Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Mercator-Vorlesung-Essen

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck bei einer Diskussion anlässlich der Mercator-Professur der Universität Essen

©Universität Duisburg-Essen/eventfotograf.in

Diskussion anlässlich der Mercator-Professur im Audimax der Universität in Essen

2. Mercator-Vorlesung an der Universität Essen

27. November 2018, Essen

"Der Staat der Bürger in Zeiten neuer Verunsicherungen"

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Vor knapp drei Wochen habe ich bei der ersten Veranstaltung im Rahmen meiner Mercator-Professur in Duisburg gesprochen. Ich habe geschildert, wie unser Staat sich zu dem entwickelt hat, was er ist – ein Staat der Bürgerinnen und Bürger, eine stabile, verlässliche und erneuerungsfähige Demokratie. Und ich habe darüber gesprochen, wie wir wurden, was wir sind: nämlich beheimatet in unserem Land, das auf seinen Wegen und Umwegen angekommen ist im europäischen Freiheitsraum.

Ich habe die Entwicklungen unseres Landes geschildert mit Blick auf große Ereignisse der vergangenen 100 Jahre, die mehrfach verbunden sind mit dem Datum des 9. November. Die Gründung der ersten deutschen Demokratie 1918. Der Weg zu Rassenwahn und Völkermord, verbunden mit der Reichspogromnacht 1938. Die Wiedererrichtung der Demokratie nach 1945 im Westen Deutschlands. Und schließlich die Friedliche Revolution in der DDR, symbolisiert durch den Tag des Mauerfalls 1989. Ich habe uns den Weg unseres Landes vor Augen geführt, um ihn in unser Bewusstsein zu rufen, in Zeiten, in denen wir auf unseren Staat schauen und auf unsere Demokratie und wir uns neu fragen, wie wir diesen Staat gestalten wollen. Wenn wir uns neu fragen, was uns möglich ist. Und wenn wir uns dann fragen, ob wir Grund zu Furcht oder zu Mut haben.

Meine aus Erfahrung gewonnene Botschaft war und ist: Wir Deutsche können Freiheit. Es stimmt ja: Wir leben nicht in einer Welt ohne Risiken. Wir leben nicht in einer Demokratie ohne Nachteile und echte Mängel. Aber wir sind in den letzten Jahrzehnten einen Weg gegangen, der uns begründete Hoffnung gibt, dass unsere Institutionen stabiler sind als in der Weimarer Republik und die Menschen in ihrem Denken gewappneter, um einen demokratischen Konsens zu erhalten. Denn es bleibt die bittere Lehre gerade der deutschen Geschichte:

Auch eine einmal errungene Demokratie bleibt immer gefährdet. Das Denken der Menschen kann sich ändern, und Institutionen eines demokratischen Rechtsstaats sind erschreckend schnell auszuhöhlen, wenn es zu wenige gibt, die sie verteidigen. Mit dem Wissen vom großen Zivilisationsbruch, von der menschenverachtenden Politik der Nationalsozialisten und der Ermordung von Millionen haben Deutsche die Geschichte der letzten 70 Jahren gestaltet.

Unser Weg seit Gründung der Bundesrepublik hat uns nicht in ein Paradies geführt, sondern in ein Land, das fortwährend Probleme zu lösen hatte und häufig nur unbefriedigende Teillösungen zustande brachte. Aber in ein Land, das wir als freie Bürger in Frieden, in Selbstbestimmung und Würde gestalten können. Aus diesem Weg, aus diesem späten Glück einer stabilen deutschen Demokratie können wir Selbstbewusstsein schöpfen und Kraft für das, was vor uns liegt. Und wir können uns auf die Erfahrung stützen, dass wir das, was uns heute schwer erscheint, meistern können, wenn wir vor Verantwortung nicht davonlaufen.

Heute will ich hier in Essen darüber sprechen, vor welchen Bewährungen "der Staat der Bürger in Zeiten neuer Verunsicherungen" steht – und auch darüber, welche Gefahren für unsere Demokratie ich heute sehe.

Vielleicht ist der "tiefe Westen" Deutschlands der richtige Ort um darüber nachzudenken, denn hier wird Demokratie seit bald 70 Jahren lebendig gestaltet und sie hat manche Unruhe gut überstanden, auch manche gesellschaftliche Umwälzung, wenn ich an den Strukturwandel und die verschiedenen Phasen von Einwanderung hier im Ruhrgebiet denke. Ich als Ostdeutscher blicke dankbar auf diese jahrzehntelange Stabilität der Demokratie, die sich auf große Zustimmung in der Bevölkerung gründet. Und doch rücken seit einiger Zeit Phänomene in den Vordergrund, die wir vor 20 Jahren nicht erwartet haben.

Den Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft nehmen viele Menschen als Entgrenzung wahr und fürchten ihn. Auch in Deutschland. Ich spreche von der Verlagerung von Kompetenzen, weg vom Nationalstaat hin zur EU, ich spreche von der Globalisierung, die unsere Wirtschaft in einen harten globalen Wettbewerb stellt. Und ich spreche natürlich von der Digitalisierung, deren Folgen für den Arbeitsmarkt und unser aller Leben noch nicht überschaubar sind. Ich spreche davon, dass fast alle Bereiche unserer Ökonomie mitten in Veränderungen stehen – denken Sie an die Energiewende, an Robotik und Künstliche Intelligenz – deren Auswirkungen viele Arbeitnehmer verunsichern. Massive Veränderungen haben wir auch in vielen kulturellen Bereichen erlebt, etwa den Wandel von Familienbildern. Nicht zuletzt beschäftigt die Zuwanderung der letzten Jahre unsere Gesellschaft mit vielen noch ungelösten Fragen. Und die mannigfaltigen Unsicherheiten und Herausforderungen haben vielfältige Ängste geweckt.

Fühlen sich Bevölkerungsgruppen in all diesen Veränderungsprozessen überfordert oder zu wenig gehört, entstehen Gegenkräfte – und Lücken, in die Populisten gezielt hineinspringen. So erleben wir den globalen Aufstieg eines Populismus, der reüssiert mit dem wirkmächtigen Versprechen, beängstigende Komplexität zu reduzieren, einfache Lösungen herbeizuführen und einen Zustand wiederherzustellen, in dem früher eben alles besser war. Solche Angststrategien versprechen Befreiung vom ständigen Druck nach Wandel, von der ständigen Notwendigkeit, uns auseinanderzusetzen mit komplexen, verunsichernden Fragen.

Sie suggerieren, es gebe eine Rückkehr zu einer überschaubaren, homogenen Nation und zu weniger komplizierten Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens. Sie versprechen Schluss zu machen einerseits mit schwer durchschaubarem Streit und andererseits mit dem lästigen Suchen nach Kompromissen und unbefriedigenden Zwischenlösungen. Sie versprechen einleuchtende, einfache Antworten, schnelle Entscheidungen, klare Hierarchien und weniger Verunsicherung.

Und sie beleben eine eigentlich ziemlich alte und autoritär zu nennende Vorstellung neu, die auftaucht in den Köpfen nicht weniger Menschen und auch in öffentlichen Debatten: Nämlich dass es ein so genanntes "wahres Volk" gibt, eine schweigende Mehrheit, deren Wille aber zu kurz kommt in unserer Demokratie und der eigentlich unmittelbare Umsetzung finden sollte. Dass es etwas gäbe wie ein "wahres Volk", das von einer korrumpierten Elite – in Politik, Medien, vielleicht auch Wissenschaft und Kultur – bevormundet und übergangen wird. Ein "wahres Volk", dem nur ein neuer Populismus zum Recht verhelfen kann, der die Herrschaft dieser finsteren Eliten beseitigt.

Der unmittelbare Wille "des" Volkes oder sogar einer "Volksgemeinschaft", so ist es wohl die Vorstellung mancher Menschen, könne simple Antworten geben auf komplizierte Sachverhalte. Er könne all die schwierigen Entscheidungen, Risiken und Widersprüche, die die Freiheit den Menschen bringt, hinwegwischen und sie zurückführen auf die Begrenztheit eines homogenen Volkes, das sich den Herausforderungen von Demokratie und Moderne nicht stellen muss. Und indem sie behaupten, "das Volk" zu repräsentieren, locken Populisten Menschen in eine imaginäre Form des Zusammengehörens, letztlich in eine "Gefolgschaft".

Bundestagspräsident Schäuble hat uns vor einigen Wochen in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit erneut vor Augen geführt, wie sehr solche Vorstellungen dem Geist unseres Grundgesetzes entgegenstehen. Er sagte: "Freiheitliche Demokratie: Das bedeutet für jeden von uns Freiheit zur Mitbestimmung – und bei den unveräußerlichen Grundrechten Freiheit von Fremdbestimmung! (…) Die Mehrheit regiert. Aber der Mehrheitswille ist begrenzt durch die Prinzipien von Gewaltenteilung und Minderheitenschutz. (…) Niemand hat das Recht zu behaupten, er allein vertrete ‚das‘ Volk. Der Souverän ist keine Einheit, sondern eine Vielheit widerstreitender Kräfte. So etwas wie ein Volkswille entsteht erst in der Debatte. Und nur durch Mehrheiten – die sich ändern können."

Eben: Der Souverän ist keine Einheit, sondern eine Vielheit widerstreitender Kräfte – sie alle sind das Volk. In Zeiten von Not, Unterdrückung und Ohnmacht der Vielen können sich Bewegungen bilden, wie in revolutionären Situationen, in denen die Unterschiedlichen sich verbinden, um radikale Veränderungen zu erreichen: das war so 1989 im Osten das "Wir sind das Volk". Aber außerhalb solcher Ausnahmesituationen gilt: Das Volk ist keine homogene Gruppe, es besteht aus Menschen, die völlig unterschiedlich denken, leben und arbeiten. Vorstellungen, sie könnten "eins" werden, Unterschiede ließen sich einfach aufheben, waren in der Demokratie immer falsch und heute sind sie es besonders. Die Pluralität unserer Gesellschaft ist ein Faktum, sie wäre es übrigens auch ohne Zuwanderung. Und sie wird ein Faktum bleiben, gerade in einer Zeit der Globalisierung. Unsere Aufgabe ist es daher, die vielen unterschiedlichen Gruppen unserer Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen so in Beziehung zueinander zu setzen und auf eine gemeinsame Basis zu verpflichten, auf dass sie unsere Demokratie beständig mit Leben erfüllen.

Ich hielte es für keine gute Idee, als Demokraten mitzuspielen bei der Vorstellung eines unmittelbar umzusetzenden Mehrheits- oder Volkswillens, vielleicht sogar eines Volksempfindens. Sie ist keine Kategorie rechtsstaatlicher Politik, denn Ideen einer unbeschränkten Herrschaft einer realen oder gefühlten Mehrheit lassen die Grenzen zur Mehrheitstyrannei zwangsläufig verschwinden – auch dann, wenn die Idee eines Volkswillens von Demokraten vorgetragen wird. Ihre Grundannahme ist falsch: Es gibt kein homogenes Volk, das einen absoluten und widerspruchsfreien Willen artikulieren könnte, der sich ohne Kompromisse umsetzen ließe.

Auch die Idee, der ja meist rechtsstehenden Erzählung eines einheitlichen Volkswillens eine "linke" Erzählung eines solchen Volkswillens gegenüberzustellen (Sie kennen die auch in Deutschland zu hörenden Rufe nach einem elitenkritischen "linken Populismus", der mit neomarxistischen Akteuren oder Politikern wie Mélenchon oder Corbyn verbunden ist), ist kein Dienst an der Demokratie. Populismus entmündigt Menschen auch dann, wenn er für eine angeblich gute Sache betrieben wird und sich zum Beispiel nicht gegen Migranten richtet, sondern "nur" gegen den angeblichen Neoliberalismus der Europäischen Union, gegen wirtschaftliche Eliten oder gegen den Freihandel.

Meine Damen und Herren, wer Gründe hat, sich gegen Populismus zu wehren, der sollte allerdings nicht den Fehler machen, im Abwehrkampf gegen Populismus populistische Argumentationsmuster zu kopieren. Sinnvoller wäre die Anstrengung, die eigenen Positionen in populär verständlicher Weise darzustellen. Aufgeklärte Politik erkennt man nicht schon an komplizierter Sprache. Gegen eine Vereinfachung in der Sprache ist nichts einzuwenden, wenn sie Menschen befähigt, Zusammenhänge zu erkennen, ihre Ängste zu minimieren und sie handlungsfähig zu machen.

Aufgabe der Politik ist es also nicht nur, Inhalte und Ziele zu definieren, sondern die Vermittlung der Ziele offener und verständlicher als bisher zu gestalten. Intensivere und bessere Kommunikation ist ein politisches Gebot der Stunde. Dies wird besser gelingen, wenn die Politik bereit ist, einerseits genauer hinzusehen bei den Ursachen von Entfremdung zwischen Bürgern und demokratischem Staat (übrigens auch zwischen einzelnen Gruppen von Bürgern untereinander) und andererseits die Art und Weise zu überprüfen, mit denen bisher darauf geantwortet wurde.

Was sehe ich also als Ursachen dafür, dass sich zahlreiche Bürger in vielen Ländern Europas, in den Vereinigten Staaten und seit einigen Jahren auch in Deutschland offenbar nicht vertreten, nicht angesprochen, nicht berücksichtigt, nicht gemeint fühlen in dem, wie in ihrem Land miteinander debattiert und schließlich entschieden wird?

Aktuelle soziale Probleme allein scheinen mir als Erklärung nicht ausreichend zu sein. Sie spielten in den USA, in Italien und Griechenland sicher eine Rolle, im durch schwere soziale Krisen gegangenen Portugal hingegen gibt es keine erfolgreiche populistische Partei. Dagegen reüssiert Populismus trotz guter wirtschaftlicher Ausgangslage auch in den egalitären Gesellschaften Skandinaviens oder in den Niederlanden. Und in Deutschland sahen wir rechtspopulistische Wahlerfolge nicht nur im Osten, sondern auch in den wohlhabenden Regionen des Südwestens.

Die Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Ihrer Universität mögen es mir nachsehen, aber es scheint mir, als würden wir den Ursachen einer Erklärung dieses Phänomens am ehesten nahe kommen, wenn wir die Erkenntnisse von Psychologen betrachten. Sie können uns zum Beispiel über Wirkungsmechanismus und Wirkungsmacht von Angst berichten.

Von welchen Ängsten spreche ich? Ich beobachte Verlustängste, die große Gruppen ganz verschiedener Gesellschaften befallen. Verlustangst materieller Art, allerdings vor Verlust eines guten Lebensstandards in der Zukunft. Verlustangst aber vor allem davor, das eigene Leben nicht mehr vollständig kontrollieren zu können. Davor, einem permanenten Wandel, etwa in der Arbeitswelt, ausgesetzt zu sein – und nicht mehr mitzukommen bei Globalisierung, Digitalisierung, künstlicher Intelligenz. Davor, durch Einwanderung unter Druck zu geraten, die kulturell verunsichert und Konflikte in die bestehende Gesellschaft bringen kann. Davor, dass sich soziale Strukturen weiter rasant wandeln, etwa die Rolle der Familien und der Geschlechter. Davor, ständig mit hochkomplexen Fragen konfrontiert zu werden. Letztlich davor, die Verhältnisse und Rahmenbedingungen des eigenen Lebens, des Wohnortes oder des Landes nicht mehr überblicken und beeinflussen zu können. Angst davor, dass andere Gruppen – seien es anders lebende Einheimische oder Zuwanderer – bislang herrschende kulturelle Codes verändern. Angst – kombiniert aus permanentem Innovationsdruck und Ent-Traditionalisierung, letztlich vor dem Verlust von Beheimatung in einem umfassenden Sinne.

Vielleicht sind Universitäten als Motoren von Innovation und Fortschritt kein Ort, an dem dies selbstverständlich ist, aber machen wir uns klar:

Während die meisten in den universitären Milieus weltweit mit Neugierde und positiven Erwartungen auf Veränderungen blicken (etwa die Digitalisierung, die Globalisierung, die Internationalisierung von Leben und Arbeitswelt) oder sie allenfalls als Herausforderung betrachten, lösen die gleichen Prozesse bei vielen anderen Menschen Ängste aus, vor Überforderung und drohendem Abstieg oder drohender Orientierungslosigkeit.

Manchmal reicht es, innerhalb der Familie miteinander zu sprechen, um zu merken, dass derselbe Sachverhalt ganz unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann, je nach Lebenssituation und Zukunftssicht. Deshalb gibt es schon Familien, in denen alleine aus diesem Grund nicht mehr alle mit allen reden.

In den USA hat sich gezeigt, wie schnell Demokratie gefährdet werden kann, wenn die Verständigung zwischen fortschrittsoptimistischen Weltbürgern und den eher Sesshaften nahezu abbricht. Wenn jene, die zum Beispiel wegen der Digitalisierung ihren Abstieg fürchten oder bereits abgestiegen sind, die Profiteure der Entwicklung für arrogant halten, vielleicht für eine abgehobene Elite, die "leicht reden hat" und die sich mit kosmopolitischer Überheblichkeit von den Problemen des "einfachen Mannes" entfernt. Und wenn die Fortschrittsoptimisten die Anderen schnell für kulturell altmodisch und rückständig halten, wenn sie sich den Möglichkeiten der Zukunft nicht öffnen. Sie sehen beispielsweise nur die bereichernden Elemente von Zuwanderung, wenn sie ihre Kinder auf internationale Schulen schicken. Aber muss es gleich ein Vorurteil sein, wenn andere Menschen auf sehr konkrete Probleme von Zuwanderung hinweisen, wenn ihre Kinder in Klassen mit einem Migrantenanteil von 90 Prozent gehen?

Wenn ich vorhin sagte, über die Ursachen der Konjunktur des Populismus könnten wir von Psychologen lernen, meinte ich damit übrigens nicht, dass die Ängste aufgrund von Verunsicherung ein rein irrationales Phänomen sind. Viele dieser Ängste sind überaus rational. Werden jetzt nicht die richtigen Weichen gestellt, werden die Veränderungen von denen ich sprach, ja tatsächlich viele Verlierer hervorbringen. Die Ängste zeigen sich aber oftmals an Stellen, die wegführen von den wahren Problemen. Und genau dies muss demokratische Politik berücksichtigen: Sie muss Sensibilität zeigen für die Wirkweisen von Verunsicherung und Angst und geeignete Gegenkräfte entwickeln.

Populisten verbinden die Benennung tatsächlicher oder vorgeblicher Probleme sehr häufig mit Schein- und Patentrezepten und haben es so natürlich leichter als Politiker, die sich tatsächlichen Lösungen verschrieben haben. Einfach zu behaupten, die alten Zeiten ohne die Komplexität von Moderne und Freiheit ließen sich wiederherstellen, das mag in Wahlkampzeiten eine erfolgsversprechende Antwort auf Verlustängste von Menschen sein. Zum Beispiel kann die Behauptung, man könne ganze abgewanderte Industrien im Handumdrehen mit Zöllen und Drohungen zurückholen, in früheren Industriezentren verlockend klingen, das haben wir in den USA erlebt. Ich bin allerdings dankbar, dass die Regierenden an Rhein und Ruhr den Menschen hier derartige Scheinlösungen nicht zugemutet haben. Denn verantwortlich handelnde Politiker können solche einfachen Lösungen aus dem Werkzeugkasten des Populismus nicht anbieten. Ihnen stehen aber durchaus Mittel zur Verfügung, die Ängste der Menschen zu beantworten – jedenfalls die rationalen. Und wenn das gelingt, lassen sich auch irrationale Ängste relativieren.

Wir müssen verstehen: Veränderungen bringen zwangsläufig Verunsicherndes, Befremdliches, sogar Bedrohliches. Denken Sie an das Ende des Mittelalters, die Kopernikanische Wende, die dem Menschen das Gefühl von Überschaubarkeit und Geborgenheit nahm. Denken Sie an den Beginn des Maschinenzeitalters oder die Elektrisierung, die große Ängste hervorbrachten, vor Verlust, Überforderung, aber auch vor Ungewissheit. Heute wird das Industriezeitalter abgelöst durch das Informationszeitalter, mit weltweiter Vernetzung und künstlicher Intelligenz, und mit vielen Fragen, die niemand beantworten kann. Die ökonomischen, wissenschaftlichen und auch die politischen Entwicklungen und Veränderungen haben für die betroffene Menschheit so etwas wie eine neue Schwellensituation geschaffen, die nicht nur die Politik, sondern jeden bewussten Bürger herausfordert.

Ich möchte drei Felder nennen, wie wir als Gesellschaft, wir in unserem Staat der Bürger konkret daran arbeiten können, manifesten Ängsten und Verunsicherungen entgegenzuwirken.

Als erstes spreche ich uns als Individuen an. Da niemand weiß, wie die Welt in 50 Jahren aussehen wird, da wir nicht sagen können, wie die Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen werden, wie die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern aussehen werden, wie wir mit der Flut der Informationen umgehen werden, ob wir die Herren der künstlichen Intelligenz bleiben oder eher von ihr abhängig werden – da also niemand weiß, wohin sich die Welt entwickelt, scheint mir das Wichtigste zu sein:

Wir haben uns als Menschen mit dem Gedanken anzufreunden, dass die Veränderungen so schnell sein werden wie niemals zuvor – und dass wir so schnell Neues werden lernen müssen wie niemals zuvor. Auf die Stabilität, die wir in Arbeit und sozialem Bereich weitgehend hatten, können wir nicht mehr bauen. Doch statt diese Zukunftsvision als ein gefahrvolles Tal der Tränen auszumalen, sollten wir uns auf Veränderungen positiv einstellen und alle Menschen möglichst gut für sie wappnen, um jedenfalls einen Teil der Ängste zu verringern.

Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass es zu den wichtigsten Aufgaben in unserer Gesellschaft gehört, die Menschen nicht zu ermutigen, sich gegen das zu stemmen, was wir nicht verhindern können, sondern sie zu ermutigen, sich dem vielen Neuen und auch Fremden zu stellen. Dabei kommt es darauf an, trotz der permanenten Veränderungen das seelische Gleichgewicht zu behalten und das Vertrauen auf sich selbst: Wir können das schaffen, auch weil wir ermächtigende Erfahrungen gesammelt haben, als wir Not und Krisen überwunden und das Land zu einem lebens- und liebenswerten Raum gemacht haben.

Allerdings ist persönliche Zuversicht allein kein Erfolgsrezept, wenn in der Gesellschaft um uns herum Verunsicherung und Angst grassieren, die geschürt von politischen Verführern, zu Wut und Hass werden können. Sparen wir uns also achselzuckende Gleichgültigkeit oder kulturelle Arroganz, wenn wir Menschen anschauen, die mit Skepsis, Furcht oder sogar mit Wut auf das Tempo der Veränderungen um sie herum blicken. Respektieren wir, dass Menschen, um sich mit dem Wandel anzufreunden, – sei er technologischer, wirtschaftlicher, kultureller oder politischer Art – Zeit brauchen und Möglichkeiten der Einübung, ihn in ihr Leben zu integrieren. Wenn etwas im geisteswissenschaftlichen Seminar, am Informatik-Lehrstuhl oder am Stadttheater längst Konsens ist, kann es trotzdem sinnvoll sein, aufnahmefähig dafür zu sein, dass dies in anderen Teilen der Gesellschaft, vielleicht sogar im eigenen Mietshaus oder im eigenen Sportverein, noch lange nicht Konsens ist. Allemal lohnt es, auch auf die Lebensumstände des anderen zu schauen und zu überlegen, wie wir entscheiden würden, wenn wir in deren Haut stecken würden. Leisten wir uns als Demokraten tatsächliche Debatten mit Andersdenkenden und vor allem Anderslebenden! Das wünsche ich mir übrigens auch an den Universitäten….

Wenn wir sensibel werden für die Perspektiven, Sorgen und Ängste der anderen, müssen diese ihre Sorgen nicht den Populisten überlassen. Es heißt, unbedingt fähig zu bleiben dazu, gemeinsame Lösungen zu finden mit Menschen, die anders leben, arbeiten oder denken als wir. Übrigens vielleicht auch Lösungen, auf die wir mit unserer Sichtweise und mit unserer kulturellen Prägung allein gar nicht gekommen wären. Vertreten wir ruhig unsere Position, aber urteilen wir nicht zu schnell, wenn Andere anders denken. So kann es gelingen, das Gefühl der Bürger zu durchbrechen, die sich ignoriert oder gering geschätzt fühlen.

Wenn wir die Lebenssituation des Anderen in unsere Haltung miteinbeziehen, wird uns ein zweiter Punkt ganz selbstverständlich erscheinen: Sorgen wir in politischen Entscheidungen dafür, dass alle Menschen in unserem Land die Lasten der Veränderung gemeinsam tragen. 1,6 Millionen Arbeitsplätze werden durch die Digitalisierung bis 2025 wegfallen, hat der Bundesarbeitsminister prognostiziert. Zugleich würden etwa 2,3 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Aber natürlich andere, mit völlig anderen, vermutlich höheren Anforderungsprofilen.

Diese Zahlen führen uns eindrücklich vor Augen: Die 1,6 Millionen Menschen, deren Arbeitsplätze durch die Digitalisierung bis 2025 (das ist sehr bald!) wegfallen könnten, müssen sich darauf verlassen können, dass eines der Kernversprechen der Bundesrepublik seit 1949 auch in Zeiten des Wandels gilt: Anstrengung lohnt und eröffnet Chancen für jeden – notfalls auch eine zweite oder dritte. Jeder soll dazu befähigt werden, Schritt zu halten im Tempo der Veränderungen. Auf- und Umstiege im Berufsleben zu ermöglichen, – das ist ein konkreter Schritt dafür, die Risikokompetenz jedes Einzelnen zu stärken und Gründe für Angst und Verunsicherung zu mindern. Gleichzeitig müssen aber auch Menschen, denen die neue Zeit keine neue Chancen eröffnet, auf die Solidarität der Gesellschaft zählen können und sozial abgefedert werden.

Möglichst viele Menschen so zu stärken, dass sie im Wandel bestehen, dass sie auch unter neuen Bedingungen ihr Leben gut meistern und partizipieren können am Fortschritt zum Beispiel in der Arbeitswelt, das sollte ein gemeinsames Ziel sein. Und dazu sollten alle beitragen – auch Gruppen, die an ihrem Arbeitsplatz von der Erfindung des 3D-Druckers vielleicht nicht negativ betroffen sein werden.

Es ist gut, wenn die Politik dieses Thema intensiv in den Blick nimmt – die Sozialpartner übrigens auch. Gemeinsam haben Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten viele Krisen im Konsens gemeistert, denken Sie an die Folgen der Finanzkrise 2008. Deutschland hat von diesem Geist des Gemeinsamen immer wieder profitiert. Wenn ich an die vorhin erwähnten Zahlen des Arbeitsministers denke, ist es gut, dass die Bundesregierung in diesem Jahr begonnen hat, eine Nationale Weiterbildungsstrategie zu entwickeln. Bildung für alle, das hatte sich schon die Weimarer Verfassung zum Ziel gesetzt, heute muss es verstärkt heißen: Weiterbildung für alle.

Einen dritten und letzten Punkt möchte ich ansprechen, von dem ich glaube, dass es lohnt, ihn gemeinsam zu beachten. Bei diesem Punkt bin ich ganz persönlich ein Lernender gewesen in den zurückliegenden Jahren. Ich spreche vom Wert von Gemeinsamkeit, von Eingebundensein und Beheimatung.

Warum habe ich bei diesem Thema dazugelernt? Weil mir – nicht zuletzt durch viele Begegnungen als Bundespräsident – heute stärker als früher bewusst ist: Gerade wenn wir die Freiräume des Einzelnen schützen wollen, die nur die Demokratie sichern kann, müssen wir uns immer wieder bemühen, das große Ganze, das allen Gemeinsame im Blick zu behalten.

Wenn ich von Mühen spreche, meine ich, dass angesichts der aktuellen Debatten über die Zuwanderung etwa oder auch über das, was mit dem umstrittenen Begriff der Leitkultur angesprochen ist, seit einiger Zeit heftiger Streit existiert. Wenn von rechts das Narrativ der Nation und der nationalen Interessen gegen das der europäischen Einigung in Front gebracht wird, werden überzeugte Europäer das als gestrig, vielleicht sogar reaktionär bezeichnen. Aber wenn jemand politisch ablehnt, muss gleichwohl diskutiert werden können – und zwar in der Mitte der Gesellschaft, also auch an unseren Universitäten. Einen moralischen Bann vorschnell auszusprechen, entspricht nicht den Prinzipien einer offenen, demokratischen Gesellschaft. Moralische Verwerfung, auch Beendigung des Diskurses ist dann angezeigt, wenn der Boden der verfassungsmäßigen Ordnung verlassen wird oder inhumane Ziele propagiert werden. Es gilt in diesem Bereich also herauszufinden, wo eine gemeinsame Basis der Widerstreitenden noch existiert. Es ist keine intellektuelle Leistung und keine politische Tugend, dem politischen Gegner die Debatte zu verweigern.

Aus Verunsicherung heraus folgen weltweit Menschen solchen Führern oder Verführern, die wir als überzeugte Demokraten von Herzen ablehnen. Aber die Verunsicherten sind mehrheitlich noch keine Demokratiefeinde. Sie sind zu gewinnen, wenn die Demokratie sie wahrnimmt und verständlich anspricht.

Das große Ganze, das allen Gemeinsame ist schwer zu benennen, wenn wir gerade in schweren Konflikten sind. Aber es ist unerlässlich, es zu benennen, gerade wenn wir politisch und kulturell hoch divers sind. Indem wir unser Grundgesetz und das Recht achten, und die völkerverbindende Achtung der Menschenrechte nicht ablehnen, ist politisch ein Kernbereich benannt, der alle miteinander verbinden kann. Kulturell ist unsere Sprache stark, unsere Geschichte zu wesentlichen Teilen etwas, das alle Bewohner des Landes verbindet – über regionale Heimaten hinaus. Verbinden kann uns dabei auch etwas ganz Lebenspraktisches: Das Ehrenamt zum Beispiel ist ein Raum der Zugehörigkeit zum großen Ganzen, weil sich hier ganz unterschiedliche Menschen treffen und ihre Leben in gemeinsame Beziehung zueinander setzen. Solche Räume müssen wir fortlaufend stärken, in der heutigen Gesellschaft der Verschiedenen noch mehr als in früheren Jahrzehnten.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang feststellen: Die Zuflucht in sich abkapselnde identitätsstiftende Klein- und Kleinstgruppen, politischer, kultureller oder gesellschaftlicher Art, die wir in den letzten Jahren beobachten ist kein Beitrag dazu, als Gesellschaft zusammenzubleiben.

Wir Menschen der politischen Moderne schätzen unsere ausgeprägte Individualität, aber es braucht in Zeiten gesellschaftlicher Freiheit mehr gesellschaftliche Bezogenheit. Orte des Austausches und des Miteinanders, mehr gemeinsame Erfahrungen statt getrennte Lebenswelten auch mehr Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

Das Grundgefühl einer gesellschaftlichen Bezogenheit kann gefördert werden durch ein gemeinsames Verständnis darüber, wie wir wurden, was wir sind.

Unsere Demokratiegeschichte seit 1918 ist nicht nur eine Geschichte des Scheiterns, sondern schlussendlich des Gelingens, denken Sie nur an den Wiederaufbau nach dem Krieg mit seinem Wirtschafts- und Demokratiewunder oder an den Vereinigungsprozess nach der Friedlichen Revolution in der DDR.

Wir haben Herausforderungen dann gemeistert, wenn uns ein realistisches Ziel vor Augen stand, das gemeinsam angegangen wurde. Wenn Risiken nicht verschwiegen, sondern gemeinsam getragen wurden. Wenn wir all das, wenn die in uns ruhenden Potentiale tatsächlich wahrnehmen, uns also wirklich selbst erkennen, werden wir das Vertrauen entwickeln, das wir brauchen, um die Herausforderungen zu meistern, vor denen wir jetzt und in Zukunft stehen.

Ich möchte für eine Erzählung unserer Geschichte werben, die alle einbezieht in eine Gemeinschaft, die sich auf gemeinsam Errungenes gründet: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Chancengerechtigkeit. Ein Land, das sich nicht allein durch Sprache, Kultur oder gar durch Abgrenzung zu anderen definiert, sondern das zur Heimat unserer Werte geworden ist. Zu diesem demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und pluralistischen Land können wir Ja sagen. Es ist ein so dankbares wie stolzes JA aufgeklärter Patrioten.

Aufgeklärt sind wir, weil wir nicht nachplappern, was so leicht und so gefährlich ist: "right or wrong – my country".

Und Patrioten sind wir, weil wir Heimat haben in einem Land, das unseren Werten ein Zuhause bietet.