Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Karls-Preis-Prag

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck bei der Verleihung des Karls IV.-Preises in der Karls-Universität in Prag mit dem Oberbürgermeister von Prag, Zdeněk Hřib (li.) und dem Rektor der Karls-Universität, ‎Tomáš Zima

©Charles University Prague / Rene Volfik - FOTOREPO

Verleihung des Karls IV.-Preises mit dem Oberbürgermeister von Prag, Zdeněk Hřib (li.) und dem Rektor der Karls-Universität, ‎Tomáš Zima (re.)

Verleihung des Karl IV.-Preises

21. Januar 2019, Prag, Tschechien

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Ich bin dankbar und voller Freude darüber, dass ich erneut in diesen ehrwürdigen Hallen inmitten der Goldenen Stadt Ihr Gast sein darf. Ihnen, Herr Professor Zima und Herr Oberbürgermeister, danke ich also gleich mehrfach: für diese ehrenvolle Auszeichnung, für Ihre würdigenden Worte und auch für die Gelegenheit, Prag im Winter zu erkunden.

Denn im Gegensatz zu meinem Besuch vor fünf Jahren verfüge ich nun über das Privileg eines ehemaligen Bundespräsidenten, etwas mehr Zeit zu haben. Zeit um selbst den Spuren von Karl IV. und all dem nachzuspüren, was Prag speziell europäisch macht: kulturell, religiös, architektonisch und historisch.

In dieser Feierstunde möchte ich Sie einladen, mit mir in Gedanken durch Ihre Stadt zu flanieren und dabei auch wahrzunehmen, wie kostbar das ist, was wir vor nun bald 30 Jahren gemeinsam neu errungen haben, aber eine so viel längere und reichere Geschichte hat: die Verbundenheit Europas in Freiheit und Solidarität geprägt von Demokratie, Liberalität und Rechtsstaatlichkeit.

Beginnen möchte ich unseren Spaziergang hier im Karolinum. Gleich um die Ecke gegenüber dem Ständetheater finden wir diesen wundervollen gotischen Erker mit seinen filigran herausgearbeiteten fantastischen Kreaturen und Wasserspeiern. Dieser Erker entstammt noch dem ursprünglichen Patrizierhaus von Jahlin Rotlev und führt uns direkt hinein in die Entstehungsepoche der Karls-Universität, die hier über 40 Jahre nach der Gründung durch Karl IV. erstmals ein Obdach für sein Kollegium erhielt.

Karl IV. selbst war das, was wir heute einen Europäer nennen würden. Er war gewählter römisch-deutscher Kaiser und zugleich König von Böhmen. Sein Vater stammte aus dem Geschlecht der Luxemburger, seine Mutter aus dem alten böhmischen Herrscherhaus der Přemysliden.

Die Alma Mater Carolinum wurde von Karl IV. als erste Universität in Mitteleuropa nach dem Vorbild der Pariser universitas magistrorum et scholarium gegründet. Auch in Prag wurden die Magister und Scholaren entsprechend der Himmelsrichtungen in vier Nationes eingeteilt. So wirkten Polen, Böhmen, Bayern und Sachsen an der Karls-Universität gleichberechtigt und vereint in der Unterrichtssprache Latein. Dies ist doch ein schönes Beispiel dafür, was vor über 650 Jahren schon selbstverständlich war; zumal sich die Herkunft der Studenten nicht auf diese Nationes beschränkte, sondern sich von Italien bis Schweden und von Ungarn bis England erstreckte. Dank der europäischen Förderprogramme –etwa ERASMUS – ist die Schar der Absolventen, die gleich nebenan in der Aula Maximum in diesem Jahr ihr Diplom empfangen, zwar anders zusammengesetzt, aber wieder ähnlich vielfältig wie zu Zeiten der Gründung.

Wenn wir in Gedanken weiter durch die Stadt schlendern  und am Rande des Altstädter Rings all die prachtvollen Häusern sehen, die im Stile der italienischen Renaissance oder des Habsburger Barocks auf romanischen oder gotischen Grundmauern stehen, so lädt jedes Haus zur näheren Betrachtung ein und erzählt seine ganz eigene Geschichte.

Aber die eigentliche Schönheit entsteht erst durch das eindrucksvolle Zusammenwirken der verschiedenartigen Baustile, der unterschiedlichen kulturellen Einflüsse europäischer Baukunst. Es ist wie in der Musik: erst aus dem Zusammenspiel des Orchesters entsteht die Sinfonie.

Das könnte uns in den Sinn kommen, wenn wir unser europäisches Einigungswerk betrachten: Manches Bauwerk ist renovierungsbedürftig, es bedarf der ständigen Pflege und Wartung, jede Epoche hinterlässt durch An- und Umbauten seine Spuren. Dem einen ist eher jener, dem anderen eher dieser Teil wichtig. Jeder Gebäudeteil hat seine eigene Geschichte, aber: die Sinfonie entsteht erst im Zusammenwirken der Verschiedenen und auch große und prachtvolle Bauten müssen sich einreihen in das Gesamtensemble, damit sich die eigentliche Schönheit entfalten kann.

So ist auch die Europäische Union ein Bauwerk in dem das Verschiedene seinen Platz hat, in dem es ständig etwas zu verbessern und zu erneuern gibt. Darüber sollten wir aber nicht vergessen, welchen Nutzen und welchen Erfolg das Gesamtensemble der EU ihren Mitgliedern gebracht hat.

Um noch einmal in das Bild zurückzukehren: Mit dem bevorstehenden Abriss einer der bedeutendsten Häuser wird eine schmerzliche Lücke entstehen. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU wird sich diese verändern und wir wissen noch nicht genau wie. Aber ich bin mir sicher, sie wird Bestand haben und über die nächsten Generationen nichts von ihrem Reiz verlieren – wie der Altstädter Ring.

Gefangen wird unser Blick über den weitläufigen Platz aber auch durch das zunächst Störende vor der schönen Fassade. Inmitten des Platzes erhebt sich auf mächtiger Granitbasis ein Monument aus Bronze. Es zeigt Jan Hus, der sich symbolisch aus dem niedergebrannten Scheiterhaufen erhebt und durch, so der Künstler Ladislav Šaloun, "seinen Märtyrertod […] der Menschheit die Gewissensfreiheit und den Weg zur Wahrheit [erkaufte]".

Hus, der Theologe, begnadete Prediger, Dekan und auch Rektor dieser Universität steht zunächst einmal für das akademische Ideal dieser Zeit. Frei von tradierten Vorstellungen hat er sich die Welt intellektuell angeeignet. Er ließ sich von den Thesen des Oxforder Theologen John Wyclif überzeugen und vertrat seine Meinung, ja sein Gewissen gegen alle Widerstände.

Dabei scheute er auch nicht vor der konsequenten Durchsetzung eigener und böhmischer Interessen zurück und initiierte als einer der Wortführer bei König Wenzel IV. das Kuttenberger Dekret, mit dem die Gleichberechtigung der Nationes an der Karls-Universität endete, was letztlich zur Abwanderung deutscher Gelehrter und Studenten führte. Hier kündigte sich im Kleinen an, was nicht nur das Schicksal dieser Universität, sondern Böhmens, ja ganz Europas über lange Zeit bestimmen sollte.

So gesehen steht die Karls-Universität in ihrer wechselvollen Geschichte nicht nur für das Einigende, sondern auch das Trennende der Religionen, Kulturen und Nationen in Europa.

Und die Älteren unter uns wissen zusätzlich aus eigener Erfahrung, dass Universitäten in Zeiten der Diktatur keine Stätten des freien Geistes und der Humanitas bleiben.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn wir unseren gedanklichen Prag-Spaziergang fortsetzen, stehen wir nun im Schatten der Türme von St. Nikolai auf dem Franz Kafka Platz und schauen auf sein Konterfei, das die Fenster des Cafés in seinem Geburtshaus ziert.

Kafka. Nun ist die Gefahr groß, dass einem die Gedanken entfliegen ins Reich des Surrealen, des Kafkaesken. Um aber nicht in der Unendlichkeit der Deutungsmöglichkeiten seines Werkes verloren zu gehen, möchte ich kurz im Symbolhaften verharren.

Franz Kafka steht für jene besondere Mischung der Kulturen, für jenes jüdisch-tschechisch-deutsche Leben, das gerade für Prag so charakteristisch war. Doch: Auflösung des tschechoslowakischen Staates, Unterdrückung des Tschechischen und Ausrottung des Jüdischen – so führten die nationalsozialistischen Verbrechen das Ende dieser einzigartigen kulturellen Symbiose im Herzen Europas herbei. Kafka erlebte das dunkelste Kapitel der tschechisch-deutschen, der europäischen Geschichte nicht mehr.

Der letzte Akt des Dramas folgte nach der Befreiung 1945, als auch die Deutschen ihre Heimat verlassen mussten, durch Flucht, Vertreibung, Zwangsaussiedlung, ethnische Säuberung, Odsun – wie immer Sie es nennen mögen – Schuldige und Unschuldige zugleich.

Es ist keine Frage, dass die Geschichte der tschechisch-deutschen Beziehungen auch eine Geschichte des Leids ist. Manchmal erscheint es wie ein Wunder, dass es möglich war, uns überhaupt wieder in die Augen zu schauen, überhaupt wieder miteinander zu sprechen, überhaupt wieder den Mut zu finden, im Geiste von Verständigung und Versöhnung die Geschichte als eine gemeinsame fortzuschreiben. Wenn wir im Sinne von Václav Havel in der Wahrheit leben, finden wir Worte und Wege, die tatsächlich zur Versöhnung führen. Dank sei denen, die diesen schweren Weg vor uns bereits gegangen sind.

Sehr geehrte Damen und Herren,

mein virtueller Gang durch Prag ist noch nicht beendet, denn ich muss noch einmal zurückkehren auf den Altstädter Ring.

Die Erinnerungsbilder, die wir jetzt wachrufen, zeigen die Kanonenrohre sowjetischer Panzer. Es ist der 21. August 1968 und die "sozialistischen Brüderstaaten" sollen unter Führung Moskaus dem ein gewaltsames Ende setzen, was so vielen Menschen Hoffnungen gemacht hatte. Hoffnung auf eine Reform, die den Bürgern wieder ihre zentralen Grundrechte und -freiheiten zugesteht, etwa die Rede- und Versammlungsfreiheit oder auch die Freiheit von Wissenschaft, Kunst, Kultur und Medien.

Knapp 100 Menschen wurden bei Demonstrationen erschossen, die Staatsführung der Tschechoslowakei wurde auf Linie gebracht und sowjetische Soldaten dauerhaft stationiert. Auch wenn die Niederschlagung des Prager Frühlings viele Oppositionelle in den mittel- und osteuropäischen Diktaturen von sowjetischen Gnaden zunächst desillusionierte und viele dauerhaft entmutigte, konnte die Hoffnung auf Freiheit nicht gänzlich ausgelöscht werden.

Und wer von Hoffnung auf Freiheit redet, darf nicht an Jan Palach vorbeigehen. Der Student der Karls-Universität setzte hier mit seiner Selbstverbrennung am 19. Januar 1969 ein Fanal für die Freiheit. Seine Beerdigung wurde zu einer Massendemonstration und unter seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen, aber auch weit darüber hinaus, wurde er zur Symbolfigur der Menschen, die sich nach einer freien Tschechoslowakei sehnten. Dieser Kreis war die Keimzelle für die Charta ´77 und am 24. November 1989 versammelten sich vor dem Haus Nr. 56  am Wenzelsplatz Tausende Demonstranten, um den politischen Aufruf von Václav Havel und Alexander Dubček zu hören.

Wenn wir uns an den Herbst 1989 erinnern, haben wir ganz unterschiedliche Bilder im Kopf; auch die Namen, die wir den Bewegungen gaben, mögen sich unterscheiden, so sprechen wir heute von der Samtenen, der Singenden oder der Friedlichen Revolution, aber dennoch gibt es das Einigende zwischen den Menschen in Leipzig und Prag, zwischen Warschau und Bratislava. Es ist die jahrzehntelange Erfahrung von Unrecht und Unterdrückung, eine Erfahrung der scheinbar unendlichen Macht der Wenigen und dieser scheinbar endlosen Ohnmacht der Vielen. Es ist auch die Erfahrung, dass eine Kraft entstehen kann, sich aus der Ohnmacht zu befreien. Schließlich eint uns das unbeschreibliche Glücksempfinden, die ersehnte Freiheit tatsächlich errungen zu haben.

Wir waren vor 30 Jahren im Protest gegen das kommunistische Regime und für Freiheit und Demokratie vereint. Und wir sollten heute vereint bleiben gegen alle Versuche, die Demokratie auszuhöhlen oder das veraltete Modell des Nationalismus wiederzubeleben.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie wissen es: unser Spaziergang ließe sich noch stundenlang fortsetzen, etwa über die Karlsbrücke die Moldau querend auf die Kleinseite, dann weiter hoch zur Burg; oder ein Abstecher in das Jüdische Viertel oder zum Vyšehrad. Und überall fänden wir stumme und sprechende Zeugnisse unseres gemeinsamen kulturellen Erbes: ein Europa der Poesie, der Kritik und der Wissenschaft, der Leidenschaft und des Glaubens, der großen Projekte und der Eleganz des Gelingens, der Freiheit und der Innerlichkeit, des Individuums und des wiedergewonnenen freien und demokratischen Gemeinwesens.

Wir sehen viel Licht, aber auch die dunklen Schatten, die sich auf unser kollektives europäisches Gedächtnis legen. Beides, Licht und Schatten, gehören zu Europa.

Ein Europa, das sich zu erinnern und zu bewahren lohnt, weil es nur in seinen über so lange Jahrhunderte erkämpften Werten eine Zukunft hat.

In diesem Sinne empfange ich heute von Ihnen eine Ehrung, die ich als eine Verpflichtung und einen Auftrag betrachte: Mit Ihnen zusammen einzutreten für ein Europa der Freiheit und Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Solidarität.

Ich danke Ihnen.