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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD
Gespräch mit der Welt am Sonntag
19. Januar 2025, Berlin
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hat der Welt am Sonntag ein Interview gegeben, dass am 19. Januar 2025 erschienen ist.
WELT AM SONNTAG: Herr Gauck, wenn ein ausländischer Freund Sie bäte, die gegenwärtige Stimmung in Deutschland zu beschreiben: Was würden Sie ihm antworten?
JOACHIM GAUCK: Deutschland ist noch nicht aus seiner Neigung erwacht, sich zu versitzen - trotz etlicher Impulse von außen, die uns phasenweise schon aufgeweckt haben. Bundeskanzler Scholz war imstande, eine Zeitenwende auszurufen, zumindest verbal. Ein gewisses Erschrecken ist durch das Land gefahren. Trotzdem dominiert die Haltung, im Wesentlichen das zu verwalten, was wir geschaffen haben - anstatt Aufbrüche zu wagen und entschlossen auf die neuen Realitäten zu reagieren. Das betrifft nicht nur die Sicherheitspolitik, sondern auch die Wirtschaftspolitik und andere Bereiche wie die Migrationspolitik oder die Digitalisierung der Verwaltung.
WAMS: Inwieweit prägen Ihre Erfahrungen in der DDR Ihre Sicht auf die gegenwärtige Gesellschaft?
GAUCK: Wäre ich in Freiheit aufgewachsen, zum Beispiel in Lübeck oder Hamburg, wäre meine Liebe zur Freiheit sicher nicht so intensiv. Durch meine Prägung nehme ich gerade die Freiheit zu oder für etwas stärker wahr. Mir geht es um die kostbare Fähigkeit, Freiheit als Verantwortung leben zu dürfen und eine Gesellschaft zu haben, die uns dies erlaubt. Das ist emotional tief verankert. Und trotz vielfältiger Erschütterungen sehe ich dieses Gut in unserer Demokratie gewahrt und weiß es zu schätzen.
WAMS: Es gibt aber auch die gegenteilige Reaktion. Seit der Corona-Pandemie hält sich in Teilen der Gesellschaft, insbesondere im Osten, die Behauptung, die heutige Lage in Deutschland erinnere an die Diktatur der DDR. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum so viele Menschen diesen Vergleich für legitim halten?
GAUCK: Diese Erzählung, die vor allem von rechtsradikalen Akteuren verbreitet wird, macht den Menschen ein verführerisches Angebot: Danach müssen sie nicht jene Mentalität abschütteln, die ihnen aus DDR-Zeiten vertraut ist. Sie brauchen keine Eigenverantwortung zu übernehmen, wie sie die Demokratie erfordert, sondern können in Distanz zum "System" verharren und sich sogar noch als Kämpfer für Demokratie aufspielen. Vergessen wir nicht, die Menschen im Osten haben nicht nur zwölf, sondern 56 Jahre in Unfreiheit gelebt und viele fremdeln mit der Lebensform eines eigenverantwortlichen Subjekts in der Gesellschaft bis heute. Das ist keine Charakterschwäche, sondern häufig eine Folge fehlender Ermächtigungserfahrungen. Wenn man einst gut damit gefahren ist, sich beständig anzupassen, und Furcht die eigene Entwicklung begleitet hat, dann ist die Demokratie schnell eine Überforderung. Deshalb gibt es schon so lange große Unterschiede zwischen den politischen Kulturen in Ost- und Westdeutschland. Diese werden allerdings geringer und werden sich weitgehend auflösen.
WAMS: Kürzlich hat die WAMS eine Umfrage in Auftrag gegeben, nach der die meisten Bürger eine schwarz-rote Koalition bevorzugen würden. Warum setzen die Deutschen auf Kontinuität, obwohl sie mit der Regierung so unzufrieden waren?
GAUCK: Das hat eine Ratio. Schwarz-Grün war bei der vorherigen Bundestagswahl die präferierte Option. Die Grünen waren im Aufwind und wurden vielfach als Innovationspartei wahrgenommen. Mittlerweile aber empfinden viele Wähler ihre Politik als zu ideologisch oder die Vermittlung ihrer Ziele als besserwisserisch. So entstand der vergröbernde Begriff der Verbotspartei. Dabei benennen sie einen Innovationsbedarf, der im Prinzip richtig ist - von ihnen allerdings zum Teil schlecht umgesetzt wurde. Man braucht aber gerade in Umbruchsituationen einen Politikertypus, der imstande ist, den Menschen die wirklichen Verhältnisse aufzuzeigen, strategische Kursbestimmungen vorzunehmen und die damit unter Umständen verbundenen Zumutungen zu erklären. Die Politik sollte den Leuten ruhig sagen, dass wir zeitweilig den Gürtel wohl enger schnallen müssen - und gleichzeitig die Zuversicht verbreiten, dass und wie wir die anstehenden Herausforderungen stemmen werden. Ich bin überzeugt: Die Nation wartet auf diese kraftvolle Ansage.
WAMS: In der Merkel-Ära wurde oft das Klagelied der Politikverdrossenheit gesungen. Jetzt hat man den Eindruck, das Pendel sei ins andere Extreme geschlagen. An die Stelle eines konstruktiven Streits tritt diskursive Spaltung. Wie konnte es zu dieser Unversöhnlichkeit kommen?
GAUCK: Wir sind meines Erachtens nicht so gefährdet wie andere Nationen. Unsere Demokratie verfügt über stabile Institutionen und eine Bürgerbasis, auf die ich vertraue. In den Vereinigten Staaten hat sich aus dem Fremdeln mit der eigenen Rolle in der Demokratie und aus Frust über soziale Benachteiligung bereits eine Gemengelage gebildet, die sehr tiefgehende Gräben in der Gesellschaft aufgerissen hat. Und noch problematischer: Zunehmend gilt es wieder als normal, was im Internet längst Realität ist - allen Emotionen freien Lauf zu lassen. So schlägt der zivilisierte Umgang mit politischen Gegnern um in Ressentiment. So wird ein archaisches Aggressionspotential, das in der Psyche der Menschen enthalten ist, aktiviert und beschädigt das, was in einer langen Geschichte der politischen Zivilisation an Fairness und Anstand gewachsen ist. Das ist wirklich erschreckend.
WAMS: Ist es nicht besorgniserregend, dass wir mit der AfD und dem BSW rund 25 bis 30 Prozent in der Wählerschaft haben, die antiwestlich ausgerichtet sind?
GAUCK: Ja, das ist besorgniserregend. Diese intendierte Auflösung politischer Bündnisse und diese Enthemmung, von der ich eben sprach, ist etwas Neues. Und sie irritiert mich, denn wir haben mit der liberalen Demokratie ein Lösungsmodell für innergesellschaftliche Konflikte, das sich eigentlich bewährt hat. Allerdings machen die aktuellen tiefgreifenden Wandlungsprozesse den Menschen nicht zuletzt deswegen Angst, weil die Demokratie in wichtigen Fragen noch keine befriedigenden Antworten geliefert hat. Und aus Angst folgt immer Flucht oder Aggressivität.
WAMS: Ist der Aufstieg der AfD ein Indiz dafür, dass das Fundament des Bürgertums bröckelt?
GAUCK: Wenn wir die Nazis herausnehmen, die die AfD wählen, so besteht die Mehrheit ihrer Wähler aus Leuten, die unzufrieden mit dem liberalen System sind und sich von einem autoritären Führungsstil und rückwärtsgewandten Vorstellungen bessere Lösungen versprechen. Aber diese Menschen lassen sich zurückholen, wenn sie erkennen, dass unsere Demokratie die Probleme lösen oder zumindest entscheidend verringern kann. Dieses Land leidet nicht an Erkenntnisdefiziten. Es hat ein Umsetzungsdefizit. Etwa beim Thema Migration. Aber leider bestehen die Schwierigkeiten vieler Parteien der Mitte in Europa, die nach Rechtsaußen abgedrifteten Wähler zurückzugewinnen, darin, ausreichend eigene Angebote zu machen, die ohne Ressentiments aber mit Problembewusstsein ausgestattet sind. Dazu braucht es mehr Mut und mehr Entschlossenheit als bisher.
WAMS: Und wie?
GAUCK: Indem man sich nicht immer nur fürchtet vor den Populisten, sondern offensiv ihre defizitären Zukunftsentwürfe anprangert. Oder sie fragt: Was habt ihr bisher geleistet? Und was hat die liberale Demokratie dagegen geschaffen mit unserem Sozialstaat, mit unserer Wirtschaft, mit unserer freiheitlichen Lebensform? Die offensive Entschlossenheit derer, die seit Jahrzehnten etwas für das Land geleistet haben, die fehlt mir. Dieser berechtigte Stolz auf das, wozu diese Nation im Positiven fähig ist - wo ist er? Stattdessen beklagen wir, was wir alles nicht können. So entsteht ein mal wütender, mal gepflegter Diskurs über unsere Mängel. Mitunter kann man darüber ja durchaus diskutieren, aber diese ausschließliche Fokussierung auf das Negative fuhrt nicht dazu, daran zu glauben, dass unser Modell Zukunft hätte. Deshalb wünscht sich ein maßgeblicher Teil der Bevölkerung Politiker, die sagen: Das können wir besser, das werden wir hinbekommen. Und die entsprechenden Pläne vorlegen. Es ist doch kein Zufall, dass jemand wie Boris Pistorius durch seine Gabe, Aufgaben zu benennen und Entschlossenheit zu demonstrieren, für viele Menschen überzeugend wirkt. Wir brauchen in zentralen Bereichen unseres Staates einen Neustart. Vor allem brauchen wir ein Bewusstsein, dass Freiheit und Demokratie sich nicht von selbst erhalten. Worauf warten die Politiker dann noch? Die Bürger wollen sehen, dass die politische Führung der Größe der Aufgaben gewachsen ist.
WAMS: Am Montag wird Donald Trump zum US-Präsidenten vereidigt. Mit welchen Gedanken blicken Sie auf diesen Tag?
GAUCK: Ich schaue mit gemischten Gefühlen auf die zweite Amtszeit von Donald Trump. Die potenziellen Auswirkungen für die amerikanische Demokratie und die globale Stabilität sind enorm, sie lassen sich aber schwer abschätzen. Wir sollten es daher unterlassen, durch ein öffentliches Bekunden unseres Unmuts über den neuen US-Präsidenten die Beziehung zu den Vereinigten Staaten insgesamt zu gefährden. Von uns darf ein Bruch des transatlantischen Bündnisses, das sich militärisch in der Nato organisiert, nicht ausgehen. Sahra Wagenknecht und die MD tun so, als bräuchten wir die Nato nicht. Vor ihnen muss gewarnt werden: Diese Menschen wollen ein Deutschland, das sich auf einen abenteuerlichen und irrlichternden Kurs begibt.
WAMS: Bald wird gewählt. Es heißt, diese Wahl sei die letzte Chance für die etablierten Parteien. Sehen Sie das ähnlich düster?
GAUCK: Nein, das Land hat eine erhebliche Resilienz. Ich sagte es eben schon: Was wir brauchen, ist der Geist des Aufbruchs. Wir müssen unsere Mentalität in einer Weise ändern, die weggeht vom Verwalten des Vorhandenen. Dabei geht es nicht allein um eine leistungsstarke Wirtschaft. Es geht darum, dass unsere Demokratie, unsere Rechtsordnung, unser Sozialstaat, unsere Meinungs- und Medienfreiheit breit akzeptiert werden. Es geht darum, uns bewusst zu machen, warum diese unsere liberale Demokratie verteidigenswert ist. Wir brauchen die Europäische Union und wir brauchen die Nato. Wir werden für sie mehr tun müssen. Vielleicht wird Robert Habeck noch einmal dafür gelobt werden, dass er mutig 3,5 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben bereit ist. Es braucht Politiker, die uns sagen: Das ist hier der Weg. Er ist erforderlich, weil er den Erhalt unserer Gesellschafts- und Lebensform gewährleistet. Wenn wir diesen Weg nicht beschreiten, geht es bergab und wird hinterher viel teurer.
WAMS: Sie feiern in wenigen Tagen Ihren 85. Geburtstag. Wenn Sie auf Ihre Kinder und Enkel schauen, sehen Sie dann mit Zuversicht oder eher pessimistisch in die Zukunft?
GAUCK: Meinen zahlreichen Enkeln und Urenkeln möchte ich sagen: Angst zu haben ist menschlich, aber sie zu überwinden, ist auch eine menschliche Fähigkeit. Dabei entsteht Mut, er ist tatsächlich menschenmöglich. Und: Ihr habt riesige Potenziale. Nutzt sie auch politisch! Lasst Euch nichts vormachen über angeblich bessere Alternativen zur Demokratie. Gibt es ein Land, unter den unfreien, autoritären oder gar totalitären Staaten, in dem es sich wirklich besser leben lässt? Nein, das gibt es nicht. Seid mutig, dies auch offen auszusprechen. Wir Deutsche kommen aus einer totalen Katastrophe, moralisch, politisch und wirtschaftlich. Wir kommen aus dem totalen Verlust von Freiheit und Recht. Wir haben aus der Geschichte gelernt. Daraus ist ein Land entstanden, in dem sowohl das Recht als lebensleitendes Prinzip als auch die Würde des Einzelnen in wirtschaftlicher Sicherheit derart geschützt sind wie nie zuvor in unserer Geschichte. Verspielt dieses Geschenk nicht. Sorgt für eine Politik, die den realen Problemen angemessen ist und den zukünftigen Problemen gerecht wird.
Das Interview führten: Hannah Bethke und Jacques Schuster