht mehr. Viele hatten sich angepasst und setzten auf Entscheidungen von oben. Das Erlebnis der großen Freiheit war für sie ein Bruch. Für mich war der Übergang von der Unfreiheit in die Freiheit die schönste Zeit meines Lebens. Heute ist die Spaltung unter Ossis stärker als die zwischen Ossis und Wessis. Ich als Ossi habe zu Menschen, die Parteien von rechts- oder linksaußen hinterherlaufen, keine Bindung.

Das heißt, die Freiheit hat viele auch überfordert …

Ja. Freiheit existiert ja in zwei Dimensionen: die Freiheit von etwas und die Freiheit zu etwas. In der DDR sehnten wir uns danach, dass keiner mehr über uns bestimmt. Doch wir wollten auch entscheiden, was wir tun und werden wollten. Das heißt, wir mussten eigenverantwortlich handeln. Da kommt das Glück nicht automatisch. Um eine innere Befriedigung zu erhalten, muss man sich für etwas einsetzen. Das geht nicht ohne Anstrengung.

Können Sie mit dem Trend zur sogenannten Ostalgie etwas anfangen?

Schwer. Wir hatten 1989 auch überlegt, was wir in die neue Zeit mitnehmen könnten. Manche träumten von einem Dritten Weg zwischen Demokratie und Sozialismus, eine Art Sozialismus ohne Unterdrückung. Doch ich habe immer gefragt: Wie ist die Ökonomie des Dritten Weges? Da kam nicht viel. Manche wünschten sich dann eine soziale Marktwirtschaft. Die aber gab es ja schon – im Westen. Darauf hinzuweisen, haben manche als Verrat empfunden. Verklärt wird auch das Thema Solidarität. In einer Mangelwirtschaft geht es nicht ohne. Da muss man die Fleischerfrau kennen, um zu erfahren, wann es Schnitzel gibt … Dass es im anderen Teil Deutschlands ohne diese Kontakte ging, erzeugte Bewunderung und Neid. Um sich von diesem Teil zu unterscheiden, wählen manche so, dass sich der andere Teil ärgert.

Denken Sie, die Freiheit ist in der Krise?

Die Umbrüche sind so stark, dass Rechtsextremisten erstarken, auch in unseren Nachbarländern. Da wollen nicht alle Adolf Hitler wieder haben, auch wenn es völkisches Denken in der AfD gibt. Ich finde das abstoßend und unwürdig, da wir doch wissen, wohin der Nationalsozialismus führte. Studien weisen darauf hin, dass nicht wenige Rechtswähler eine autoritäre Disposition haben. Diese Menschen sind skeptisch gegenüber Wandel, lehnen Risiken ab, wünschen sich eine Form von Homogenität und sehnen sich nach klaren Ansagen. Gravierende Änderungen - durch Krieg, Zuwanderung und eine handlungsunfähige Regierung – führen zu Fremdheit, Angst und Wut. Wenn die demokratischen Parteien der Mitte darauf nicht adäquat reagieren, driften diese Leute politisch dorthin, wo ihnen scheinbar schnelle Lösungen geboten werden. Ich dagegen träume von einem Deutschland ohne AfD im Bundestag. Was mich jedoch beunruhigt ist, dass die Skepsis gegenüber der Demokratie so wächst, dass autoritäre Typen wie Viktor Orban oder Putin als Heilsbringer betrachtet werden.

Wie müssten Politiker handeln, damit sie Vertrauen zurückgewinnen?

Politiker müssen Mut zu Entscheidungen haben, mitunter gegen die Mehrheit ihrer eigenen Klientel. Ex- Kanzler Gerhard Schröder hat das gewagt, um den Sozialstaat zu sichern. Das bedeutet nicht, dass diese Politiker damit Wahlerfolge erzielen. Trotzdem können solche Entscheidungen richtig sein. Das schafft Glaubwürdigkeit. Das heißt dann aber auch, dass man Menschen erklären muss, warum man etwas tut. Kommunikation ist im politischen Bereich nicht nur eine Zutat, sie ist etwas Wesentliches.

Haben Sie den Eindruck, dass in der Politik die Angst vor Fehlern größer wird, weil sich jeder Satz rächen kann?

Ja. Wir sind beckmesserisch geworden. Schon ein falsches Wort kann eine Lawine auslösen. Dabei ist Streit in einer Demokratie wichtig: weil wir unterschiedlich geprägt sind und unterschiedliche Interessen haben. Aus einem Streit müssen aber Ergebnisse hervorgehen, sonst führt das zu Vertrauensverlust.

Als wären die Herausforderungen von innen nicht genug, gibt es aktuell Bedrohungen von außen, durch Russland. Ist Deutschland in Ihren Augen überhaupt verteidigungsbereit?

Ich kenne den Homo sovieticus – und damit auch den Typus Putin. Das ist der Grund, warum ich mit Helga Hirsch das Buch „Erschütterungen - Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“ gemacht habe. Putin als ehemaliger Offizier der sowjetischen Geheimpolizei folgt alten Mustern: Danach darf nicht passieren, dass das Volk in freien Wahlen über seine Führung bestimmt. In diesem System darf das Recht nicht stärker sein als die Macht. Und für jene, die partout Freiheit wollen, gibt es einen Angstapparat. Wer dort agiert, hat sein Gewissen eingetauscht gegen die Loyalität gegenüber der Macht. Der KGB- Offizier Putin erlebte in Deutschland ein Trauma. Dort standen Menschen auf und skandierten: Wir sind das Volk. Er sah, wie die Macht der Mächtigen zerbrach. Das soll sich nicht mehr wiederholen. Solange Russland die Nähe zum Westen suchte, nahm Putin die Nato nicht als Bedrohung wahr. Deshalb stimmt auch das Gerede nicht, dass an einem Konflikt immer beide Seiten schuld seien. Der Mörder und das Opfer sind nicht gleich schuld. Ebenso wenig der Aggressor und sein Opfer. Die Ukraine hat kein Stück von Russland haben wollen, Russland aber viel von der Ukraine. Wir müssen begreifen: Ein Mensch, der das Recht nicht achtet und andere Länder ohne Grund überfällt, ist eine Gefahr für ganz Europa und für unsere Werte, die wir verteidigen müssen.

Auch mit Waffen?

Wehrlosigkeit ist kein Konzept der Friedenssicherung. Das müssen wir lernen. Die Demokratie nimmt keinen Schaden, wenn es eine allgemeine Wehrpflicht gibt. Allerdings werden wir dann auf eine neue Teilung der Gesellschaft zusteuern: Es wird jene geben, die weglaufen und das Land verlassen, und jene, die die freie demokratische Lebenswelt verteidigen.

Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass das dem Westen gelingen könnte?

Ein Mentalitätswandel braucht Zeit. Das weiß ich wohl. Wir müssen registrieren, dass das, was gut ist für unsere Kinder, sich nicht selbst erhält. Und wir sehen gerade in den USA, dass die Freiheit aus der Freiheit heraus bedroht werden kann.

An einem 7. Oktober, an dem sich der Überfall auf Israel durch die Hamas zum zweiten Mal jährt und damit auch der Beginn des Gaza- Krieges, muss der Blick auch in den Nahen Osten gehen. Wie soll sich Deutschland da positionieren?

Ich habe nichts gegen Menschen, die gegen den Krieg demonstrieren. Doch ich habe viel gegen Menschen, die nicht Täter und Opfer unterscheiden können. Als 17- Jähriger lernte ich die Fülle der Verbrechen kennen, die meine Vorgängergeneration verübt hat. Daraus ist das Bedürfnis gewachsen, jüdischen Menschen nahe zu sein. Ich wollte, dass sie wieder Vertrauen zu uns fassen. Zudem habe ich Israel bewundert für seine Aufbauarbeit. Das ist noch immer in mir. Doch ich sehe auch, welche Antwort das Land auf den barbarischen Angriff der Hamas hat. Und so sehr ich diese Organisation auch verachte, so sehr staune ich über die Unverfrorenheit, so einen unverhältnismäßigen Krieg zu führen. Mein Herz und mein Verstand können da nicht mit. Ich bin schon der Meinung, dass unser Land das letzte sein muss, das seine Solidarität mit Israel aufkündigt. Aber das heißt nicht, dass ich alles akzeptiere. Dass Parteien in Israel eine Regierung stellen, die bei uns als Verfassungsfeinde eingestuft wären, das kann ich als Demokrat doch nicht gut finden.

Wo ist angesichts dieser Lage noch Hoffnung? Woran kann man sich festhalten?

In Deutschland denken manche, man ist erst intelligent, wenn man angemessen klagen kann. Diese deutsche Kultur des allgemeinen Verdrusses möchte ich nicht teilen. Doch ich weiß auch: Eine Demokratie ist ein System ungesicherter Gewissheiten. Ich bin ganz gewiss, dass es keine bessere Gesellschaftsform gibt. Aber ich bin nicht gewiss, was die Gewählten tun. Und ich bin auch nicht gewiss, was die Wählerinnen und Wähler tun. Dazu dürfen wir uns nicht im Irrgarten der Mängel verlaufen. Ich setze dem gerne das Bild eines Korbes entgegen, den ich Demokratie nenne und den ich mit Errungenschaften fülle: mein Recht auf freie Wahlen, darauf musste ich 50 Jahre lang warten. Mein Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Wissenschaft und Kunst sind frei. Und dann darf jeder glauben, was er will. Ich lebe in einem Land, in dem das Recht nicht in der Hand der Macht ist, wo es einen Sozialstaat gibt und das ich jederzeit verlassen kann. Wenn dieses Land Menschen als Soldaten sehen will, dann nur, um das Recht und die Würde des Menschen zu verteidigen. All das wiegt die Mängel auf. Warum also sollte ich nicht zuversichtlich sein?

Von Elisabeth Zoll