Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck bei der Abschlussvorlesung der Max-Imdahl-Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum

©RUB, Marquard

Abschlussvorlesung an der Ruhr-Universität Bochum

Abschlussvorlesung anlässlich der Max-Imdahl-Gastprofessur

15. Januar 2020, Bochum

Anlässlich der Max-Imdahl-Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum hat Bundespräsident a.D. Joachim Gauck die Abschlussvorlesung gehalten. Wir dokumentieren seinen Vortrag in Auszügen.

 

(…) Der erste moderne demokratische Staat entstand 1787 in den Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Verfassung war, ergänzt um die Bill of rights vier Jahre später, die früheste und klassische Form dessen, was der Historiker Heinrich August Winkler später das "normative Projekt des Westens" nennen sollte: Das Volk, das im Europa des Ancien régime nichts gegolten hatte, erklärte sich zum Souverän. Dem Individuum wurden – ganz im Geiste der Aufklärung – unveräußerliche Grundrechte zugestanden. Schon in der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 hatte es geheißen, "daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit." Des Weiteren sorgte die nordamerikanische Demokratie durch Gewaltenteilung dafür, dass sich gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt ausbalancieren können: die berühmten checks and balances, auf die das demokratische Amerika auch heute baut. Sie sollen Barrieren bilden, um die Okkupation der Macht durch eine Partei, einen Führer oder auch durch eine Diktatur der Mehrheit zu verhindern.  

 Seitdem sind die Texte der nordamerikanischen Verfassung das demokratische Ideal des Westens. Allerdings klafften Realität und Wirklichkeit zunächst noch erheblich auseinander. Es war nicht gleich "das Volk", das über die politische Gestaltung seiner Länder entschied, es waren zunächst nur Weiße und nur Männer. Mochten die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika George Washington und Thomas Jefferson auch alle Menschen als frei und gleich erklärt haben – sie selbst hielten weiterhin Sklaven. Das Projekt der Demokratie, so Heinrich August Winkler, war offenkundig "klüger als seine in rassistischen Vorstellungen befangenen Urheber". 

Das Versprechen gleicher und universeller Rechte setzte allerdings eine Bewegung in Gang, die große Sprengkraft entfaltete. Wer auf den Widerspruch zwischen Rechten und Realität verwies, hatte die Verfassung und die Moral auf seiner Seite. Schon 1791 erschien mitten im revolutionären Frankreich die "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" von Olympe de Gouges. Das war damals noch zu avantgardistisch und zu radikal, um verwirklicht zu werden – auch deswegen wurde sie 1793 zum Tod durch die Guillotine verurteilt. Aber "eben dieser utopische Vorgriff" – urteilt der Historiker Paul Nolte – "hat die Dynamik der Menschenrechte seitdem maßgeblich bestimmt." Das Ideal wirkte als Movens für Veränderung. 

So liest sich die Geschichte der liberalen Demokratie als eine Geschichte der permanenten Ausweitung von Rechten: Das Frauenwahlrecht wurde in der westlichen Welt Schritt für Schritt, teilweise auch gegen erheblichen Widerstand eingeführt – inzwischen hat es sich sogar in Asien und Teilen des Nahen Ostens verbreitet. Das Zensus- und das Dreiklassenwahlrecht wurden abgeschafft, ethnische Minderheiten erhielten Schutz, Anfang März 1965 garantierte ein neues Gesetz endlich auch den Afroamerikanern die volle Gleichberechtigung. Die westlichen Gesellschaften haben also die eigene normative Grundlage für immer größere Teile der Bevölkerung umgesetzt und immer mehr Bürgern politische Teilhabe und zunehmend soziale Chancengleichheit ermöglicht. In der Bundesrepublik hielt mit dem Recht auf Mitbestimmung die Demokratie sogar Einzug ins Wirtschaftsleben. 

 Allerdings war die Form der Demokratie, wie sie die amerikanischen Gründungsväter in der Tradition des politischen Denkens in England gewählt hatten, keineswegs allgemein und keineswegs unumstritten. Frankreich dachte und handelte in seiner bürgerlichen Revolution anders. Jean-Jacques Rousseau, einer der maßgeblichen Philosophen der Aufklärung, lehnte die Gewaltenteilung ab und wollte auch den Willen der Mehrheit nicht als obersten Maßstab respektieren. Individuen und Gruppen, die Partikularinteressen geltend machten, galten als Störenfriede, prädestiniert dazu, die Substanz des Gemeinwohl-orientierten Staates zu untergraben – bezeichnenderweise fehlte die Garantie der Versammlungsfreiheit in der französischen Menschenrechtserklärung. Ganz anders als in den nordamerikanischen Verfassungen standen sich in Frankreich damit Nation und Individuen ohne vermittelnde Instanzen direkt gegenüber – als Ausdruck einer direkten Demokratie. 

 Rousseau sah den Willen des Volkes verkörpert in der volonté générale, einem "allgemeinen Willen" des Volkes oder – wie Hölderlin übersetzte – einem "Gemeingeist". Dieser "allgemeine Wille", als Gesetz vom Volk beschlossen und für alle verpflichtend, stand für das öffentliche Wohl einer geeinten Gesellschaft. Die Nation wurde zur höchsten Instanz erklärt, sie gab Sinn und lieferte Rechtfertigung, ja sie wurde selbst Gegenstand kultischer Verehrung und sie hatte in diesem Verständnis immer recht. 

 Rousseau ist oftmals kritisiert worden. Seine Demokratietheorie gilt vielen als mögliche Legitimierung einer Tyrannei, wenn auch einer Tyrannei im Namen des Guten: des Gemeinwohls. Denn wenn das Gemeinwohl nicht ermittelt wird aus der Abwägung unterschiedlicher Interessen, sondern von einer allweisen Instanz bestimmt wird, kann dieser festlegen, was für das Volk gut ist. So, wie es die Jakobiner in der französischen Revolution auch taten, als sie tatsächlich begannen, das "allgemeine Glück" mit Terror herzustellen. 

Dennoch haben sich später immer wieder Intellektuelle und Politiker auf diese Vorstellung von Demokratie bezogen, in Deutschland sehr nachdrücklich und intensiv der Staatsrechtler Carl Schmitt. Er definierte Mitte der 1920er Jahre die Demokratie als Identität von Regierenden und Regierten. Wie Rousseau strebte er nach Realisierung des "wahren Volkswillen" gegen partikulare Interessen und parlamentarische Repräsentationen. In der Weimarer Republik sah er den Ausdruck von Individualismus, Egoismus und Dekadenz. Ein direkt gewählter Reichspräsident besaß für ihn eine höhere demokratische Legitimität als der Reichstag und die Regierung. Für den Parlamentarismus mit seinen Verfahren hatte er nur Verachtung übrig. Der hatte es seiner Meinung nach dahin gebracht, "dass sich alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute- und Kompromissobjekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln" und die Politik "zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden" sei. 

Wenn wir das hören, klingeln wohl fast allen die Ohren. Nahezu wortgleich agitieren heute Rechtspopulisten gegen die sogenannten Altparteien und das Parlament, und wie Schmitt werben sie für eine direkte Demokratie – und für eine homogene Gesellschaft.  

 Wir könnten es uns leicht machen und Schmitt, einen Parteigänger der Nationalsozialisten, als antiliberalen und antisemitischen Intellektuellen einfach mit Ignoranz und gesellschaftlicher Ächtung bestrafen. Doch ich möchte lieber dem Beispiel von Ernst Fraenkel folgen, jenem 1951 aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrten antifaschistischen, deutsch-jüdischen Politikwissenschaftler, der sich für den Weg der inhaltlichen Auseinandersetzung entschied. Fraenkel schuf in den 1950er/60er Jahren mit dem Bild einer pluralistischen Demokratie maßgeblich jenes repräsentative Modell, wie es für uns heute prägend ist. Und als Antipoden wählte er Carl Schmitt. 

 Zunächst stellte Fraenkel fest: Die westlichen Gesellschaften sind nicht homogen, sondern heterogen, in ihnen existieren verschiedene, miteinander konkurrierende Gruppen, angefangen von Gewerkschaften, Vereinen und Parteien bis in heutigen Zeiten hin zu Nichtregierungsorganisationen, Bürgerinitiativen und spontanen Protestgruppen. Dieser differenzierte Charakter der Gesellschaft lässt sich nicht durch einen Appell oder durch Repression quasi aufheben, "wahrer Volkswille" ist nicht gegen die Mehrheit durchsetzbar. Der Pluralismus bildete für Fraenkel daher den Ausgangspunkt für seine Theorie. Und Pluralismus verlangte nach einem Ausgleich zwischen den Verschiedenen. 

 In den 1950er Jahren war diese Ansicht keineswegs populär. Möglichst weitgehende Homogenität und möglichst weitgehender Konsens schienen erstrebenswert, noch herrschte ein paternalistisches Verständnis von "Gemeinwohl". Doch Fraenkel hielt dagegen, dass eine pluralistische Demokratie nicht anders als durch Diskurs und Streit zum Gemeinwohl gelangen kann. Der pluralistischen Staat hatte danach die Aufgabe, "im Rahmen der bestehenden differenzierten Gesellschaft zwischen den organisierten Gruppeninteressen einen Ausgleich zustande zu bringen, der zur Begründung eines reflektierten consensus zu führen geeignet ist." 

Im Kern sehr ähnlich forderte Jürgen Habermas später eine deliberative, d.h. beratschlagende Demokratie. In der öffentlichen Debatte sollen Meinungen so lange ausgetauscht und Argumente abgewogen werden, bis schließlich ein vernünftiger staatsbürgerlicher Konsens erzielt werden kann. So stehen Partikularinteressen und Gemeinwohl nicht in einem unüberbrückbaren Widerspruch, wohl aber in einem Spannungsverhältnis.  

 Der Fraenkelsche Pluralismus kannte allerdings auch Grenzen. Eine Demokratie, sagte Fraenkel, braucht ein Minimum allgemeingültiger Prinzipien, einen "consensus omnium", damit die Öffentlichkeit Vertrauen zu den Interessengruppen fassen kann und die Interessenverbände den Rahmen für ihr Handeln kennen. Die Demokratie braucht einen allgemein akzeptierten Wertekodex, der in politischen Kontroversen als Richtschnur gilt. Nur so kann das entstehen, was wir heute die Vielfalt in der Einheit nennen. Nur so kann in der stark pluralisierten Welt von heute der Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt bleiben. 

 Der moderne demokratische Staat, wie er am Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Volk als Souverän entstand, hat also zwei Entwicklungslinien hervorgebracht: Einerseits die liberale Linie, die wir heute als das normative Konzept des Westens hoch halten. Eine Linie, die Pluralismus und Gemeinwohl in der repräsentativen Demokratie zu verbinden trachtet, die Gewaltenteilung einhält und gesicherte Minderheitenrechte neben dem Mehrheitsvotum achtet. Andererseits ist eine autoritär-totalitäre Linie aus ihm hervorgegangen, die eine wie auch immer definierte direkte Demokratie mit einer obersten Instanz bzw. einem Führer verbindet, von einer übergeordneten oder gar einzigen Wahrheit ausgeht, oft von politischem Messianismus beseelt ist und im Extrem kommunistische, faschistische und nationalsozialistische Gestalt angenommen hat. Der aus Polen stammende und später in Jerusalem lehrende Historiker Jacob L. Talmon hat daher bereits in den 1940er Jahren von einer "totalitären Demokratie" gesprochen. 

Wenn wir aus dem historischen Diskurs in die Gegenwart springen, zeigt sich, dass wir uns im Kern immer noch zwischen diesen beiden Konzepten bewegen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns an die liberale Demokratie gewöhnt hatten, ist jedenfalls teilweise verloren gegangen. Die repräsentative Demokratie, Parlamente, Regierungen und traditionelle Parteien haben unterschiedlich stark an Zustimmung verloren, Ideen eines unmittelbaren Volkswillens, einer autoritären Führung hingegen erleben einen Aufschwung – in den USA, in Europa, in Deutschland. Und viele stellen mit Erschrecken fest: Menschen können sich ganz legal und demokratisch für die Einschränkung von Freiheit und Pluralismus entscheiden und letztlich sogar für die Abschaffung von Demokratie plädieren. Auch autoritäre Herrschaft kann demokratisch legitimiert sein. In der Demokratie zählt allein die Stimmenanzahl. Mit der Wahl von Donald Trump in den USA, in der Türkei mit Erdogan, in Ungarn mit Victor Orban, auf den Philippinen mit Rodrigo Duterte erleben wir eine offenkundige Abkehr breiter Wählerschichten vom Ideal der liberalen Demokratie.  

Die liberale Demokratie hat angesichts großer globaler Veränderungen und neuer kultureller Verunsicherungen, auch neuer sozialer Verwerfungen nicht vermocht, neue Spaltungen zu verhindern oder zu minimieren. Auf der einen Seite finden sich jetzt jene, die von Globalisierung und Digitalisierung profitieren und in der weiter fortschreitenden Pluralisierung der Gesellschaft eher eine Bereicherung und Chance sehen. Auf der anderen verharren jene, die durch den so schnellen und umfassenden Wandel an finanzieller Sicherheit und sozialem Status verlieren und sich aus Besorgnis vor weiterer Veränderung in vertraute Traditionen und in bekannte Heimaten zurücksehnen.  

War die Gesellschaft lange durch soziale Schichten oder Klassen geprägt, unterteilt sie sich jetzt zunehmend aufgrund kultureller Differenzen – in Progressive und Konservative, in Kosmopoliten und Nationale. Menschen, die sich in der offenen, pluralistischen Gesellschaft überfordert fühlen, die von der Komplexität der Probleme überwältigt sind, denen neue kulturelle Entwicklungen Angst machen können und wollen nun auf demokratische Weise zum Ausdruck bringen, dass sie anstelle der Selbstermächtigung lieber ihre Hoffnung auf eine starke Führung setzen. Denn Führungsfiguren wie Erdogan, Trump, Orban versprechen, die Bürger vor neuen Herausforderungen zu schützen, ihnen lästige Verantwortung abzunehmen, aber in ihrem Sinne zu entscheiden. Und sie bieten ihrer Gefolgschaft die Möglichkeit, sich durch eine symbiotische Verschmelzung mit dem Anführer und dessen großen Ambitionen selbst groß zu fühlen. Gerade jenen, die sich durch all die Veränderungen, all die Differenz – schon allein in der Arbeitswelt oder in Familien und Geschlechterbildern – gekränkt oder zu wenig wertgeschätzt fühlen, machen sie damit ein attraktives Angebot. "Great again" – das gilt dann nicht für Länder, sondern auch für zuvor gekränkte Individuen, die sich nach Eindeutigkeit, Beheimatung im Vertrauten oder alter Größe sehnen. 

 Die Folgen dieser Politik sind deutlich erkennbar: Der Pluralismus wird eingeschränkt, der politische Gegner abgewertet, unter Umständen aus dem öffentlichen Leben verbannt und verfolgt. Auf die freie Medienlandschaft wird Druck ausgeübt, die Führer werden teilweise selbst zur Quelle von Fake News und Propagandalügen. Stimmungen werden wichtiger als Tatsachen. Die Gesellschaft wird zudem ethnisch möglichst homogen gehalten oder soll als homogene wiederhergestellt werden. Auch der sogenannte "Ethnopluralismus" der Neuen Rechten in Deutschland ist kein Pluralismus, sondern eine Form zur ethnischen Segregation – die "Anderen" sollen gleiche Rechte haben, aber nicht bei uns, sondern nur in ihrem Land. 

Was sind diese Staaten nun? Haben Polen und Ungarn, haben die Türkei und die USA aufgehört, Demokratien zu sein? Oder sind sie nun Zwitterwesen, keine "reine Demokratie" mehr, aber auch noch keine Diktatur? Eben jene "illiberale Demokratien", von der Orban spricht? 

 Die Politikwissenschaftler haben längst begonnen, der vielschichtigen Realität Rechnung zu tragen. Sie sprechen von reiner und von defekter Demokratie, von liberaler und illiberaler, von polyarcher (unvollkommener) und autoritärer Demokratie. Eine bei allen übereinstimmende rote Linie, ab wann eine Demokratie nicht mehr als demokratisch gelten kann, habe ich allerdings nicht gefunden, und die Politik ist teilweise unsicher und reagiert hilflos. Ist in Ungarn schon die rote Linie überschritten, weil die Regierung fast alle Medien unter ihre Kontrolle gebracht hat? Ist Polen keine Demokratie mehr, wenn es gelingen sollte, die gesetzgebende Gewalt der Regierung zu unterwerfen? Und was resultiert aus derartigen "Defekten" für den realpolitischen Umgang mit diesen Ländern, etwa in der Europäischen Union? 

 Einerseits muss der Westen auf der liberalen Demokratie als seinem normativen Projekt beharren, wenn er nicht auf seine Werte verzichten und nicht als Heuchler dastehen will.  

Das Projekt der liberalen Demokratie leitet Menschen bis heute in ihrem Kampf um Freiheit und Emanzipation, es ist ein Ideal, das von keinem vergleichbaren auf der Welt überboten wird. Gleichzeitig kann es aber auch geboten sein, die Kluft zu teilweise illiberalen Demokraten aus übergeordneten Interessen nicht zu vertiefen: Damit Länder in der EU gehalten werden, damit andere Bündnisoptionen etwa mit Russland oder China unterbunden werden. Eine schwierige Aufgabe für die Politik. 

 Um die liberale Demokratie wieder attraktiver zu machen, gilt es meines Erachtens, neu, offensiv und ohne Denkverbote über ihre Möglichkeiten und Grenzen nachzudenken. Und – ganz im Sinne von Ernst Fraenkel – viel stärker als bisher Überzeugungsarbeit zu leisten. Wie sollte das Verhältnis zwischen Pluralismus und dem Gemeinwohl heute aussehen? Wie können Fragmentierungen verhindert und gemeinsame Bezugspunkte geschaffen werden? Oder sind Fliehkräfte und gesellschaftliche Erosion unvermeidlich?

(…)

Wir, die wir in den westlichen Gesellschaften leben, sollten uns angesichts der Repressionen und teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen in autoritär geführten Ländern erneut vergegenwärtigen, was wir an der liberalen Demokratie haben. Es käme nicht darauf an, wer regiert, sagte der Philosoph Karl Popper, "solange man die Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann." Und weiter: "Der Vorzug der Demokratie ist, dass ihre Fehler korrigierbar sind, dass Fortschritt über Fehlschritte möglich ist." Demokratie ist also lernfähig, wenn die Regierung auf Unmut und Protest reagiert, unabhängig davon, ob gerade Wahlen stattfinden oder nicht. Die liberale Demokratie gibt den Bürgern die Möglichkeiten der Einmischung von der Online-Petition, Beschwerde- und Protestbriefen, projektbezogener Bürgerbeteiligung bis zu Versammlungen, Demonstrationen, Streiks, ja zur Errichtung neuer Bewegungen und Parteien.  

 Da aber jede Demokratie hinter ihrem lehrbuchmäßigen Ideal zurückbleibt, ist die Ernüchterung über mäßige Erfolge quasi vorprogrammiert. Wir sollten uns allerdings fragen: Ist es wirklich ein Zeichen besonderer intellektueller Fähigkeiten und politischer Reife, wenn die Verweise auf Unzulänglichkeiten und Heucheleien innerhalb unserer liberalen Demokratien für wichtiger erachtet werden als die Verteidigung ihrer normativen Grundlage? Wenn Rassismus, Sexismus oder Kolonialismus nicht als ihre Verirrungen und Verbrechen kritisiert werden, sondern als systemprägende Erscheinungsformen? Wenn Aufklärung nicht mehr in ihrer emanzipatorischen Dimension wahrgenommen wird, sondern nur noch als Ausdruck weißer Suprematie? Und wenn der berechtigte Imperativ des kritischen Hinterfragens zu einem Dekonstruktionsmodus führt, bei dem das Grundvertrauen in die Institutionen der freiheitlichen Demokratie untergraben wird? 

 Wir dürfen nie vergessen: Die liberale Demokratie gibt uns wie keine andere Herrschaftsform den Freiraum, die normativen, demokratischen, liberalen Grundsätze menschenfreundlicher Politik hochzuhalten – und zu bekämpfen, was diese Grundsätze verletzt. Wer das Vertrauen in diese liberalen Grundsätze und die demokratischen Institutionen untergräbt, schafft jenen Freiraum, in den Populisten vorstoßen können. 

 Und noch Eines: Wahlen, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Menschenrechte bilden zwar die unerlässlichen Voraussetzungen, um unsere Werte zu verteidigen und in notfalls neuen Formen zu entwickeln. Das Subjekt dieser Reflexion und dieses Wandels kann aber nur der Mensch sein, der verantwortungsbewusste Bürger, das heißt du und ich. 

Die liberale Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif. Die Anfeindungen demokratischer Politiker gerade in letzter Zeit fordern uns wieder einmal auf: Überwinde deine Angst und vielleicht auch deine Bequemlichkeit, wo immer auch Hass, Hetze und Gewalt auftauchen. Werde intolerant, wenn die Intoleranz Raum beansprucht. Und wirb‘ für eine Gesellschaft, in der Menschen die Zukunft im Geiste von Toleranz, Gewaltlosigkeit und Kompromiss gestalten!